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Schweigen erfüllte die Kirche. Nur der stärker aufrauschende Regen durchzitterte das Schiff wie Orgelton. In dieser jäh hereinbrechenden Stille verflog der Grimm des Priesters; Rührung überschlich ihn. Und mit tränennassem Antlitz und von Schluchzen geschüttelten Schultern warf er sich wieder vor dem großen Christusbild nieder. Glühende Danksagung entrang sich seinen Lippen.
»Dank, o mein Gott, für die Hilfe, die du gnädig mir zukommen ließest. Ohne deine Gnade hätte ich vielleicht den Ruf meines Fleisches erhört und wäre armselig versunken in Sünden. Gegürtet war ich mit deiner Gnade wie mit kriegerischem Gehänge, deine Gnade war mir Panzer und Stärke, die innerlich mich aufrechterhielt und mich nicht schwach werden ließ. O mein Gott! Du warst in mir, du sprachst aus mir, denn meine niedere Erbärmlichkeit war geschwunden, ich fühlte Kraft genug, alle Bande meines Herzens zu zerreißen. Hier ist mein blutendes Herz, es gehört nur dir allein. Um deinetwillen entriß ich es der Welt. Doch glaube nicht, o mein Gott, daß dieser Sieg mit Eitelkeit mich erfüllt, ich weiß, daß ich ohne dich nichts bin. In Demut vergehe ich zu deinen Füßen.«
Halb sitzend hatte er sich auf die Altarstufen niedergelassen, die Worte versagten ihm, wie Weihrauch ließ er seinen Atem aufwehen aus den halb geöffneten Lippen. Die Gnadenfülle versetzte ihn in unsagbares Entzücken. Er zog sich ganz in sich zurück und suchte Jesus auf in den Tiefen seines Wesens, in dem Liebesheiligtum, das er unablässig bereitete, würdig ihn aufzunehmen. Und Jesus war gegenwärtig, er fühlte es an der außerordentlichen Süße, die ihn durchdrang. Da begann er eines jener innerlichen Gespräche mit Jesu, die für ihre Dauer der Erde ihn entrückten, und redete Mund an Mund mit seinem Gott.
Er stammelte den Vers des Psalms: »Mein Geliebter ist mein und ich gehöre ihm; er schlummert unter den Lilien, bis der Tag aufdämmert und die Schatten schwinden.« Er vertiefte sich in die Worte der »Nachfolge«: »Eine große Kunst ist es, mit Jesu Zwiesprache halten zu können, und große Weisheit benötigt es, ihn sich in der Nähe zu bewahren.« Eine wonnevolle Vertrautheit hob an. Jesus ließ sich zu ihm nieder, unterhielt sich stundenlang mit ihm über seine Nöte, sein Glück und sein Hoffen. Zwei Freunde, die nach einer Trennung sich wiederfinden und abseits gehen, am Ufer irgendeines einsamen Flusses, können inniger einander sich nicht mitteilen; denn Jesus geruhte, ihm in göttlicher Ungezwungenheit Freund zu sein, der beste und treuste, der nie verriet und ihm für ein wenig Zuneigung alle Schätze des ewigen Lebens schenkte. Dieses Mal besonders wollte der Priester lange ihn festhalten. Es schlug sechs in der stummen Kirche, und immer noch lauschte er ihm inmitten des Schweigens der Kreatur.
Bekenntnis des ganzen Wesens, freies Zwiegespräch ohne Sprachhemmung, selbstverständliche Herzensergüsse, die Gedanken selber zuvorkamen. Der Abbé Mouret breitete sein ganzes Wesen vor Jesu aus wie vor einem Gott, der aus innigster Zuneigung sich eingefunden hat, und dem man alles sagen darf. Er gestand ihm, er liebe Albine immer noch; es erstaunte ihn, vermocht zu haben, sie zu mißhandeln, zu verjagen, ohne daß seine Eingeweide sich umgedreht hätten; es verwunderte ihn tief, und er lächelte ruhevoll darüber, wie in Betrachtung einer wunderbar starken Tat eines anderen. Und Jesus antwortete ihm, dies dürfe ihn nicht erstaunen, die größten Heiligen seien oft unbewußte Waffen gewesen in Gottes Hand. Dann bekundete der Abbé Besorgnis, ob es nicht armselig gewesen sei, sich zum Altar zu flüchten und bis in das göttliche Leiden des Herrn? War es nicht noch schlimm bestellt um seinen Mut, da er allein den Kampf nicht aufzunehmen wagte? Aber Jesus erzeigte sich duldsam: er legte dar, wie unaufhörlich Gottes Hauptsorge der menschlichen Schwäche gelte, sprach von der Bevorzugung der kranken Seelen, zu denen er sich niederließ, wie ein Freund sich an das Lager eines kranken Freundes niedersetzt. War es denn verwerflich, Albine zu lieben? Nein, wenn diese Liebe über das Fleischliche hinausfand, wenn sie das Verlangen nach ewigem Leben durch ein Hoffen stärkte. Weiter, wie denn sollte er sie lieben? Ohne Worte, ohne Annäherung sollte er diese reinste Zärtlichkeit aus sich atmen lassen, wie dem Himmel genehmer Wohlgeruch. Hier lächelte Jesus gütig leise, kam geständnisheischend näher noch, so daß der Priester nach und nach wagte, ihm Albines Schönheit genau zu beschreiben. Ihre Haare waren engelsblond. Große, sanfte Augen hatte sie und war ganz blaß, den aureolenumgebenen heiligen Frauen ähnlich. Jesus schwieg und lächelte. Und wie sie gewachsen war! Einer Königin glich sie jetzt mit ihren prachtvollen Schultern, ihrer üppigen Gestalt. Oh, sie um die Mitte zu fassen, sei es auch nur für Sekunden, zu fühlen, wie ihre Schultern sich in der Umarmung nach rückwärts bogen. Jesu Lächeln verblich, schwand wie ein Sternstrahl an Himmelsrändern. Der Abbé Mouret redete jetzund allein weiter. Fürwahr, zu hart war er gewesen. Warum denn Albine ohne ein einziges zärtliches Wort verjagen, wo doch der Himmel Liebe gestattete!
