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Das Zimmer des Abbé Mouret, ein Eckzimmer des Pfarrhauses, war ein weiter Raum, auf zwei Seiten von zwei sehr großen quadratischen Fenstern durchbrochen; eines von diesen Fenstern öffnete sich auf Desideratas Hof, das andere überblickte das Dorf Artaud, weiterhin Tal und Hügel und den ganzen Horizont. Das Bett mit den gelben Vorhängen, die Nußbaumkommode, die drei strohgeflochtenen Stühle standen verloren unter der hohen weißkalkigen Decke. Ein leisescharfer Geruch, jener etwas herbe Duft alten ländlichen Gebäus, hob sich vom steinbelegten, rotbemalten Boden, der spiegelnd glänzte. Auf der Kommode dämmerte grauweiß ein großes Bildnis der unbefleckten Empfängnis zwischen zwei irdenen Behältnissen, von der Teusin mit weißem Flieder gefüllt.
Der Abbé Mouret stellte die Lampe vor die Jungfrau, an den Rand der Kommode. Er fühlte sich so schlecht, daß er sich entschloß, das Feuer aus fertig vorbereitetem Rebholz zu entzünden. Er verweilte davor und besah sich die Feuerbrände, in der Hand die Feuerzange, das Gesicht hell überflammt. Unter seinen Füßen schlief das Haus. In der Stille, die ihm in den Ohren summte, begannen sich flüsternde Stimmen zu regen. Langsam, unaufhaltsam erfüllten ihn diese Stimmen, verdoppelten die Bedrängnis, die er schon am Tage würgend am Hals verspürt hatte. Woher kam die Bedrängnis? Wie entstand diese ungekannte Unruhe, die unversehens angewachsen, unerträglich geworden war? Gesündigt hatte er doch nicht. Es kam ihm vor, als hätte er gestern erst das Seminar verlassen, in voller Glaubensstärke, so gestärkt gegen die Welt, daß er unter den Menschen wandelte und doch nur Gott sah.
Er glaubte sich in seine Zelle zurückversetzt, frühmorgens um fünf Uhr, zur Aufstehenszeit.
Der Diakon vom Dienst ging vorbei und tat einen Stockschlag gegen die Türe mit dem vorschriftsmäßigen Ruf:
»Benedicamus Domino!«
»Deo gratias!« antwortete er, halbwach und mit schlafgeschwollenen Augen.
Er sprang auf den schmalen Teppich, wusch sich, machte sein Bett, fegte das Zimmer, erneuerte das Wasser seines Kruges. Die kleinen häuslichen Arbeiten waren ihm eine Freude in der Morgenkühle, die seine Haut überlief. Die Spatzen in den Platanen des Hofes erwachten zur selben Zeit wie er; er lauschte ihrem ohrenbetäubenden Geschrei und Geflatter. Sie beteten wohl nach ihrer Weise, dachte er.
Er ging hinunter in den Saal der Meditationen, wo er nach den Gebeten eine halbe Stunde kniend zubrachte und über den Gedanken des heiligen Ignatius nachdachte: »Wozu dient es dem Menschen, den Erdkreis zu erobern, wenn er seine Seele verliert.« Dies war ein Vorwurf, der die Früchte guter Entschlüsse trug. Auf alles irdische Besitztum ließ er ihn verzichten und den oft liebevoll betrachteten Wunsch hegen, sein Leben in der Wüste zu verbringen, als einzigen Reichtum über sich die blaue Himmelsweite. Nach zehn Minuten fingen seine von den Fliesen wunden Knie an derart zu schmerzen, daß er sein ganzes Wesen nach und nach hinschwinden fühlte, eine Verzückung, in der er sich sah als großen Eroberer, Herrscher eines unermeßlichen Reiches, der seine Krone verschleudert, seine Zepter zerbricht, unerhörte Kostbarkeiten mit Füßen tritt, Goldhaufen, Geriesel edler Steine, juwelenbenähte Stoffe, um sich zu vergraben in Wüstengründen, in härene Gewänder gekleidet, die das Rückgrat ihm aufrieben. Die Messe entriß ihn diesen Vorstellungen, denen er sich entwand wie einer schönen wirklichen Begebenheit, ihm in Vorzeiten zugestoßen. Er kommunizierte, sang den Tagespsalm voller Eifer, ohne eine andere Stimme zu vernehmen als seine eigene, kristallrein und so klar, daß er fühlte, wie sie aufflog vor Gottes Thron. Und wenn er hinaufging, zurück in seine Kammer, erstieg er eine Stufe nach der anderen, wie der heilige