Emil Zola
Die Sünde des Abbé Mouret
Emil Zola

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8

Zuerst sah sie niemand. Draußen regnete es wiederum, fein und stetig. Die Kirche erschien ganz grau. Sie ging hinter dem Hochaltar vorbei und wagte sich zur Kanzel vor. In der Mitte des Schiffes gab es nur von den Unterweisungskindern verschobene Bänke. Der Pendel der Uhr durchtickte dumpf die Leere. Sie drang weiter vor, um an die Holzverkleidung des Beichtstuhles zu klopfen, den sie an der anderen Seite der Kirche wahrnahm. Als sie jedoch an der Totenkapelle vorbeikam, stieß sie auf den Abbé Mouret, der zu Füßen des großen blutenden Christus kniete. Er rührte sich nicht und mochte wohl glauben, die Teusin stelle die Bänke hinter ihm zurecht. Albine legte die Hand auf seine Schulter.

»Sergius,« sagte sie, »ich komme, um dich abzuholen.«

Zusammenfahrend hob der Priester den Kopf und erblaßte. Er hielt sich weiter auf den Knien, bekreuzte sich, auf den Lippen zitterte das Gebet noch nach.

»Gewartet hab' ich,« fuhr sie fort; »jeden Morgen, jeden Abend hab' ich ausgeschaut, ob du nicht kämest. Die Tage habe ich gezählt; dann hörte ich auf, sie zu zählen. Jetzt sind es Wochen. Als mir klar wurde, du kämest nicht, machte ich mich auf den Weg zu dir. Ich sagte mir: er wird mich begleiten ... Gib mir deine Hand. Laß uns gehen.«

Und sie hielt ihm die Hände hin, wie um ihm beim Aufstehen behilflich zu sein. Er bekreuzte sich von neuem und betete weiter, während er sie ansah. Das erste Erbeben des Fleisches war überwunden. Aus der Gnade, die seit morgens ihn selig badete, kam ihm übermenschliche Kraft.

»Hier ist nicht Ihr Platz,« sagte er ernst. »Ziehen Sie sich zurück, Sie erschweren sich Ihr Leid.«

»Ich leide nicht mehr,« sprach sie lächelnd weiter. »Es geht mir besser, und geheilt bin ich, wenn ich dich sehe... Hör' mich an, kranker hab' ich mich gemacht als ich war, damit man dich holen sollte. Jetzt kann ich es dir ja gestehen. Damit ist es genau wie mit der Versicherung, fortzugehen, die Gegend zu verlassen; jetzt, wo ich dich wiederhabe, kannst du doch nicht glauben, daß ich sie wahrmachen könnte. Ach, eher trüge ich dich fort auf meinen Schultern ... Die anderen wissen's nicht, du aber mußt doch wissen, daß ich jetzt einzig noch an deiner Brust leben kann.«

Glück überkam sie wieder, in kindlicher Unschuld suchte sie seine Nähe, ohne die starre Kälte des Priesters zu beachten. Sie wurde ungeduldig, klatschte fröhlich in die Hände und rief:

»Entschließe dich doch, Sergius. Himmel, wieviel Zeit wir verlieren! Wozu denn all das Nachdenken! Ich nehme dich mit. Das ist doch das Natürlichste von der Welt! Wenn du nicht gesehen werden willst, gehen wir den Fluß entlang. Der Weg ist unbequem, aber allein bin ich auch durchgekommen; zu zweit können wir uns gegenseitig helfen ... Nicht wahr, du kennst den Weg? Wir gehen über den Kirchhof, steigen herunter bis zum Ufer des Flusses, dem wir nur nachzugehen brauchen bis zum Garten. Und ungestört ist man dort unten, ganz allein. Nichts als Gestrüpp und glatte runde Kiesel gibt es da. Das Flußbett ist fast vollständig ausgetrocknet. Auf dem Hinweg dachte ich: nachher wird er bei mir sein; wir werden langsamer gehen und uns küssen ... Steh auf! Spute dich! Laß mich nicht warten, Sergius!«