»Ich liebe sie! Ich liebe sie!« rief er außer sich mit lauter Stimme, die in der Kirche widerhallte. Er sah sie noch vor sich. Sie streckte die Arme nach ihm und war begehrenswert, alle Gelübde hätte er ihretwegen zu brechen vermocht. Und er warf sich an ihre Brust, ohne der Kirche zu achten; er umschlang ihre Glieder und besaß sie ganz unter einem Regen von Küssen. Vor ihr brach er jetzt in die Knie, bat um Barmherzigkeit und erflehte Verzeihung für seine Roheit. Er fand die Erklärung: in manchen Stunden spräche eine andere Stimme als die seine aus ihm. Hätte er sie denn sonst mißhandeln können! Einzig die fremde Stimme hatte gesprochen, nicht von ihm kamen die Worte, von ihm, der doch ohne Erbeben nicht vermocht hätte, ein Haar ihres Hauptes zu krümmen. Und doch hatte er sie verjagt, die Kirche war und blieb leer. Wohin mußte er eilen, um sie anzutreffen, zurückzuführen, um ihre Tränen mit Zärtlichkeit zu trocknen? Stärker fiel der Regen. Die Wege waren in Sümpfe verwandelt. Er stellte sie sich vor, regengepeitscht an den Gräben entlang wankend mit durchweichten Röcken, die ihr an der Haut klebten. Nein, nein, er war's nicht gewesen, der andere war es, jener Eiferer, der grausam seine Liebe zu Tode bringen wollte.
»O Jesus,« schrie er plötzlich verzweifelt auf, »sei gütig, gib sie mir zurück.«
Jesus aber war nicht mehr bei ihm... Da erblaßte der Abbé Mouret tief, mit einem Ruck fand er sich zurück. Er verstand, er hatte Jesus nicht halten können. Er verlor seinen Freund, blieb wehrlos dem Verderben preisgegeben. An Stelle der inneren Klarheit, die ihn erleuchtet hatte, und in der er seinen Gott aufnahm, fand er in sich nichts mehr als Finsternis und schlimme Dämpfe, die sein Fleisch in Wallung brachten. Jesus hatte die Gnade mit sich genommen, als er ihn verließ. Er, der seit morgens sich so gestärkt gefühlt durch himmlischen Beistand, fühlte sich nun urplötzlich elend, verlassen, kindhaft, schwach. Und welch gräßlicher Fall! Welch bitteres Sinken! Heldenhaft gekämpft zu haben, aufrecht, unbesiegbar und unerschütterlich, angesichts der Versuchung, der Lebenden mit dem üppigen Leib, den prachtvollen Schultern, dem Duft leidenschaftlicher Weiblichkeit; und dann schändlich zu unterliegen, in abscheulicher Begehrlichkeit zu keuchen, als die Versuchung wich und nichts von ihr geblieben war als ein bebender Duft blonder Haut! Und jetzt in der Erinnerung kehrte sie allmählich zurück und füllte die Kirche.
»Jesus, Jesus,« schrie der Priester ein letztes Mal. »Kehr wieder, kehr wieder in mich ein, rede zu mir!«
Jesus blieb taub. Eine Zeitlang flehte der Abbé Mouret zum Himmel mit leidenschaftlich erhobenen Armen. Seine Schultergelenke krachten in der außerordentlichen Glut seiner Beschwörungen. Bald sanken seine Arme mutlos herab. Der Himmel schwieg, die Frommen kennen dieses Schweigen. Da ließ er sich vernichtet wieder auf die Altarstufen nieder, mit erdfahlem Antlitz, drückte die Ellbogen eng an die Seiten, wie um seine Körperlichkeit zu verringern; von der Versuchung angefallen, schrumpfte er zusammen.
»Mein Gott, warum verläßt du mich?« murmelte er. »Dein Wille geschehe!«
Er sprach kein Wort mehr und atmete in lauten Stößen, wie ein gejagtes Tier, unbeweglich in Furcht vor den Bissen. Seit seiner Verfehlung war er so das Spielzeug der Gnade. Den innigsten Bitten versagte sie sich, sank unerwartet zaubervoll nieder, wenn er schon nicht mehr zu hoffen wagte, sie vor Verstreichen von Jahren zu erlangen. Die ersten Male hatte er sich empört, hatte wie ein verratener Liebhaber gesprochen, der die unverzügliche Rückkehr jener Trösterin fordert, deren Kuß ihn so stärkt. Nach unfruchtbaren Zornausbrüchen hatte er begriffen, daß Demut weniger wehe tat und ihm einzig dazu verhelfen könnte, seine Verlassenheit zu ertragen. So erniedrigte er sich stunden-, tagelang im Erwarten einer Tröstung, die nicht kam, er mochte sich noch so in die Hand Gottes geben, sich demütigen vor ihm, bis zum Überdruß die wirksamsten Gebete sprechen: er fühlte Gott nicht mehr; seine entfesselte Sinnlichkeit erbebte im Begehren; die Gebete verwirrten sich ihm auf den Lippen und gingen unter in einem wüsten Gestammel. Tödlich langsames Kämpfen mit der Versuchung, bei dem die Glaubenswaffen ihm aus den kraftlosen Händen sanken, eine nach der anderen, bei dem er nichts mehr war als ein lebloses Ding in den Krallen der Leidenschaft, bei dem er sich entsetzt seiner ganzen Abscheulichkeit gegenübersah, ohne auch nur den Mut zu haben, den kleinen Finger zu heben, um die Sünden zu verscheuchen. So sah sein Leben jetzt aus. Alle Angriffe der Sünde kannte er. Kein Tag verging, da er nicht heimgesucht wurde. Die Sünde wandelte sich tausendfach, drängte sich ein durch die Augen, die Ohren, griff ihn von vorne an die Brust, sprang ihm verräterisch auf die Schulter und peinigte ihn bis ins tiefste Mark. Immerwährend war ihm die Verfehlung gegenwärtig, die Nacktheit Albines, wie eine Sonne aufstrahlend und durchleuchtend das Grün des Paradeis. Unablässig sah er sie so vor sich, außer in den seltenen Augenblicken, da die Gnade ihm die Lider