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Täglich ließ sie ihn so, in den kühlen Stunden, am Fenster sitzen. An den Möbeln Halt suchend, begann er Gehversuche zu machen. Seine Wangen überflog rosiger Schein, und seine Hände verloren die wächserne Durchsichtigkeit. In dieser Genesungszeit aber erlahmten seine Sinne derart, daß er in pflanzliches Dahinleben neugeborener Kinder verfiel. Eine Pflanze war er, empfänglich nur für die umgebenden Lüfte. Er blieb in sich verschlossen, zu arm an Blut noch, um sich auszugeben; er wurzelte am Boden, um seinen Körper alle Säfte aufnehmen zu lassen. Eine zweite Empfängnis war es, ein langsames Auskriechen aus frühlingswarmem Ei. Albine, die sich gewisser Worte des Doktor Pascal erinnerte, stand große Ängste aus, wenn sie sehen mußte, wie er kindisch, stumpf und einfältig blieb. Sie hatte davon reden gehört, wie manche Krankheiten Wahnsinn als Heilung hinterließen. Und Stunden brachte sie damit zu, ihn zu beobachten. Wie die Mütter versuchte sie mit einem Lächeln ein Lächeln zu entlocken. Lachen konnte er noch nicht. Fuhr sie ihm mit der Hand vor den Augen vorüber, bemerkte er es nicht und verfolgte den Schatten nicht mit dem Blick. Kaum daß er, wenn sie mit ihm sprach, den Kopf leicht nach der Seite wandte, von der das Geräusch tönte. Einen einzigen Trost hatte sie: ein schönes Kind war er und wuchs prächtig.
Eine Woche verging in zarter Sorge. Geduldig erwartete sie sein Heranwachsen. In dem Maße, wie sie größere Lebhaftigkeit feststellen konnte, beruhigte sie sich und hoffte, daß die Zeit ihn wieder zum Manne wandeln würde. Ein leises Aufflackern war es, wenn sie ihn anrührte, dann, eines Abends kam ihm ein leises Lachen. Nachdem sie ihn am nächsten Tag ans Fenster gesetzt hatte, ging sie hinunter in den Garten, lief auf und nieder und rief ihn an. Sie verschwand unter Bäumen, durchkreuzte Sonnenstreifen, kam händeklatschend zurück. Es flimmerte ihm vor den Augen; vorerst sah er sie nicht. Als sie aber ihren Lauf wieder aufnahm und wiederum Versteck spielte, aus jedem Gebüsch rufend emportauchte, da begann sein Blick schließlich der Helligkeit ihres weißen Kleides zu folgen. Und als sie plötzlich unter dem Fenster stehenblieb und das Gesicht zu ihm hob, streckte er die Arme nach ihr aus und machte Miene, auf sie zuzugehen. Sie kam wieder herauf und küßte ihn voller Stolz.
»Ach, du hast mich gesehen, du hast mich gesehen! Nicht wahr, du möchtest gerne mit mir in den Garten gehen? Wenn du wüßtest, wie du mich seit einigen Tagen zur Verzweiflung bringst, weil du dich so dumm anstellst, nicht hören und sehen willst.«
Ängstlich bog er den Hals zur Seite und schien ihr zuzuhören mit einem Ausdruck leisen Leidens.
»Und doch geht es dir besser,« fuhr sie fort. »Wenn du willst, bist du jetzt kräftig genug, um herunterzukommen ... Warum redest du nicht mehr mit mir? Hast du denn die Sprache verloren? Ach, was für ein böser Junge! Ich werde ihn noch sprechen lehren müssen!«
Und wirklich belustigte sie sich damit, ihm die Namen der Gegenstände, die er berührte, zu nennen. Er gab nur ein Gestammel von sich, verdoppelte die Silben und sprach kein Wort deutlich aus. Immerhin begann sie ihn im Zimmer umherzuführen. Sie stützte ihn und brachte ihn so vom Bett zum Fenster. Eine weite Reise war es, zwei- oder dreimal fiel er fast hin auf dem Weg, worüber sie ins Lachen geriet. Einmal fiel er hin, und mit tausend Schwierigkeiten mußte sie ihn wieder aufheben. Dann ließ sie ihn das Zimmer umschreiten, auf Sofa, Sesseln und Stühlen ruhte er sich aus, und zum Umkreisen dieser kleinen Bahn gebrauchte man eine Stunde. Endlich konnte er das Wagnis unternehmen, einige Schritte allein zu tun. Sie stellte sich vor ihn mit ausgestreckten Händen und ging, seinen Namen rufend, zurück, so daß er das Zimmer durchschritt, um die Stütze ihrer Arme wieder zu erreichen. Wenn er schmollte und nicht gehen wollte, nahm sie ihren Kamm aus dem Haar und hielt ihn ihm wie ein Spielzeug hin. Dann kam er und holte ihn sich und spielte stundenlang in einem Winkel ruhig mit dem Kamm; leise fuhr er sich damit über die Hände.