Bonaventura und der heilige Thomas d'Aquin es anraten; er ging langsam, leicht gesenkten Hauptes, mit gesammelter Miene und fand unbeschreibliche Wonne in der Befolgung der mindesten Vorschriften. Dann kam das Frühstück. Im Refektorium machten ihm die Schwarzbrote, die aufgereiht lagen neben den Gläsern mit weißem Wein, Vergnügen; denn es schmeckte ihm, und er war gut gelaunt. Über den Wein äußerte er zum Beispiel, er sei ein guter Christ; sehr gewagte Anspielung auf das Wasser, das man den Ökonomen beschuldigte in die Flaschen zu füllen. Das hinderte ihn nicht, seine würdige Miene wieder aufzusetzen, um die Klasse zu betreten. Er schrieb sich Anmerkungen auf den Knien, während der Professor mit am Kathederrand aufgestützten Händen im gebräuchlichen Latein vortrug; er unterbrach sich meistens mit einem französischen Wort, wenn kein anderes ihm einfiel. Es erhob sich eine Erörterung; die Schüler äußerten sich in einem sonderbaren Kauderwelsch, ohne zu lachen. Dann gab es um zehn Uhr während zwanzig Minuten eine Vorlesung aus der Heiligen Schrift. Er ging und holte das reicheingebundene Buch mit den goldenen Ecken, küßte es mit einer besonderen Verehrung, las unbedeckten Hauptes und neigte sich grüßend alle Male, wenn die Namen Jesus, Maria oder Josef vorkamen. Die zweite Meditation fand ihn dann wohl vorbereitet um der Liebe Gottes willen, ein neues Knien zu ertragen, länger als das erste. Er vermied es, sich auch nur einen Augenblick auf die Hacken zu setzen, er genoß diese dreiviertelstündige Gewissenserforschung, strengte sich an, Sünden in sich aufzudecken, kam dazu, sich verdammt zu wähnen, weil er abends zuvor vergessen hatte, die zwei Bildlein seines Skapuliers zu küssen, oder weil er auf der linken Seite eingeschlafen war; scheußliche Vergehungen, die er gerne wieder gutgemacht hätte durch Knien bis zum Abend, beglückte Verfehlungen, die ihn in Anspruch nahmen, ohne die er kaum gewußt hätte, was anzufangen mit seinem ehrlichen Herzen ohne Falsch, eingeschläfert vom weißen Leben, das er führte.
Er betrat das Refektorium wie erlöst, als ob er sich ein schweres Verbrechen von der Brust gewälzt hätte. Die dienenden Seminaristen mit aufgestreiften Sutanenärmeln und blauen Zwillichschürzen um den Leib trugen die Nudelsuppe auf, das in kleine Vierecke geschnittene Rindfleisch, die Portionen von Hammelfleisch und Erbsen. Im hungrigen Schweigen hörte man erschreckliche Kaugeräusche, ein eifriges Gabelgeklapper, nur aussetzend, wenn neidische Seitenblicke nach dem hufeisenförmigen Tisch geworfen wurden, an dem die Vorsteher zarteres Fleisch, röteren Wein zu sich nahmen; während die breiige Stimme irgendeines Bauernsohnes mit gesunden Lungen, über die Eßwut hin, ohne Satzzeichen zu beachten, etwas aus frommen Schriften blökte, aus Missionsbriefen, Hirtenbriefen, Aufsätzen religiöser Zeitschriften. Zwischen zwei Bissen merkte er auf. Diese Bruchstücke von Streitereien, Erzählungen weiter Reisen setzten ihn in Verwunderung, erschreckten ihn sogar, weil sie ihm über die Mauer des Seminars hinaus Bewegung, unermeßliche Horizonte zeigten, die er nie bedachte. Wenn ein Klingelzeichen die Erholungsstunde anzeigte, war man noch bei Tisch. Der Hof war sandbestreut, mit acht großen Platanen bestanden, die im Sommer kühlen Schatten spendeten; an der Mittagsseite erhob sich eine fünf Meter hohe Mauer, mit Flaschenböden bespickt, über die man von Plassans nur den obersten Turmgiebel der Markuskirche sehen konnte, eine gedrungene Steinspitze im Blau des Himmels. Von einer Hofseite zur anderen ging er langsam auf und ab, mit einer Schar Kameraden in einer Reihe, und jedesmal, wenn er wieder die Wendung der Mauer zu nahm, ruhte der Blick auf dem Kirchturm, der für ihn die ganze Stadt versinnbildlichte, die ganze Erde unter freien Wolkenzügen.