schloß mit kühlender Liebkosung. Er verbarg sein Leiden wie eine schändliche Krankheit, sonderte sich ab in jenem bleichen Schweigen, dem man ihm nicht zu entreißen vermochte, und erfüllte das Pfarrhaus mit seinem Märtyrertum, seinem Bescheiden, so daß die Teusin fast außer sich geriet und hinter seinem Rücken dem Himmel eine Faust machte. Diesmal war er allein und konnte ohne Scheu sich dem tödlichen Ringen überantworten. Die Sünde hatte ihn so hart angefaßt, daß ihm keine Kraft blieb, sich von der Altarstufe zu erheben, auf die er niedergefallen war. Er fuhr fort, hörbar zu atmen, heiß vor Angst und tränenlos. Und er gedachte seines früheren, friedvollen Lebens. Ach, welcher Friede, welche Zuversicht noch bei seiner Ankunft im Artaud! Das Heil war ihm vorgekommen wie eine breite, bequeme Straße. Zu jener Zeit hatte er gelacht, wenn man von der Versuchung sprach. Er lebte, umringt von Sündigkeit, ohne sie zu kennen, ohne sie zu fürchten, im sicheren Gefühl, sie überwinden zu können. Er war ein vollkommener Priester, so keusch, so unwissend vor Gott, daß Gott ihn an der Hand geleitete wie ein kleines Kind. Jetzt war von dieser Kindlichkeit nichts mehr geblieben. Gott suchte ihn heim am Morgen und stellte ihn gleich auf die Probe. Sein ganzes irdisches Leben wurde Versuchung. Mit dem Sündenfall, dem vorrückenden Alter, trat er ein in den ewigen Kampf. War es, weil Gott zu dieser Stunde ihm mehr zugetan war? Alle großen Heiligen haben Fetzen ihres Fleisches gelassen in den Dornen des Leidensweges. Er versuchte, aus dieser Wissenschaft sich eine Tröstung zu schaffen. Bei jedem Zerreißen seines Fleisches, jedem Krachen seiner Knochen versprach er sich wunderbaren Lohn. Niemals konnte der Himmel ihn genugsam heimsuchen. Er ging so weit, seine frühere Ruhe geringzuschätzen, unerkämpfte Innigkeit, die ihn in mädchenhaftem Entzücken auf die Knie warf, ohne daß er sogar die Kühle des Bodens in seinen Knien empfunden hatte. Er brachte es fertig, eine Lust zu finden in den Tiefen des Leidens, und dort sich zur Ruhe zu begeben und zu schlafen. Aber während er Gott lobte, schlugen seine Zähne stärker aufeinander, die Stimme seines empörten Blutes rief ihm zu, all dies sei Lüge, die einzig zu ersehnende Freude sei, in den Armen Albines niederzusinken hinter blühenden Hecken des Paradeis.
Und doch hatte er Maria um Jesu willen verlassen, hatte sein Herz geopfert, um sein Fleisch zu überwinden; er träumte, seinen Glauben mit mehr Männlichkeit zu erfüllen. Maria mit den schmalen Scheiteln und ausgestreckten Händen, ihrem fraulichen Lächeln, erregte ihn zu sehr. Er vermochte nicht, vor ihr zu knien ohne die Augen senken zu müssen, aus Furcht, nach dem Saum ihrer Röcke zu schielen. Auch klagte er sie an, ehemals zu sänftiglich mit ihm verfahren zu sein, so lange hatte sie ihn in den Falten ihres Gewandes bewahrt, daß er sich aus ihren Armen in die Arme der Kreatur gleiten ließ, ohne auch nur gewahr zu werden, daß sein zärtliches Gefühl sich verstellte. Und er rief sich die Roheiten des Bruders Archangias ins Gedächtnis, seine Weigerung, Maria zu verehren, den mißtrauischen Blick, mit dem er sie zu überwachen schien. Er verzweifelte daran, jemals bis zu dieser Härte vorzudringen; er verließ sie einfach, versteckte ihre Bilder, floh ihren Altar. Auf dem Grund seines Herzens aber bewahrte er sie wie eine uneingestandene, immer gegenwärtige Liebe. Die Sünde bediente sich ihrer, um ihn zu versuchen in schrecklicher, ihn niederschmetternder Lästerlichkeit. Rief er sie in manchen Stunden unbesiegbarer Hinneigung wieder an, war es Albine, die sich zeigte, im weißen Schleier, mit der blauverschlungenen Schärpe umgürtet, Goldrosen auf den nackten Füßen. Alle Bilder der Jungfrau, die Jungfrau im goldenen Königsmantel, die sterngekrönte Jungfrau, die vom Verkündigungsengel heimgesuchte Jungfrau, die Friedensjungfrau mit Spindel und Lilien, ließen Erinnerungen an Albine aufsteigen, an die lächelnden Augen, den feingezeichneten Mund, die weiche Rundung der Wangen. Sein Fall hatte der Jungfräulichkeit Marias ein Ende bereitet. So vertrieb er mit letzter Kraft die Frau aus der Religion und suchte Zuflucht in Jesus, dessen Sanftheit ihm auch zuweilen Unruhen schaffte. Ein eifernder Gott tat ihm not, ein unerbittlicher Gott, der von Donnern umprasselte Gott des Alten Testaments, der sich nur zeigt, um die entsetzte Welt zu strafen. Keine Heiligen, keine Engel, keine Gottesmutter durfte es mehr geben; nur Gott, ein allmächtiger Herrscher, der jeden Atemzug für sich in Anspruch nahm. Er fühlte, wie die Hand dieses Gottes ihm die Glieder zerbrach, ihn auf Gnade und Ungnade hielt in Raum und Zeit, wie schuldiges Atom. Ein Nichts sein, in der Vorstellung von Hölle und Verdammnis leben, fruchtlos ankämpfen gegen die Untiere der Versuchung, das war gut. Von Jesus nahm er nichts an als das Kreuz. Er nahm das Kreuz und folgte Jesus nach. Er beschwerte es noch, ließ sich zu Boden drücken von ihm, kannte keine größere Genugtuung, als unter ihm zusammenzustürzen, es kniend zu schleppen, mit brechendem Rückgrat. In ihm erblickte er die