Der Priester schien nichts mehr zu vernehmen. Er hatte zum Gebet zurückgefunden und erbat sich vom Himmel frommen Mut. Bevor er sich in den letzten Kampf stürzte, bewaffnete er sich mit dem Flammenschwert des Glaubens. Einen Augenblick fürchtete er schwach zu werden. Märtyrerentschlossenheit hatte er gebraucht, um sich nicht zu erheben von den Steinen, während jedes Wort Albines ihn rief. Sein Herz ersehnte sie, sein ganzes Blut geriet in Wallung und trieb ihn in ihre Arme, mit dem unwiderstehlichen Wunsch, ihr Haar zu küssen. Ihr Hauch allein hatte in einer Sekunde die Erinnerung vorüberziehen lassen ihrer Zärtlichkeiten, den großen Garten, Spaziergänge unter Bäumen, die Freudigkeit ihrer Vereinigung. Aber reich betaute ihn die Gnade; nur eine kleine Weile sog die Qual aus seinen Adern das Blut; nichts Menschliches hatte noch Macht über ihn. Nichts mehr war er als Gottes Eigentum.

Albine mußte ihn nochmals an der Schulter berühren. Unruhe befiel sie, und sie begann unwillig zu werden.

»Warum gibst du mir keine Antwort? Du kannst nicht nein sagen, du mußt mit mir gehen ... Bedenke, daß ich sterben müßte, wenn du mir nicht folgst. Aber das ist ja nicht möglich. Erinnere dich. Wir waren zusammen, wollten nie auseinander gehen. Und zwanzigmal hast du dich verschenkt. Du sagtest, ich sollte ganz dich hinnehmen, deine Glieder, deinen Atem, dein Leben ... Ich habe das doch nicht geträumt. Keine Stelle gibt es auf deinem Körper, die du mir nicht geschenkt hattest, kein Haar auf deinem Haupt, das ich nicht besaß. Du hast ein Mal auf der linken Schulter, ich habe es geküßt, es gehört mir. Deine Hände sind mein, tagelang habe ich sie in meinen Händen gehalten. Und dein Gesicht, deine Augen, deine Lippen, deine Stirne, alles gehörte mir; ich habe darüber verfügt für meine Zärtlichkeit ... Hörst du mich, Sergius?«

Herrisch reckte sie sich vor ihm auf, mit ausgestreckten Armen. Lauter wiederholte sie:

»Hörst du mich, Sergius? Du gehörst mir!«

Da stand der Abbé Mouret langsam auf, lehnte sich an den Altar und sagte:

»Nein, Sie irren. Ich gehöre Gott.«

Er war vollkommen gefaßt. Sein glattes Gesicht glich dem Antlitz eines steinernen Heiligen, dessen Frieden keinerlei Hitze des Leibes stört. Geradfaltig fiel seine Sutane nieder, wie schwarzes Totenhemd, ohne das Geringste erraten zu lassen von seiner Körperlichkeit. Albine schrak zurück beim Anblick des düsteren Gespenstes ihrer Liebe. Wo denn war sein freies Haar, sein Bart? Jetzt gewahrte sie inmitten der verschnittenen Haare das fahle Mal der Tonsur, es schreckte sie wie fremdartige Krankheit, eine häßliche Wunde, aufgebrochen, um die Erinnerung aufzuzehren an die glückliche Zeit. Seine sonst liebesheißen Hände erkannte sie nicht mehr, auch den froh durchklungenen, beweglichen Hals nicht, auch nicht die gewandten Füße, deren Lauf in grüne Tiefen ging. War dies denn der kräftige Bursche, dessen offener Hemdkragen den Flaum auf der Brust sehen ließ, mit sonnenblühender Haut, lebendurchzitterten Gliedern, in dessen Umarmung sie schöne Zeiten durchlebte? Jetzt schien er allen Fleisches bar, schändlich bar aller Behaarung, seine Männlichkeit verdorrte unter dem Weiberkleid, das ihn geschlechtslos erscheinen ließ.

»Oh,« murmelte sie, »ich habe Angst vor dir ... Hast du geglaubt, ich sei tot, daß du Trauer trägst? Wirf das schwarze Ding weg und zieh ein Hemd an. Dann kannst du die Ärmel aufstreifen, und wir können wie ehemals Krebse fangen ... Deine Arme waren ebenso hell als die meinen.«