Unter den Platanen teilten sich lärmende Gruppen; zu zwei und zwei sonderten Freunde sich ab in den Winkeln, beobachtet von einem hinter Fenstervorhängen stehenden Vorsteher, hitzige Ball- und Kegelspieler störten friedliche Lottospieler, halbgelagert vor ihren Spielbrettern, die von zu wild geschleuderten Bällen oder Kugeln mit Sand beworfen wurden. Wenn die Glocke tönte, versiegte der Lärm, eine Sperlingsschar entflatterte den Platanen, die Schüler begaben sich noch ganz außer Atem zur Unterweisung im Gregorianischen Kirchengesang mit gekreuzten Armen und gesenktem Kopf. Und der Tag endigte inmitten dieses Friedens; er ging zurück in die Klasse, vesperte um vier Uhr und nahm die endlose Wanderung wieder auf angesichts der Turmspitze von St. Markus, aß zu Abend, von dem gleichen Kaugeräusch umgeben, beim Tönen der gleichen behäbigen Stimme, die am Morgen Begonnenes zu Ende las; dann stieg er zum Abendsegen hinauf in die Kapelle und begab sich um acht ein Viertel Uhr zur Ruhe, nachdem er sein Bett mit Weihwasser besprengt hatte zum Schutz gegen schlimme Träume.
Wie viele schöne gleichmäßige Tage waren derart vergangen in jenem ehrwürdigen Kloster zu Plassans, ganz erfüllt vom jahrhundertealten Hauch andächtiger Frömmigkeit!
Fünf Jahre lang hatten die Tage sich so aneinandergereiht, dahinfließend mit dem gleichmäßigen Rauschen klarer Gewässer. In dieser Stunde fielen ihm immer mehr Einzelheiten ein, die ihn rührten.
Er erinnerte sich seiner ersten Ausstattung, die er mit seiner Mutter eingekauft hatte: die beiden Sutanen, die beiden Binden, die sechs Priesterkragen, acht Paar schwarze Strümpfe, sein Dreispitz und Chorhemd. Wie hatte sein Herz geklopft an jenem milden Oktoberabend, als das Tor des Seminars hinter ihm ins Schloß fiel! Zwanzigjährig kam er dorthin, nach der Schulzeit, ergriffen von Glaubens-, von Liebessehnsüchten. Gleich am nächsten Tag war ihm alles entschwunden, wie entschlafen auf dem Grund des alten stillen Hauses. Er sah die enge Zelle vor sich, in der er seine zwei Jahre philosophischer Studien zubrachte, ein mit Stuhl, Bett und Tisch bestandener Verschlag, von nachbarlichen Verschlägen durch undichte Wandungen getrennt, in einem riesigen Saal fünfzigmal gleichartig aufgeteilt. Er sah wieder im Geist die Zelle vor sich, die er in der Zeit seiner theologischen Studien während drei weiterer Jahre innegehabt hatte; geräumiger war sie, einen Sessel gab es, einen Waschtisch, ein Büchergestell; glückliche Kammer, erfüllt von seinen Glaubensträumen. Die endlosen Gänge, auf den weiten Steintreppen, an gewissen Windungen waren ihm plötzliche Erleuchtungen zuteil geworden, unerhoffter Beistand. Von der hohen Deckenwölbung klang die Stimme der Schutzengel nieder. Es gab keine Bodenplatte, keinen Mauerstein, nicht einen einzigen Platanenzweig, der ihm nicht von den Beseligungen gesprochen hätte seines beschaulichen Lebens, seinem Liebesgestammel, seiner langsamen Einführung, den Liebkosungen, die ihm wurden als Gegengabe für die Auslieferung seines ganzen Wesens, das ganze Glück seiner ersten himmlischen Liebe. Eines Morgens hatte er beim Erwachen ein lebendiges Leuchten wahrgenommen, das ihn ganz einhüllte in Freudigkeit. Eines Abends beim Schließen der Zellentüre hatte er gespürt, wie wohlige Hände um den Hals ihm griffen, so innig, daß er, als er wieder zur Besinnung kam, sich am Boden fand, aufgelöst in Schluchzen.