Stärkung der Seele, die Freude des Geistes, die höchste Tugend und heiligste Vollkommenheit. In seinem Zeichen erlangte man alles, alles endete im Sterben am Kreuz. Leiden, Sterben, unaufhörlich klangen ihm diese Worte im Ohr, wie das Ziel aller menschlichen Weisheit. Und hatte er sich dem Kreuz verbunden, blieb ihm die Tröstung schrankenloser Gottesliebe. Das war nicht mehr Maria, die er in Sohneszärtlichkeit liebte und mit der Glut eines Liebhabers. Um der Liebe willen liebte er, in Liebesunumschränktheit. Er liebte Gott über sich selbst hinaus, über alles, aus tiefster Lichtentschlossenheit. Er war dergestalt wie eine Kerze, die sich in Klarheit verzehrt. Der Tod, erwünschte er ihn, war für sein Anschauen nur ein großer Liebesaufschwung. In was fehlte er denn, um so starker Prüfung unterworfen zu werden? Er wischte mit der Hand den Schweiß ab, der ihm von den Schläfen rann und dachte, wie er am Morgen noch beim Prüfen seines Gewissens keinerlei schwere Vergehung hatte in sich entdecken können. Führte er nicht ein Leben voll Enthaltsamkeit und Kasteiung? Liebte er Gott nicht blind und ausschließlich? Ach, wie hätte er ihm lobgesungen, hätte er ihm endlich Ruhe beschieden und ihn für seine Missetat genugsam bestraft erachtet! Vielleicht aber konnte dies Verfehlen niemals gesühnt werden. Und gegen seinen Willen kehrten seine Gedanken zu Albine zurück, zum Paradeis, zu dem sengenden Erinnern. Er begann nach Entschuldigungen zu fahnden. An einem schönen Abend stürzte er in seinem Zimmer zusammen, von einem Nervenfieber überfallen. Drei Wochen lag er vergewaltigt von diesem körperlichen Ringen. Wild durchwusch sein Blut die Adern, von Kopf bis zu Füßen, durchtobte ihn mit dem Tosen entfesselten Sturmes; vom Schädel bis zu den Fußsohlen wurde sein Körper gesäubert, erneuert, durchpulst von solchem Krankheitsfleiß, daß es ihm in seinen Fiebervorstellungen oftmals vorkam, als hörte er das Gehämmer der Arbeiter, die seine Knochen wieder zusammenflickten. Dann erwachte er eines Morgens wie neugeboren. Er trat zum zweiten Male in die Welt, befreit von allem, das fünfundzwanzig Jahre Leben in ihm abgelagert hatten. Seine Kindheitsfrömmigkeit, die Seminaristengelehrsamkeit, die Überzeugungen seines jungen Priestertums, alles war geschwunden, untergegangen, fortgespült, und hinterließ nichts als Leere. Sicherlich hatte allein die Hölle ihn der Sünde derart urbar gemacht, hatte ihm die Waffen zerbrochen, aus seinen Eingeweiden ein weichliches Lager geschaffen, dem Bösen zur Ruhestatt. Und nichts von dem wurde ihm bewußt, er ließ sich langsam der Sünde zutreiben. Als er im Paradeis die Augen aufschlug, fühlte er sich wie ein Kind, ohne Erinnerung an Vergangenes, unberührt vom Priestertum. Sanft durchspielte es seine Glieder, überraschtes Entzücken Leben wieder zu beginnen, als kennten sie es nicht und erlernten es nun mit größten Freuden. O dies bezaubernde Lernen, die entzückenden Begebenheiten, wunderbaren Entdeckungen! Das Paradeis war eine einzige Glückseligkeit. Die Hölle wußte wohl, daß er dort nicht widerstehen würde. Niemals war ihm in seiner ersten Jugend das Wachsen eine solche Lust gewesen. Rief er sich jetzt diese erste Zeit ins Gedächtnis zurück, erschien sie ihm trüb, dunkel, sonnenlos, ärmlich, blaß und ungesund. Mit welchen Gefühlen hatte er die Sonne begrüßt! Wie wunderbar erschien ihm der erste Baum, die erste Blume, das kleinste Insekt, der geringste Kiesel! Selbst den Steinen gewann er Reize ab. Der Horizont war ein unerhörtes Wunder. Durch klaren Morgen, den sein Auge eintrank, durch ein Eratmen duftenden Jasmins, belauschten Lerchensang, kamen ihm solche Erregungen, daß die Glieder ihm versagten. Stetig schaffte es ihm Vergnügen, dem Leben bis in leisestes Erzittern nachzuspüren. Und dann der Morgen unter Rosen, der ihm Albine an die Seite gebar! Noch überkam ihn entzücktes Lachen bei dieser Erinnerung. Sie tauchte auf wie ein Gestirn, der Sonne sogar erfreulich. Sie hellte alles auf, verklärte alles. Sie ergänzte ihn. Gemeinsam mit ihr beschritt er die Pfade des Paradeis, nach allen vier Windrichtungen. Er entsann sich, wie die kurzen Härchen ihr über den Nacken wehten, wenn sie ihm vorauslief. Sie roch gut, schwenkte weiche Kleider, deren Berührung liebkoste. Wenn sie ihn mit ihren bloßen Armen umschlang, schien ihm immer, sie müsse sich um seinen Körper ranken in ihrer zarten Schlankheit und entschlafen, seiner Haut geschmiegt. Sie ging vor ihm her und geleitete ihn zu verschlungenen Pfaden, die ihren Weg verlängerten, das Ziel hinausschoben. Durch sie lernte er die Erde lieben. Sie selbst lernte er lieben durch das Betrachten der Pflanzenliebe; lange, unsichere Zärtlichkeit, deren große Freuden sie dann eines Abends kosteten unter dem mächtigen Baum, im samenrieselnden Schatten. Hier waren sie am Ziele ihrer Wanderung. Albine, hingeworfen, das Antlitz in entfesseltes Haar gebettet, streckte die Hände nach ihm. Er nahm sie in einer Umarmung. Oh, sie an sich zu reißen, sie wieder zu besitzen, ihre fruchtbar bebenden Flanken zu fühlen, Leben zu erzeugen, Gott ähnlich zu sein!