Sie hatte die Hand nach der Sutane ausgestreckt, wie um den Stoff abzureißen. Er wies sie zurück. Ohne sie zu berühren, wies er sie zurück. Er betrachtete sie, festigte sich gegen die Versuchung, ließ sie nicht aus den Augen. Sie schien ihm gewachsen. Das Mädchen mit den Sträußen wilder Blumen, das zigeunerhaft in den Wind lachte, war sie nicht mehr, auch nicht die weißgekleidete Verliebte, die schlank geneigt den zärtlich wiegenden Gang verlangsamte hinter den Hecken. Fruchtflaumig überblendete es ihre Wangen, ihre Hüften waren schwellend gerundet, ihr Busen erblühte wie eine saftreiche Blume. Fraulich war sie mit länglichem Antlitz, über dem ein heller Glanz lag von Fruchtbarkeit. Das Leben schlummerte in ihren sich breitenden Flanken. Bis in die Wangen, an die Oberfläche der Haut war die lockende Reife ihres Fleisches gestiegen. Dem Priester, ganz eingewoben in den leidenschaftlichen Duft ihrer reifenden Weiblichkeit, verursachte es bittere Freude, der Liebkosung dieser Mundröte, diesen lachenden Augen, der verführerischen Brust zu widerstehen, aller Lockung, die jeder Bewegung entströmte. Er trieb die Tollkühnheit so weit, die Stellen mit dem Blick zu suchen, die er vormals voll Überschwang geküßt hatte, die Augen, die Mundwinkel, die schmalen atlaszarten Schläfen, den Ambranacken, wie weicher Sammet. Niemals, selbst nicht in Albines Armen, hatte er solche Glückseligkeit empfunden wie jetzt, da er sich kasteite, angesichts dieser Liebesglut, die er zurückwies. Dann fürchtete er, sich so in neuer Falle der Fleischlichkeit zu verfangen, senkte die Augen und sagte sanft:

»Ich kann hier nicht zu Ihnen reden. Wir wollen hinausgehen, wenn Sie durchaus unser beider Leiden vergrößern wollen ... Unsere Gegenwart an diesem Ort ist ein Ärgernis. Wir sind in Gottes Haus.«

»Wer ist das, Gott?« rief Albine außer sich, war wieder das fessellos wild aufgewachsene Mädchen. »Ich kenne ihn nicht, deinen Gott, und will ihn nicht kennen, wenn er dich mir nimmt, die ich ihm nie etwas zuleide tat. Onkel Jeanbernat hat also recht, wenn er sagt, dein Gott sei eine böse Erfindung, um die Leute zu schrecken und sie unglücklich zu machen ... Du lügst, du liebst mich nicht mehr, deinen Gott gibt es nicht!«

»Sie sind in seinem Haus,« wiederholte der Abbé Mouret mit Nachdruck. »Er könnte Sie mit einem Hauch in Staub verwandeln.«

Sie erhob ein helles Gelächter, breitete die Arme und bot dem Himmel Trotz.

»So ist dein Gott dir also lieber als ich? Du hältst ihn für stärker als mich. Du willst dir einreden, mehr als ich liebte er dich ... Kindisch bist du. Laß doch diese Torheiten. Zusammen werden wir in den Garten zurückfinden und uns lieben, glücklich und frei sein. Das ist Leben.«

Diesmal war es ihr gelungen, ihn zu umschlingen. Sie zog ihn fort. Er machte sich aber los, in ihrer Berührung erbebend, lehnte sich wieder an den Altar, vergaß sich und redete wie ehemals sie wieder mit du an.

»Geh,« stammelte er, »geh, wenn du mich noch etwas liebst ... O Herr, vergib ihr, vergib mir die Besudelung deines Hauses. Ginge ich ihr nach über die Schwelle, folgte ich ihr vielleicht. Hier in deinem Haus bin ich stärker. Gestatte mir zu bleiben und dich zu verteidigen.«

Albine schwieg eine kurze Weile, dann sagte sie mit ruhigerer Stimme:

»Gut, bleiben wir ... Ich will mit dir reden. Du kannst doch nicht schlecht sein. Du wirst mich verstehen. Du wirst mich nicht allein ziehen lassen ... Nein, wehre dich nicht, ich rühre dich nicht mehr an, da dir das weh zu tun scheint. Du siehst, ich bin ganz ruhig. Wir werden leise zusammen sprechen wie damals, als wir unsern Weg verloren und ihn nicht suchten, um länger miteinander reden zu können.«

Sie lächelte und fuhr fort:

»Ich weiß nur, Onkel Jeanbernat verbot mir, in die Kirche zu gehen. Er sagte: ›Dumme Person, was hast du denn in dem stickigen Gemäuer zu schaffen, wenn du doch einen Garten hast?‹ ... Zufrieden bin ich aufgewachsen. Ich habe die Nester betrachtet, ohne die Eier anzutasten. Nicht einmal die Blumen habe ich abgepflückt, aus Angst, ihnen wehe zu tun. Du weißt, daß ich nie ein Insekt fing, um es zu quälen ... Warum also sollte Gott mir zürnen?«

»Wir müssen ihn kennen, zu ihm beten, ihm allstündlich die Verehrung erweisen, die ihm gebührt,« erwiderte der Priester.