In einem kleinen Gewölbe, das zur Kapelle führte, hatte er sich weichen Armen überlassen, die ihn trugen. Dazumal nahm die ganze himmlische Welt sich seiner an, hielt sich um ihn, verlieh seinen unwichtigsten Handlungen einen besonderen Sinn, einen erstaunlichen Duft, der für immer seinen Hüllen, seiner Haut wundersam anzuhaften schien. Und die Ausflüge am Donnerstag fielen ihm wieder ein. Um zwei Uhr brach man auf nach irgendeinem grünen Winkel im Meilenumkreis von Plassans. Am öftesten ging man ans Ufer der Biorne, zu einem Wiesengrund, wo knorrige Weiden ihre Blätter ins Wassergerinnsel hingen. Er sah nichts, weder die großen gelben Wiesenblumen, noch die im Flug trinkenden Schwalben, die den Wasserspiegel mit den Flügeln überglitten. Bis um sechs Uhr in Gruppen unter den Weiden gelagert, sprachen seine Kameraden und er im Chor das englische Amt der Jungfrau oder lasen zu zwei und zwei im kleinen Stundenbuch, dem freiwilligen Brevier junger Seminaristen.
Der Abbé Monret lächelte und fachte die Glut an. In diesen Vergangenheiten war nichts zu finden als große Reinheit, vollkommener Gehorsam. Er war eine Lilie, deren Duft seine Lehrer entzückte. Keiner schlechten Handlung konnte er sich entsinnen. Niemals hatte er die gänzliche Freiheit der Spaziergänge dazu benutzt, um hinter Hecken zu rauchen oder eilends irgendwo mit einem Freunde Bier zu trinken. Niemals versteckte er Romane unter seiner Matratze oder verbarg tief unten im Nachttisch Anisettflaschen. Lange Zeit hatte er nichts geahnt von all der Sündhaftigkeit, die ihn umgab, von den Hühnchen und Kuchen, die in der Fastenzeit eingeschmuggelt wurden, den verbotenen Büchern, die von den Bedienern besorgt wurden, abscheulichen Flüsterunterhaltungen in gewissen Hofwinkeln. Heiße Tränen hatte er geweint an dem Tage, da er entdeckte, wie wenige seiner Kameraden Gott liebten um Gottes willen. Bauernsöhne gab es, die geistlich wurden, aus Angst vor der Militäraushebung, Faulpelze, die sich ein nichtstuerisches Dasein erträumten. Ehrgeizige, die schon jetzt der Gedanke an Krummstab und Mitra nicht ruhen ließ; aber als er diesen Schmutz am Altar auffand, hatte er sich ganz auf sich selbst zurückgezogen, sich immer mehr noch Gott hingegeben, um die Vernachlässigungen anderer wieder gutzumachen.