Ein dumpfes Stöhnen entrang sich plötzlich dem Priester. Er bäumte sich empor wie unter Streichen unsichtbarer Geißel, dann brach er wieder in sich zusammen. Die Versuchung hatte ihn angefallen. In welche Greuel verlor sich sein Erinnern? Wußte er denn nicht, daß der Satan alle Künste kennt, daß er sich selbst die Stunden innerer Prüfung zunutze macht, um bis tief in die Seele seinen Schlangenkopf einzudrängen. An ihm war es gewesen, auf der Hut zu sein, Gott wiederzufinden nach überstandenen Fiebern. Und er hatte im Gegenteil sein Vergnügen darin gesucht, sich zu vergraben in seine Fleischlichkeit. Und welcher Beweis scheußlicher Neigungen! Er konnte seine Sünde nicht beichten, ohne wider Willen sie in Gedanken nochmals zu begehen. Konnte er dies Gräßliche nicht ersticken? Er träumte davon, sich den Schädel auszuhöhlen, um nicht mehr denken zu müssen; sich die Adern zu öffnen, um von seinem schuldvollen Blut nicht mehr gequält zu werden. Eine Weile barg er bebend sein Gesicht in den Händen und suchte die kleinsten unbedeckten Stellen seiner Haut zu decken, als wenn ihn umschnuppernde Wesen warmatmig die Haare zu Berge getrieben hätten.
Aber er mußte trotzdem nachdenken, trotz allem trieb das Blut durch sein Herz. Seine Augen, auf die er Fäuste preßte, sahen auf schwarzem Grund die fließenden Linien von Albines Leib in Flammenlinien gemalt, ihr nackter Busen blendete wie eine Sonne. Bei jedem Versuch, die Augen einzupressen und dies Bild zu verjagen, wurde es leuchtender, verdeutlichte sich unter Verrenkungen und lockenden Armbewegungen, die den Priester ein Angstgekreisch ausstoßen ließen. Gott verließ ihn also ganz und gar, daß es keine Zuflucht mehr für ihn gab? Und trotz Willensanspannung erlebte er die Sünde immer wieder, sie erschien mit erschreckender Klarheit. Er sah wieder die kleinsten Grashalme an den Kleidersäumen Albines, fühlte aufs neue die kleine Distel, die sich in ihrem Haar verfangen hatte und ihm die Lippen zerstach. Alles kam wieder, vom herbsüßen Geruch zerdrückter Stengel bis zu dem fernsten undeutlichsten Geräusch, dem eintönigen Ruf eines Vogels, tiefem Schweigen und Seufzen in den Bäumen. Warum traf ihn nicht gleich der Blitz des Himmels? Weniger hätte er dann leiden müssen. Er freute sich seiner Abscheulichkeit mit der Wollust eines Verdammten. Wut schüttelte ihn, vernahm er die verbrecherischen Worte, die er zu Füßen Albines ausgesprochen hatte. Sie hallten wider in dieser Stunde, um ihn anzuklagen vor Gott. Er hatte das Weib zu seinem Herrscher erkoren. Zum Sklaven des Weibes hatte er sich erniedrigt, hatte ihm die Füße geküßt und sich gewünscht, sein Trank, seine Speise zu sein. Er verstand jetzt, warum er sich nicht wieder in die Gewalt bekam. Gott überließ ihn dem Weibe. Aber er würde zuschlagen, ihm die Glieder zerbrechen, auf daß es ihn fahren ließe. Das Weib war hörig, unreines Fleisch, dem die Kirche die Seele hätte absprechen müssen. So verhärtete er sich und erhob die Fäuste gegen Albine. Aber die Fäuste öffneten sich, und die Hände glitten an nackten Schultern entlang in weichem Liebkosen, während der fluchende Mund sich in den entfesselten Haaren verirrte unter Liebesgestammel.
Der Abbé Mouret öffnete die Augen. Die gleißende Erscheinung Albines schwand. Unerhoffte, plötzliche Erleichterung. Er konnte weinen. Langsam rollten ihm Tränen über die Wangen, während er tief Atem holte, sich aber noch nicht zu bewegen wagte aus Angst, die Faust wieder im Nacken zu spüren. Immer noch vernahm er ein grimmiges Raunen hinter sich. Wie gut war es, nicht mehr so schwer zu leiden; er überließ sich dem Genuß dieses wohligen Zustandes. Draußen hatte es aufgehört zu regnen. Im rosigen Schein ging die Sonne unter, die Fenster waren wie mit rosa Seide verhängt. Die Kirche war jetzt lau durchwärmt, lebendig von scheidender Sonne durchatmet. Etwas unbestimmt dankte der Priester Gott für den ihm gnädig geschenkten Aufschub. Ein breiter Strahl, ein goldenes Stäuben durchschimmerte das Schiff, überleuchtete die Tiefe der Kirche, die Uhr, Kanzel, den Hauptaltar. Vielleicht stieg die Gnade aus den Himmeln auf diesem lichten Weg zurück zu ihm? Er betrachtete gespannt die in den Strahlen mit unerhörter Geschwindigkeit auf und nieder tanzenden Atome, die wie eine Schar geschäftiger Boten sich ausnahmen, die unablässig der Sonne Nachrichten zutrugen von der Erde. Tausend brennende Kerzen hätten die Kirche nicht mit solchem Glanz zu erfüllen vermocht. Hinterm Hochaltar spannten sich goldene Tücher; Geriesel von Goldschmuck überspülte die Altäre, Leuchter erblühten zu Strahlengarben, Weihrauchbecken schwelten Edelsteinglut, Weihgefäße erwuchsen mehr und mehr zu kometischem Scheinen; und allüberall ein Regen von Lichtblüten inmitten schwirrender Spitzen, von Brokaten, Blumensträußen, Gewinden aus Rosen, derem Herzen sich aufblätterten und Sterne entsinken ließen. Nie hätte er solchen Reichtum seiner armen Kirche erträumt. Er lächelte und wünschte sich, diesen Prunk festhalten zu können und ihn nach seinem Willen zu ordnen. Er hätte die Gehänge aus Goldstoff höher angebracht; auch die Gefäße waren ihm zu nachlässig verteilt; er sammelte die verstreuten Blüten, wand neue Sträuße und zog neue Bogen. Welche Pracht aber, als sich dergestalt pomphaft alles darstellte! Er wurde der Hohepriester einer neuen Kirche. Bischöfe, Fürsten, Frauen in schleppenden Königsmänteln, fromme Scharen strömten ihm zu und beugten die Stirnen in den Staub, lagerten im Tal und warteten wochenlang, bevor sie Eintritt fanden. Man küßte ihm die Füße, weil auch sie von Gold und wundertätig waren. Das Gold stieg ihm bis zu den Knien. Ein goldenes Herz schlug ihm in der goldenen Brust mit so melodisch klarem Tönen, daß die Menge außerhalb es vernehmen konnte. Da verzückte ihn unendlicher Stolz: er wurde zum Idol.