»Würdest du dann mit mir zufrieden sein?« fragte sie. »Würdest du mir verzeihen und mich wieder liebhaben? Wohl, ich will alles, was du willst. Erzähle mir von Gott, ich werde an ihn glauben und ihn anbeten. Jedes deiner Worte wird für mich eine Wahrheit sein, die ich auf den Knien anhören will. Habe ich denn jemals andere Gedanken gedacht als die deinen? ... Wir werden unsere weiten Gänge wieder aufnehmen, du wirst mich unterrichten, du wirst aus mir machen, was du willst. Oh, ich bitte dich, sag ja!«

Der Abbé deutete auf seine Sutane.

»Ich kann nicht,« sagte er einfach, »ich bin Priester.«

»Priester?« sprach sie nach, und ihr Lächeln schwand. »Doch, der Onkel behauptet, Priester hätten weder Frau, Schwester noch Mutter. So ist das also wahr? Aber warum bist du gekommen? Du hast mich doch zu deiner Schwester, deiner Frau gemacht. Hast du denn gelogen?«

Er hob sein bleiches Gesicht, auf dem Angstschweiß perlte.

»Ich habe gesündigt,« flüsterte er.

»Als ich dich so in Freiheit sah, dachte ich, du seist nicht mehr Priester. Ich dachte, damit sei es nun zu Ende, und du bliebest nun immer da, für mich und mit mir... Und was soll ich jetzt tun, wenn du mir alles fortnimmst?«

»Was auch ich tue,« antwortete er, »knien bis zum Tod und nicht aufstehen, bevor nicht Gott verziehen hat.«

»Bist du denn ein Feigling?« sagte sie, wieder zornig werdend und mit verächtlich zuckenden Lippen. Er wankte und schwieg. Ein schrecklicher Schmerz schnürte ihm den Hals zu; er aber blieb stärker als der Schmerz. Er hielt den Kopf hoch, fast wie ein Lächeln umzog es seine zitternden Lippen. Albine betrachtete ihn eine Weile starr und herausfordernd. Dann wieder begehrend:

»So antworte doch, klage mich an, sag', daß ich dich verführt habe. Das wird das Ganze krönen ... Verteidige dich, ich will es. Du kannst mich ja schlagen. Schläge wären mir lieber als diese leichenhafte Starrheit. Hast du kein Blut mehr? Hast du nicht gehört, daß ich dich Feigling nannte? Ja, niederträchtig feige bist du, nicht lieben durftest du mich, wenn du kein Mann sein darfst ... Behindert dich dein schwarzes Kleid? Reiß es herunter. Wenn du nackt bist, wird dir vielleicht anders zumute werden.«

Der Priester wiederholte langsam die gleichen Worte:

»Ich habe gesündigt und entschuldige mein Tun nicht. Ich bereue meine Verfehlung, ohne auf Vergebung zu hoffen. Risse ich mein Kleid von mir, so risse ich mein Fleisch von mir, weil ich mich Gott ganz gegeben habe, mit Seele und Leib, ich bin Priester.«

»Und ich? Was wird aus mir?« rief Albine ein letztes Mal.

Er senkte den Kopf nicht.

»Ihr Leiden möge mir als gleiches Maß von Schuld angerechnet werden! Ewige Verdammnis soll mich treffen für die Verlassenheit, der ich Sie preisgeben muß. Es wäre gerecht. In aller Unwürdigkeit bete ich für Sie allabendlich.«

In unendlicher Mutlosigkeit zuckte sie die Achseln. Ihr Zorn ließ nach. Sie empfand fast Mitleid.