Eines Tages zwar, fiel dem Abbé ein, hatte er beim Schulunterricht mit übergeschlagenen Beinen gesessen. Als der Lehrer ihn darob tadelte, war er sehr rot geworden, als wäre er wirklich bei einer Unanständigkeit ertappt worden. Er war einer der besten Schüler, gab keine Widerreden, lernte alles auswendig. Er bewies das Sein und die Ewigkeit Gottes mit Gründen, die er aus der Heiligen Schrift gewann, aus der Lehre der Kirchenväter, aus dem allumfassenden Übereinstimmen des Weltkreises. Die Schlüsse dieser Art erfüllten ihn mit einer unerschütterlichen Sicherheit. Während der ersten Jahre seiner philosophischen Studien folgte er mit solchem Eifer der Unterweisung in Logik, daß sein Lehrer ihm Einhalt geboten hatte und ihm einschärfte, daß die Gelehrtesten nicht die Gottgefälligsten sind. Von seinem zweiten Lehrjahre an unterzog er sich dann dem Studium der Metaphysik, wie einer vorgeschriebenen Übung, die nur eine untergeordnete Rolle innehatte im Pflichtenlauf des Tages. Er begann die Wissenschaft zu verachten; unwissend wollte er bleiben, um sich die Glaubenseinfalt zu bewahren. Später, in der Zeit theologischer Unterweisung, nahm er nur aus Gehorsam teil an den Unterweisungen über die Kirchengeschichte von Rorbacher; er drang vor bis zu den Argumenten Goussets, bis zu der theologischen Lehre Bouviers, wagte sich aber nicht an Bellarmin, Liguori, Suarez, an den heiligen Thomas d'Aquin. Einzig die Heilige Schrift begeisterte ihn. Dort fand er das erwünschte Wissen, die Geschichte unermeßlicher Liebe, die allen gutwilligen Menschen der einzige genügende Unterricht sein müßte. Er nahm die Bestätigungen seiner Lehrer an; durch sie ließ er sich der Sorge der Nachprüfung überheben, benötigte nichts von all dem Wortplunder, um zu lieben, und beschuldigte die Bücher, dem Gebet die Zeit zu kürzen. Es war ihm sogar gelungen, seine Schuljahre zu vergessen. Er wußte nichts mehr, nichts blieb ihm als Unschuld, als Katechismus lallende Kindlichkeit.
Schritt für Schritt ging es zum Priestertum. Hier drängten sich Erinnerungen, lebendig noch durchpulst von himmlischer Fröhlichkeit. Mit jedem Jahr kam er näher zu Gott. Die Ferien verbrachte er in Zucht bei einem Onkel, beichtete alltäglich, kommunizierte zweimal in der Woche. Er legte sich Fasten auf, auf dem Boden seines Koffers verbarg er eine Dose mit grobem Salz; darauf lag er mit den bloßen Knien stundenlang. Die Erholungspausen verblieb er in der Kapelle oder begab sich hinauf in das Zimmer eines der Vorsteher, der ihm fromme anekdotische Außerordentlichkeiten erzählte. Als dann das Fest der Heiligen Dreifaltigkeit herannahte, wurde er über alle Maßen belohnt, überströmt von Rührungen, wie sie die Seminare an Vorabenden der Einkleidungen erfüllen. Es war das große Fest, der Himmel tat sich auf, und die Auserwählten erklommen eine höhere Stufe. Vierzehn Tage vorher lebte er von Wasser und Brot. Er schloß die Vorhänge vor seinen Fenstern, um den Tag nicht einmal mehr zu sehen, warf sich nieder in der Finsternis und flehte zu Jesus um die Annahme seines Opfers. Während der vier letzten Tage ergriffen ihn Ängste, Bedenken schrecklicher Art, die ihn mitten in der Nacht aus dem Bett trieben und ihn die Türe bestürmen ließen irgendeines Karmeliters, der die Retraite leitete, öfter ein bekehrter Protestant, über den Wunderbares geraunt wurde. Umständlich legte er ihm die Generalbeichte seines Lebens ab, Schluchzen unterbrach seine Rede. Erst die Absolution beruhigte ihn, erfrischte ihn wie ein Gnadenbad. Am Morgen des großen Tages war er ganz weiß; er empfand diese Weiße so lebhaft, daß es ihm schien, als ginge ein Schimmer von ihm aus. Klarstimmig läutete die Seminarglocke, und der Juniduft der blühenden Wicken, Reseden und Heliotropen klomm über die steile Hofmauer. Die Verwandten warteten in der Kapelle, festlich gekleidet und so gerührt, daß die Frauen unter ihren Schleiern schluchzten. Dann kam der Zug Diakone, der die Priesterschaft empfangen sollte, im goldenen Meßgewand; die Unterdiakone in der Dalmatika, Tonsurierte mit schulterüberwallendem Chorhemd, das schwarze Barett in der Hand. Die Orgel dröhnte, erhob sich zu Flötengetön eines Jubelsanges. Am Altar waltete der Bischof seines Amtes, den Krummstab in der Hand, unterstützt von zwei Domherren. Das Domkapitel war zugegen, die Priester aller Pfarreien drängten sich in ungeheuerem Reichtum von Gewändern, Gefunkel von Gold, das aufglitzerte im bunten Sonnenstreif, der durch ein Fenster des Seitenschiffes fiel. Nach dem Verlesen der Epistel begann die Weihe.