Der Sonnenstrahl stieg immer höher, der Hochaltar flammte auf und der Priester wollte sich einreden, es müsse die Gnade sein, die ihm wiederkehrte, daß er so tiefinnerliches Freuen spürte. Das böse Raunen hinter ihm wurde schmeichlerisch. Er fühlte über seinem Nacken nur noch weiche Sammetpfoten, wie liebkosendes Streicheln einer Riesenkatze.
Und er träumte weiter. Noch nie war ihm alles so klar erschienen. Alles kam ihm ganz einfach vor, weil er sich so stark dünkte. Da Albine ihn erwartete, würde er zu ihr gehen. Das war selbstverständlich. Hatte er doch morgens den langen Fortunat und die Rosalie zusammengegeben. Die Kirche verbot die Ehe nicht. Er sah sie noch vor sich, wie sie unter seinen segnenden Händen lächelten und sich mit den Ellbogen stießen. Am Abend hatte man ihm ihr Bett gezeigt. Jedes der Worte, die er zu ihnen gesprochen hatte, tönte ihm laut in den Ohren. Dem langen Fortunat hatte er gesagt, Gott sende ihm eine Gefährtin, weil er nicht wolle, daß der Mensch allein sei. Der Rosalie sagte er, sie müsse ihrem Gatten anhangen und ihn nie verlassen und seine gehorsame Dienerin sein. Aber er sprach diese Worte auch für sich und Albine. War sie nicht seine Gefährtin, seine gehorsame Dienerin, die Gott ihm sandte, daß seine Mannheit in der Einsamkeit nicht verdorrte? Überdies waren sie ja verbunden. Es setzte ihn sehr in Erstaunen, daß er das nicht gleich verstanden hatte, daß er nicht gleich mit ihr gezogen war, wie die Pflicht es erheischte. Jetzt aber war es beschlossene Sache, schon morgen würde er sie aufsuchen. In einer halben Stunde könnte er bei ihr sein. Er durchschritte das Dorf und schlüge den Feldweg ein; bei weitem der kürzeste war es; er vermochte alles, war der Herr, und niemand hatte ihm hereinzureden. Betrachtete man ihn, würde er mit einer Bewegung die Nacken sich beugen lassen. Dann lebte er mit Albine und nannte sie seine Frau. Sie würden sehr glücklich sein. Das Gold stieg wiederum höher, schimmerte ihm in den Händen. Er war ganz gebadet in Gold. Er nahm die Weihgefäße mit sich fort für seine Lebensbedürfnisse, er führte ein großartiges Leben und bezahlte seine Leute mit den ausgebrochenen Stücken aus den Kelchen; ein leiser Fingerdruck genügte, um sie abzubrechen. Sein Brautbett umgab er mit den goldseidenen Vorhängen des Altars. Er schenkte seiner Frau als Schmuck die Goldherzen, Goldketten, Goldkreuze, die den Hals der Heiligen und der Jungfrau zierten. Die Kirche selbst, um ein Stockwerk erhöht, konnte ihnen zum Palast dienen. Gott würde nichts dagegen haben; er gestattete ja zu lieben. Außerdem konnte Gott ihm ganz gleichgültig sein! War er nicht göttlich in dieser Stunde, mit seinen goldenen, von der Menge geküßten, wundertätigen Füßen.
Der Abbé Mouret stand auf. Er beschrieb jene weite Bewegung, wie Jeanbernat, jene verneinende Bewegung, die die Horizonte einbezog.
»Nichts ist da, nichts, gar nichts,« sagte er, »es gibt keinen Gott!«
Wie ein Schauer durchlief es die Kirche. Todesblässe überkam neuerlich den entsetzten Priester; er lauschte.
Wer hatte gesprochen? Wer gelästert?