»Du bist nicht bei Verstand,« murmelte sie, »du wirst zur Einsicht kommen. Was soll ich mit deinen Gebeten. Dich will ich ... Wirst du es denn nie einsehen? Ich hatte dir vieles zu sagen! Und du stehst da und bringst mich auf mit deinem Gefasel vom Jenseits ... Nun, wir wollen beide versuchen vernünftig zu sein. Wir wollen warten, bis wir ruhiger geworden sind. Dann sprechen wir uns wieder ... Ich kann doch nicht so von dir gehen, ich kann dich doch hier nicht lassen. Weil du hier stehst, bist du wie tot, so kalt, daß ich dich nicht anzufassen wage ... Warten wir mit dem Reden.«

Sie schwieg und tat einige Schritte, sah sich in der kleinen Kirche um. Immer noch überrieselte der Regen aschengrau die Scheiben. Naßdurchdampftes kaltes Licht schien die Winde zu feuchten. Von außen drang kein Laut herein außer dem einförmigen Rauschen des Regens. Die Spatzen hatten sich wohl unter die Dachsparren geflüchtet, unbestimmt reckte die Eberesche ihre von Wasserstürzen durchfeuchteten Äste. Es schlug fünf Uhr; ein Schlag nach dem anderen entriß sich dem gesprungenen Uhrgehäuse; dann vertiefte sich das Schweigen noch, wurde erstickender, betäubender, verzweiflungsvoller. Der kaum getrocknete Anstrich gab dem Hauptaltar und allem Holzwerk eine trübe Sauberkeit, wie in nie durchsonnter Klosterkapelle sah es aus. Tödliche Trübe füllte das Schiff, durchfleckt vom Blut, das die Glieder der großen Christusfigur überrann, während an den Mauern die vierzehn Bilder der Passion, gelb-, rotbekleckst, ihr schauervolles Trauerspiel wiesen. Hier verschmachtete das Leben, in diesem Todesgrauen, auf diesen gräberhaften Altären, inmitten dieser Kahlheit eines Leichenkellers. Alles sprach von Hinrichtung, Nacht, Angst, Vernichtung und Aufhören. Ein letztes Weihrauchwehen zog wie letzter zärtlicher Atemzug einer Verstorbenen, über der sich Steinplatten eifersüchtig schlossen.

»Ach,« sagte Albine endlich, »wie schön war es in der Sonne, entsinnst du dich nicht? Eines Morgens gingen wir zur Linken des großen Beetes an hoher Rosenhecke entlang. Ich entsinne mich der Färbung des Grases; fast blau sah es aus, hellgrün bestreift. Als wir ans Ende der Hecke kamen, gingen wir den gleichen Weg nochmals zurück, so süß duftete es in der Sonne. Und das blieb an diesem Morgen unser ganzer Spaziergang: zwanzig Schritte vor, zwanzig zurück. Ein Winkel Glückseligkeit, von dem du dich nicht trennen konntest. Die Honighummeln summten, eine Meise flog uns nach, sie hüpfte von Ast zu Ast; Scharen von Tieren regten sich geschäftig. Du sagtest leise: ›Wie gut, wie schön ist das Leben!‹ Das Leben waren Gräser, Bäume und Gewässer, der Himmel und die Sonne, in der wir ganz weiß aussahen und goldhaarig.«

Sie träumte eine Weile vor sich hin und begann wieder:

»Leben! Das Paradeis war's. Wie es uns groß vorkam! Nie kamen wir ans Ende. Die Blätter wogten bis zum Horizont, frei rauschend wie Wellen. Und welche Bläue über uns! Wir konnten uns recken, auffliegen, mit den Wolken ziehen, unbehindert gleich ihnen. Die Luft gehörte uns ...«

Sie hielt inne und deutete nach den niedrigen Gewölben der Kirche.

»Und hier bist du in einer Grube. Du kannst die Arme nicht ausbreiten, ohne dir die Hände an den Steinen zu zerschinden. Das Gewölbe verdeckt dir den Himmel, nimmt dir deinen Sonnenanteil. So eng ist es hier, daß die Glieder sich dir steifen, als lägest du lebend im Grab.«

»Nein,« sagte der Priester, »die Kirche ist weit wie die Welt. Gott kann sie ganz erfüllen.«

Müde hob sie die Hand und zeigte auf die Kreuze, die sterbenden Heilande und Martern der Passion.

»Umgeben von Todesdingen lebst du. Gräser, Bäume, Wasser, Sonne und Himmel liegen im Sterben in allem, was dich umgibt.«

»Nein, alles lebt wieder auf, läutert sich, steigt empor zur Quelle allen Lichtes.«

Er hatte sich flammenden Auges aufgerichtet, trat fort vom Altar, jetzt war er unbezwinglich, von solchem Glaubensfeuer durchglüht, daß er der Gefahren nicht mehr achthatte. Er nahm Albine bei der Hand, sagte brüderlich du zu ihr und führte sie vor die leidensvollen Bilder des Kreuzweges.