Noch in dieser Stunde entsann sich der Abbé Mouret der Scherenkälte, als er mit der Tonsur gezeichnet wurde im Beginn des ersten Jahres seiner theologischen Studien. Ein leichter Schauder hatte ihn überrieselt. Aber damals war die Tonsur ganz klein, kaum von der Größe eines Zweigroschenstückes. Bei jeder späteren Weihe hatte sie sich erweitert, immer mehr, bis sie als weißer Flecken von Hostiengröße auf seinem Scheitel lag. Und sanfter tönte die Orgel, die Räucherfässer schaukelten silberklirrend an ihren Ketten; weißes Rauchgewölk entquoll ihnen, das sich wie Spitzenmuster entfaltete.
Er sah sich im Chorhemd als junger Tonsurierter vom Zeremonienmeister zum Altar geleitet; er kniete nieder, neigte tief das Haupt, während der Bischof mit goldener Schere ihm drei Haarflocken abschnitt, eine über der Stirne, die beiden anderen über den Ohren.
Ein Jahr später erblickte er sich wieder in der weihraucherfüllten Kirche bei Empfang der vier weiteren Weihen: von einem Erzdiakon geführt, schloß er krachend die große Pforte und öffnete sie dann zum Zeichen, daß er zum Wächter der Kirche eingesetzt sei; ein silbernes Glöcklein läutete er mit der rechten Hand, um zu verkünden, es sei ihm zur Pflicht gemacht, die Gläubigen herbeizurufen zum Gottesdienst; er schritt zurück zum Altar, wo der Bischof ihm neue Gerechtsame übertrug, die Lehren vorzutragen, das Brot zu segnen, die Kinder zu unterweisen, den Teufel auszutreiben, die Diakonen zu bedienen, die Kerzen anzuzünden und auszulöschen. Weiter kam ihm die Erinnerung an die folgende Weihe, feierlicher, erschreckender, vom gleichen Orgellied umweht, dessen Dröhnen Gewitter Gottes selbst zu sein schien; an diesem Tage lag auf seiner Schulter die Dalmatika der Unterdiakonen; er versprach sich unwiderruflich durch das Keuschheitsgelübde, Zittern befiel ihn seiner Gläubigkeit zum Trotz beim schreckerregenden »Accedite« des Bischofs, das zwei seiner Kameraden erblassend von seiner Seite in die Flucht trieb. Seine neuen Pflichten waren, den Priester am Altar zu bedienen, die heiligen Gefäße vorzubereiten, die Epistel zu singen, den Kelch abzutrocknen, das Kreuz zu tragen bei Prozessionen. Endlich zog er ein letztes Mal in die Kapelle ein beim Scheinen der Junisonne; diesmal aber ging er an der Spitze des Zuges, das Chorhemd war ihm um die Mitte gegürtet, die Stola auf der Brust gekreuzt, über seinen Schultern hing das Meßgewand. Tiefbewegt blickte er auf in das blasse Gesicht des Bischofs, der ihm die Priesterweihe gab, die Fülle priesterlichen Amtes, durch dreimaliges Handauflegen. Nach Leisten des Schwures kirchlichen Gehorsams war ihm, als würde er von den Steinen emporgehoben, während die volle Stimme des Prälaten die lateinische Formel sprach:
»Accipe Spiritum sanctum: quorum remiseris peccata, remittuntur eis, et quorum retineris, retenta sunt.´´