Das Sammetstreicheln, das er sanft über dem Nacken empfunden hatte, war plötzlich bösartig ausgeartet; Krallen fetzten das Fleisch, Blut strömte. Doch blieb er stehen und kämpfte gegen den Angriff. Er stieß Beschimpfungen aus gegen die siegreiche Sünde, die seine Schläfen umkicherte, in denen alle bösen Hämmer neu zu schlagen begannen. Waren diese Verrätereien ihm denn nicht bekannt? Wußte er denn nicht, daß sie es liebt, spielend auf ihren Pfoten anzuschleichen, um sie dann gleich Messern dem Opfer bis auf die Knochen einzutreiben? Und seine Wut verdoppelte sich bei dem Gedanken, wie ein Kind in die Falle gegangen zu sein. Würde er sich denn nie aufraffen können, würde immer die Sünde siegreich auf seiner Brust kauern? Jetzt war er so weit gekommen, Gott zu verleugnen. Das war der tödliche folgerichtige Absturz. Die Unzucht tötete den Glauben. Dann zerbröckelte das Dogma. Ein Zweifel des Fleisches, das sein Unwesen verteidigt, genügte, um den ganzen Himmel leer zu fegen. Das göttliche Gesetz wurde zum Ärgernis, die Geheimnisse erschienen lächerlich; man streckte sich zur Ruhe in einem Winkel der verstümmelten Religion und handelte seine Gotteslästerung ab, bis man sich eine Höhle ausgescharrt hatte, wie ein Vieh, das seinen Kot bebrütet. Dann folgten die anderen Versuchungen: Gold, Macht, freies Leben, ein unwiderstehlicher Drang zu genießen, der alles der großen Unzucht zutrieb, die auf einem Lager von Reichtum und Stolz gebettet ist. Und man bestahl Gott. Man zerbrach die Kultgefäße, um sie weiblicher Unlauterkeit anzuhängen. Wohl! Er war verworfen. Vor nichts scheute er mehr zurück, mochte die Stimme der Sünde laut in ihm tönen. Gut war es wenigstens, daß Kampf nicht mehr vonnöten war. Die ihn vormals hinterrücks umschleichenden Ungeheuer ergingen sich jetzt in seinem Innern. Er blies sich auf, um ihr Wühlen deutlicher zu empfinden. Mit schrecklicher Freude überließ er sich ihnen. In Auflehnung schüttelte er die Faust gegen die Kirche. Nein, er glaubte nicht mehr an die Göttlichkeit Jesu, glaubte nicht mehr an die heilige Dreifaltigkeit; er glaubte nur an sich, an seine Muskeln, die Gelüste seiner Organe. Leben wollte er. Er wollte Mann sein. Ach, in frischer Luft zu laufen, stark zu sein und keinen eifersüchtigen Herrn über sich zu wissen, seine Feinde mit Steinwürfen zu töten, und die Mädchen, die vorüberkommen, in seinen Armen fortzutragen! Er würde auferstehen aus dem Grab, in das rauhe Hände ihn verstießen. Seine Mannheit müßte erwachen, die nun schlief. Und schändlicher Tod ihm, wenn sein Mannestum versiecht war. Und Gott sollte verflucht sein, wollte er ihn erlesen aus aller Kreatur und mit seinem Finger berühren, um ihn allein seinem Dienst zu weihen.
Der Priester stand aufgereckt, seine Sinne verwirrten sich. Er vermeinte, die Kirche stürze ein bei dieser neuen Lästerung. Der den Hochaltar überflutende Sonnenstreifen hatte langsam sich ausgebreitet und fachte die Mauern zu Feuersröte. Flammenzungen lohten noch höher, überleckten die Decke und schwanden in blutigem Aufleuchten. In der Kirche wurde es plötzlich vollkommen dunkel. Es war, als habe der feurige Untergang dieses Gestirns das Dach durchbrochen, die Mauern gespalten und den Angriffen des Außen gähnende Breschen ringsum aufgetan. Der düstere Rumpf schwankte in der Erwartung irgendeines furchtbaren Ansturms. Die Nacht sank schnell.
Da vernahm der Priester von weither ein Gemurmel aus der Tiefe des Artaud. Ehmals verstand er die glühende Sprache dieses feuerverzehrten Erdstriches nicht, auf dem nichts gedieh als knotig gewundene Weinstöcke, magere Mandelbäume und schwächlich verbogene Oliven. Er schritt mitten durch dies leidenschaftliche Gelände in unbekümmerter Ahnungslosigkeit. Heute aber, wissend geworden im Fleisch, erfaßte er verstehend das leiseste Seufzen sonnengelähmter Blätter. Zuerst erzitterten in der Weite die vom Sonnenabschied noch heißen Hügel und schienen sich in Bewegung zu setzen mit dem dumpfen Rollen vorrückender Armee. Dann erhoben sich die Felsen, die Wegkiesel und alle Steine im Tal und rollten knirschend vorwärts, als ob Verlangen nach Bewegung sie vorwärts schleuderte. Darauf begannen die roten Erdlachen, die spärlich hackenbezwungenen Felder ihnen nachzutreiben, zu rollen, wie entfesselte Ströme, die in ihrem Blutfluß Samen mit sich rissen, Wurzeltriebe und pflanzliche Verschmelzung. Und bald war alles in Bewegung; die Rebenstümpfe krochen daher wie große Insekten; das magere Korn, das dürre Gras bildete sich zu lanzenbewährten Bataillonen; im Lauf verwirrten sich die Bäume, sie streckten ihre Glieder wie Ringer, die sich zum Kampf bereiten; abgefallene Blätter wanderten, der Staub der Straße wanderte. Massen, die bei jedem vordrängenden Schritt Kraftzuwachs erwarben, Sturmvolk, dessen Atem näher brunstete, essenheißes Lebenswehen, alles überwallend in Wirbeln riesenhafter Niederkunft. Plötzlich geschah der Angriff. Vom Horizont an warf sich das ganze Gelände auf die Kirche, Hügel, Felsen, Feld und Bäume. Die Kirche erbebte krachend bei erstmaligem Vorstoß. Mauern barsten und Dachgeschiefer fiel.