»Sieh hier,« sagte er, »was mein Gott erlitt ... Jesus wird mit Ruten geschlagen. Du siehst, seine Schultern sind nackt, sein Fleisch ist zerrissen, das Blut rinnt ihm über die Lenden ... Jesus wird mit Dornen gekrönt! Rote Tränen rinnen von seiner durchbohrten Stirne. Ein großer Riß klafft ihm an der Schläfe... Jesus wird von den Soldaten verspottet. Seine Henker haben ihm voll Hohn einen Purpurfetzen übergeworfen, sie bespeien sein Antlitz und geben ihm Backenstreiche, mit Binsenruten schlagen sie ihn und treiben ihm die Dornenkrone tiefer in die Stirne.«

Albine drehte den Kopf zur Seite, um die rohausgemalten Schilderungen nicht sehen zu müssen, auf denen karminrote Striemen das ockrige Fleisch Jesu zerschnitten. Der Purpurmantel an seinem Hals erschien wie ein Fetzen seiner geschundenen Haut.

»Wozu leiden, wozu sterben?« sagte sie als Antwort. »Oh, Sergius! Weißt du denn nicht mehr? ... An jenem Tag sagtest du mir, du seiest müde. Ich wußte ganz gut, daß du die Unwahrheit sagtest, weil ein frischer Wind wehte und wir nicht mehr als eine Viertelstunde unterwegs waren. Du wolltest aber ruhen, um mich in deine Arme nehmen zu können. Du weißt, ganz hinten im Obstgarten steht ein Kirschbaum am Bachufer, an dem du nicht vorübergehen konntest, ohne Lust zu bekommen, mir die Hände zu küssen, mit Küssen, die bis zu den Schultern emporglitten, und von da bis zu den Lippen. Die Kirschenzeit war vorüber, da entschädigtest du dich an meinen Lippen ... Wir weinten über die welkenden Blumen. Als du eines Tages im Gras einen toten Vogel fandest, wurdest du ganz blaß und rissest mich an deine Brust, so, als wolltest du der Erde verwehren, auch mich zu verschlingen.«

Der Priester zog sie vor die anderen Stationsbilder des Leidensweges.

»Schweig,« rief er, »schau' noch dies, schenk' mir noch Gehör. Du mußt vor Schmerz und Mitleid in den Staub sinken ... Jesus fällt unter der Last seines Kreuzes. Der Anstieg zum Kalvarienberg ist steil. Er ist in die Knie gebrochen. Er wischt sich nicht einmal den Schweiß vom Antlitz, sondern rafft sich auf, geht weiter seinen Weg ... Zum zweitenmal fällt Jesus unter der Kreuzeslast zusammen. Er wankt bei jedem Schritt. Diesmal ist er so hart auf die Flanke gestürzt, daß der Atem eine kurze Weile aussetzt. Seine zerrissenen Hände haben das Kreuz fahren lassen. Seine blutigen Füße hinterlassen blutige Spuren im Sand. Eine furchtbare Mattigkeit zieht ihn nieder, denn auf den Schultern trägt er die Sünden der Welt...«

Albine hatte einen Blick über Jesus gleiten lassen, der in blauem Rock hingestreckt unter dem übermäßig großen Kreuz lag, dessen Schwärze auslief und das Gold seines Heiligenscheines trübte. Dann sagte sie mit verlorenem Blick:

»Oh, die Wiesenwege! ... Hast du das Gedächtnis denn verloren, Sergius? Erinnerst du dich nicht mehr der mit seinem Gras bestandenen Wege, die sich die Wiesen entlang ziehen, in den großen Seen aus Grün? An jenem Nachmittag, von dem ich reden will, beabsichtigten wir nicht länger als eine Stunde auszugehen, gingen dann aber immer weiter, immer weiter geradeaus, so daß die aufblinkenden Sterne uns immer noch unterwegs fanden. So weich breitete sich dieser endlose seidengeschmeidige Teppich, unsere Füße stießen an keinen Stein. Wie ein grünes Meer dehnte es sich, dessen Wasserschäume uns wiegten. Und wir wußten genau, wohin uns diese weichen ziellosen Wege führten. Sie führten uns hinein in unsere Liebe, in die Freude, Hand in Hand zu leben, in die Gesichertheit eines glücklichen Tages ... Unermüdet kehrten wir heim. Leichtfüßiger als beim Aufbruch fühltest du dich, weil du mir deine Liebkosungen geschenkt hattest und ich sie dir nicht alle zurückgeben konnte.«

Mit erregt zitternden Händen wies der Abbé Mouret die letzten Bilder. Er stammelte:

»Jesus wird ans Kreuz geschlagen. Hammerschläge drängen die Nägel in seine wunden Hände. Ein einziger Nagel muß genügen für die Füße, deren Knochen knacken. Und während sein Fleisch sich in Krämpfen windet, lächelt er mit zum Himmel gewandtem Blick ... Jesus findet sich zwischen den beiden Schächern. Durch das Gewicht seines Körpers werden ihm die Wunden entsetzlich weit aufgerissen, seiner Stirne, seinen Gliedern enttropft Blutschweiß. Die beiden Schächer beschimpfen ihn, die Vorübergehenden spotten seiner, die Soldaten teilen seine Kleider. Und Finsternis breitet sich, die Sonne dunkelt... Jesus stirbt am Kreuz. Ein lauter Schrei entfährt ihm, er gibt den Geist auf. O schauervoller Tod! Der Vorhang des Tempels reißt mitten durch, von oben bis unten, die Erde erzittert, die Felsen bersten, die Gräber tun sich auf...«

Er war auf die Knie gefallen, Schluchzen brach seine Stimme, sein Blick richtete sich auf die drei Kreuze des Kalvarienberges, an denen sich fahle Leiber Gemarterter wanden, in der rohen Darstellung schauerlich entfleischt. Albine trat vor die Bilder, damit er sie nicht mehr sehen sollte.

»An einem langen Dämmerabend hatte ich meinen Kopf auf deine Knie gebettet. Im Wald war es, am Ende jener großen Kastanienallee, die von den letzten Strahlen des Sonnenuntergangs durchflochten war. O welch zärtlicher Abschied! Die Sonne zauderte uns zu Füßen mit einem Freudenlächeln und sagte auf Wiedersehen. Langsam erblaßte der Himmel. Lachend erzählte ich dir, er zöge sein blaues Gewand aus und lege sein schwarzes, goldenbeblumtes an, um sich zur Abendgesellschaft zu schmücken. Du aber sahst nach den Schatten, konntest das Alleinsein nicht erwarten, ohne Sonnenstörung. Und Nacht sank nicht, sondern sanfte Verschwiegenheit, verschleierte Zärtlichkeit, ein Geheimnisweben wie in sehr düsteren blätterüberhangenen Wegen, die man betritt, um sich eine kleine Weile zu verstecken, sicher am anderen Ende die helle Tagesfreudigkeit wiederzufinden. Das ruhig-blasse Verdämmern jenes Abends schien einen schönen Morgen zu versprechen ... Ich tat, als schliefe ich ein, da ich sah, daß der Tag dir nicht schnell genug verging. Jetzt kann ich es ja sagen, ich schlief nicht, als du mich auf die Augen küßtest. Ich genoß deine Küsse. Ich mußte an mich halten, um nicht aufzulachen. Du trankst meinen regelmäßigen Atem. Als es dann Nacht wurde, war es wie ein langes Wiegenlied. Die Bäume, siehst du, schliefen ebensowenig als ich ... In der Nacht, du weißt es wohl noch, dufteten die Blumen stärker.«

Und da er immer noch kniete mit tränenüberströmtem Antlitz, griff sie ihn um die Handgelenke und zog ihn in die Höhe, leidenschaftlich fortfahrend:

»Oh, wenn du wüßtest, was ich weiß, würdest du mich anflehen, dich mit fortzunehmen, du würdest fest deine Arme um meinen Hals schlingen, damit ich nicht ohne dich fortgehen könnte... Gestern wollte ich den Garten wieder sehen. Er ist noch größer, noch tiefer und unergründlicher als wir dachten. Ich habe neue Düfte von solcher Süßigkeit entdeckt, weinen mußte ich. In den Alleen ist Sonnenregen über mich gefallen, wie ein Schauer von Wünschen. Die Rosen haben mir von dir gesprochen. Die Blutfinken erstaunten, daß ich einsam war. Durch den Garten ging ein Seufzen ... O komm, nie hat der Rasen weichere Lager gebreitet. Ich habe das Versteck, zu dem ich dich geleiten will, mit einer Blume bezeichnet; inmitten eines Dickichts ist es, eine grüne Höhle, wie ein breites Bett. Dort kann man das Leben des Gartens belauschen, Bäume, Wasser, Himmel. Der ureigene Atem der Erde selbst wird uns einwiegen ... O komm, wir werden uns lieben in der Liebe des Alls.«

Er stieß sie zurück. Wieder stand er vor der Totenkapelle, gegenüber der großen Christusfigur aus bemalter Papiermasse, hoch wie ein zehnjähriges Kind, deren Todeskampf so entsetzlich naturwahr sich darstellte. Eisern sahen die Nägel aus, die Wunden klafften grauenhaft aufgerissen.