Es gab einen kurzen Stillstand. Von draußen lärmten Stimmen in steigender Wut. Der Priester konnte jetzt menschliche Stimmen aus dem Schwall heraushören. Das Dorf war es, die Leute vom Artaud, jene felserwachsene Handvoll dornenharter Bastarde, atmeten nun heran in lebendurchwimmeltem Wehen. Erdwärts hurten sie und pflanzten von Spanne zu Spanne ein Menschendickicht, dessen Stämme ringsum allen Raum aufschlangen. Bis zur Kirche klommen sie empor, stießen die Türe ein und drohten das Schiff zu versperren mit Wucherästen ihrer Rasse. Ihnen nach im wirren Gestrüpp stürzten die Tiere, Ochsen suchten mit den Hörnern die Mauern einzustoßen, eine Horde von Eseln, Ziegen, Schafen zertrat die Kirche, und wie lebendige Woge fluteten Ameisen, Kellerasseln und Grillen, stürzten sich auf die Grundmauern und zersägten sie. Und von der anderen Seite kam noch Desideratas Wirtschaftshof, dessen Misthaufen betäubende Düfte entsandte; der große Hahn Alexander trompetete von dorther zum Angriff, die Hühner entfesselten die Steine mit Schnabelhieben, die Kaninchen gruben Gänge bis unter die Altäre, um sie zu unterhöhlen und zum Einstürzen zu bringen; das Schwein, in Fett unbeweglich, wartete grunzend, bis die heiligen Gefäße nichts mehr waren als ein wenig heiße Asche, um seinen Bauch hineinzuwälzen. Ein zweiter Angriff stieß unter Donnerrollen vor. Dorf, Getier, der ganze Strudel überquellenden Lebens ließ die Kirche eine Weile untergehen in der Raserei balkenbiegender Körper. Im Gemenge entrang sich den Flanken der Weibtiere unaufhörliches Gebären frischer Streiter. Ein Pfeiler der Kirche war niedergelegt, das Deckengewölbe gab nach, das Holzwerk der Fenster stürzte nach außen, durch die furchtbar klaffenden Breschen drang Dämmerungsschwelen schwarz und schwärzer. Der große Christus am Kreuz hing nur noch am Nagel der linken Hand. Den Einsturz des Mauerpfeilers grüßte ein Auflärmen. Die Kirche aber hielt stand, trotz ihrer Verletzungen. In stummer, wilder Entschlossenheit krampfte sie sich fest am unscheinbarsten Gestein ihres Fundamentes. Diese Ruine schien sich aufrecht zu halten nur durch den schwächsten ihrer Pfeiler, der wie durch ein Wunder, geborstene Gewölbe im Gleichgewicht erhielt. Da sah der Abbé Mouret die rauhen Pflanzen der Höhe sich ans Werk begeben, dieses schreckliche in Felsendürre verhärtete Wachstum, grobfaserig, schlangenhaft verschlungen und muskeldurchwellt. Rostfarbene Moosflechten wie entzündete Hautentartungen fraßen zuerst den Gipsbewurf. Dann drängte der Thymian seine Wurzeln zwischen die Ziegelsteine, wie Eisenklammern. Lavendelstauden griffen mit langen krummen Fingern unter wankendes Mauerwerk, zogen es an sich und hoben es in langsamem, stetigem Bemühen auseinander. Ginster, Rosmarin und Stechpalmen reckten sich höher hinauf in unwiderstehlichem Drängen. Selbst die Gräser, jene vertrockneten Halme, die sich unter dem großen Tor durchschoben, erfestigten sich zu Stahlhärte, schlitzten das Tor und drangen ein in das Schiff, wo sie die Bodenplatten mit Zangengewalt herausbrachen. Siegreicher Aufruhr der empörten Natur war es, die sich verschanzte hinter umgestürzten Altären und die seit Jahrhunderten sie zu tief überschattende Kirche verwüstete. Die übrigen Kämpfer ließen die Gräser, Thymian, Lavendel und Moose gewähren; dies Nagen der Schwachen war gefährlicher als die Keulenschläge der Großen; die Fundamente wurden untergraben; dies stetige Bemühen mußte das Gebäude zu Fall bringen. Dann, ganz schnell, kam das Ende. Die Eberesche, deren höchste Äste sich schon unter das Gewölbe streckten durch die zerschlagenen Scheiben, warf sich in drängend grüner Blätterheftigkeit herein, sie pflanzte sich mitten im Schiff auf und begann dort unermeßlich zu wachsen. Riesenhaft schwoll der Stamm und ließ die Kirche zerplatzen wie zu engen Gürtel. Die Zweige wuchsen sich nach allen Seiten zu riesigen Knoten aus, deren jeder ein Mauergebröckel, ein Stück Bedachung mit sich riß, und immer mehr wurden ihrer; jeder Zweig verästelte sich ins Endlose, aus jeder Knotung schoß ein neuer Baum mit solcher Wucht des Wachstums, daß die Trümmer der wie ein Sieb durchlöcherten Kirche nach allen Seiten splitterten, dünne Aschen nach allen Windrichtungen stäubend. Jetzt ragte der Riesenbaum mit der Krone bis zu den Sternen empor. Sein Astwald war eine Wirrnis von Gliedern, Beinen, Armen, Bäuchen und Rümpfen. Frauenhaare hingen nieder, Männerköpfe sprengten die Rinde mit dem Getön aufbrechender Knospen. Ganz in der Höhe erfüllten die am Rand ihrer Nester hingeschmiegten Liebespaare die Luft mit dem Lustgetön, dem Hauch ihrer Fruchtbarkeit. Ein letztes Brausen des Sturmes, der die Kirche angefallen hatte, blies ihren Staub fort, Reste der Kanzel und des Beichtgestühles, die zerfallenen Heiligenbildwerke, zerschmolzenen Weihgefäße, den ganzen Schutt, gierig durchpickt von der Sperlingsschar, die vormals unter den Dachsparren nistete. Der große Christus, vom Kreuz gerissen, verfing sich eine Weile in den Haaren einer der treibenden Frauen, stob weiter, überschlug sich, verschwand in schwarzer Nächtlichkeit, die tosend über ihm zusammenschlug. Der Baum des Lebens stieß den Himmel ein und wuchs über die Sterne hinaus.
Der Abbé Mouret klatschte verdammniswild in die Hände bei diesem Anblick. Die Kirche war bezwungen. Gott hatte keine Wohnung mehr. In Zukunft würde Gott ihn nicht mehr stören. Er konnte sich Albine wieder einen, da sie triumphierte. Und wie er sich verlachte, der eine Stunde zuvor behauptet hatte, die Kirche schlänge die Erde in ihren Schatten! Die Erde rächte sich und verschlang die Kirche. Das irre Gelächter, das er ausstieß, ließ ihn aus seinen Wahnvorstellungen auffahren. Blöde starrte er in das langsam in Dämmerung versinkende Schiff. Sternbesäter Himmel sah durch Fenster herein. Er streckte die Arme aus und wollte die Mauern betasten, da erklang Desideratas rufende Stimme im Gang zur Sakristei:
»Sergius! Bist du da? Gib doch Antwort, seit einer guten halben Stunde suche ich dich.« Sie trat ein mit einer Lampe. Da sah der Priester, daß die Kirche immer noch aufrecht stand. Er begriff nicht mehr, schreckliche Zweifel scheuchten ihn, er wußte nicht, wer den Sieg davongetragen habe: die unbezwingbare Kirche, die aus der Asche erstand, oder Albine, die Gottes Allmacht erschütterte mit einem einzigen Anhauch.