»Jesus, der du für uns gestorben bist, sag' ihr, wie nichtig wir sind!« rief er. »Sag' ihr, daß wir Staub sind, Unrat und Verworfenheit! Ach, erlaube mir, daß ich das Haupt mir verhülle mit einem Büßerhemd, daß ich meine Stirne auf deine Füße lege, daß ich dort ausharre, bis der Tod mich verdirbt. Die Erde nehm' ich nicht mehr wahr. Die Sonne wird erloschen sein. Ich werde nichts mehr sehen und hören. Nichts von dieser elenden Welt wird meine Seele ablenken können von der Anbetung zu dir.«

Er geriet mehr und mehr in Verzückung. Mit erhobenen Händen ging er auf Albine zu.

»Du hast recht, der Tod wohnt hier, den Tod ersehne ich, den befreienden Tod, der aus aller Verdorbenheit erlöst ... Hörst du, ich verneine das Leben, weise es ab, bespeie es. Deine Blumen stinken, deine Sonne blendet, was sich lagert in deinem Gras, wird aussätzig, dein Garten ist ein Beinhaus, wo Gestorbenes in Fäulnis übergeht. Die Erde trieft von Abscheulichkeit. Du lügst, wenn du von Liebe, von Licht und Glückseligkeit sprichst in der Tiefe deiner grünen Paläste. Nur Finsternis gibt es bei dir. Deine Bäume sondern Gift aus, das die Menschen in Tiere verwandelt; deine Gehölze sind dunkel vom Gifte der Vipern; die Pest wogt unterm blauen Gewässer deiner Flüsse. Wenn ich deiner Natur ihr Sonnenkleid, ihren Blättergürtel abreißen könnte, so sähest du sie in furienhafter Häßlichkeit, wie eine Megäre, unheimlich leichenhaft und ganz zerfressen von Lastern. Und sagtest du auch wahr und wären deine Hände mit Freuden erfüllt, entführtest du mich auf ein Lager von Rosen, um mir dort paradiesische Träume zu schenken, so würde ich mich verzweifelter noch deiner Umarmung erwehren. Krieg ist zwischen uns, unerbittlich, seit Jahrtausenden. Sieh dich um, die Kirche ist unscheinbar, sie ist armselig und häßlich; Beichtstuhl und Kanzel sind aus Eichenholz, jene Altäre sind aus vier Brettern zusammengeschlagen, die ich selbst angestrichen habe. Was liegt daran? Größer ist sie als dein Garten, dies Tal, größer als die ganze Erde. Eine furchtbare Festung ist sie und uneinnehmbar. Winde, Sonnen, Wälder und Wasser, alles Lebendige mag noch so anstürmen gegen sie, aufgerichtet wird sie bleiben und nicht einmal erbeben. Ja, laßt das Gestrüpp emporschießen, rütteln an den Mauern mit stacheligen Armen, laßt aus Erdspalten wimmelnde Insekten kriechen und die Mauern benagen, niemals wird die Kirche, sei sie auch noch so verödet, untergehen im Strudel des Lebens! Sie ist unerbittlich wie der Tod ... Und willst du wissen, was eines Tages geschehen wird? Die kleine Kirche wird sich so riesenhaft dehnen, sie wird solchen Schatten werfen, daß die gesamte Natur zugrunde gehen muß. O Tod, Alltod, der Himmel reißt auf, um die Seelen aufzunehmen über den Schreckenstrümmern der Welt!«

Er schrie fast und drängte Albine heftig nach der Tür. Sie war tief erblaßt und wich Schritt für Schritt zurück. Als er schwieg, weil ihm die Stimme versagte, sagte sie ernst:

»So ist es also aus, du jagst mich fort? ... Und doch bin ich dein Weib. Du hast mich dazu gemacht. Wenn Gott dies zuließ, kann er uns so hart nicht strafen wollen.«

Sie stand auf der Schwelle und sagte noch:

»Höre, alle Tage bei Sonnenuntergang werde ich bis ans Ende des Gartens gehen, zu der Stelle, wo die Mauer eingestürzt ist... Ich warte auf dich.«

Und sie ging. Die Türe der Sakristei fiel seufzend ins Schloß.


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