Eines Morgens fand Albine Sergius auf den Füßen. Es war ihm schon gelungen, einen Laden aufzustoßen. Er machte Gehversuche, ohne sich an den Möbeln festzuhalten. »Seht mir einer den Mordskerl,« sagte sie lustig. »Morgen wird er aus dem Fenster springen, wenn man es dazu kommen läßt ... So sind wir also jetzt wieder ganz gesund?«
Sergius antwortete mit einem kindischen Lächeln, seine Glieder hatten jugendliche Gesundheit zurückgewonnen, ohne daß Gefühle und Bewußtsein in ihm erwachsen wären. Nachmittagelang saß er vor dem Paradeis wie ein schmollendes Kind, das alles weiß sieht und ohne zu verstehen, Geräusche in sich aufnimmt. Sein kindisches Unvermögen blieb ihm, sein Tastgefühl war noch so unentwickelt, daß er den Kleiderstoff Albinens nicht unterscheiden konnte vom Überzug des alten Sessels. Immer wieder gab es ein Verwundern mit weit offnen, verständnislos großen Augen, ein Zaudern vor jeder unsicheren Bewegung, ein Lebensbeginn war es, ein unbewußtes Sein außerhalb allen Erfassens der Umgebung. Der Mensch war noch nicht geboren.
»Gut, gut,« murmelte Albine, »spiel' nur den Dummen, wir werden schon sehen.«
Sie nahm ihren Kamm aus dem Haar und hielt ihn hin.
»Willst du meinen Kamm?« sagte sie.
Als sie ihn dann rückwärts gehend aus dem Zimmer gelockt hatte, umschlang sie ihn und stützte ihn bei jedem Schritt auf den Stufen. Sie unterhielt ihn durch allerhand Späßchen, wobei sie ihren Kamm wieder einsteckte, kitzelte ihn am Hals mit Haarspitzen, um zu verhindern, daß er sich seines Heruntergehens bewußt würde. Unten aber, ehe sie die Türe öffnete, fürchtete er sich im finsteren Treppenflur.
»Mach' die Augen auf!« rief sie. Weit öffnete sie die Türe. Es wurde hell; ein dunkler Schleier riß vor morgendlicher Tagesfröhlichkeit. Der Park breitete sich in durchsichtig klarer Grüne, tat seine Tiefen quellenfrisch auf. Entzückt hielt sich Sergius auf der Schwelle im zögernden Wunsch, den Fuß in diesem Lichtmeer zu netzen.
»Es sieht fast aus, als hättest du Angst, dir die Füße naß zu machen,« sagte Albine. »Nur zu, du bist auf festem Boden.« Er machte einen vorsichtigen Schritt und wunderte sich über die sanfte Festigkeit des Sandes. Dies erstmalige In-Berührung-Kommen mit der Erde gab ihm einen Stoß, durchbäumte ihn mit Leben, für Augenblicke richtete er sich auf, wuchs in die Höhe, atmete tief.
»Nur Mut,« wiederholte Albine. »Wie du weißt, versprachst du mir fünf Schritte zu machen. Wir gehen bis zu dem Maulbeerbaum unter dem Fenster ... Dort kannst du dich ausruhen.«
Eine Viertelstunde brauchte er zu den fünf Schritten. Bei jedem Schritt blieb er stehen, wie wenn er ihn am Boden haltende Wurzeln hätte ausreißen müssen. Während ihn das junge Mädchen vorwärts schob, sagte sie:
»Du siehst aus wie ein wandernder Baum.«
Mit dem Rücken lehnte sie ihn an den Maulbeerbaum, in den astübertropfenden Sonnenregen. Mit hängenden Armen wandte Sergius langsam den Kopf dem Park zu. Kindlich war er anzusehen, milchiger Jugendschimmer lag auf blassem, lichtgebadetem Grün. Kindhaft standen die Bäume, kindhaft blühte die Blumenhaut, die Wasser strahlten in Einfaltsbläue groß aufgeschlagen schöner Augen, unter jedem Blatt regte sich holdseliges Erwachen. Sergius' Blick verweilte bei einer gelbdurchglänzten Lichtung, die in breiter Allee sich vor ihm eröffnete, dicht umblättert; ganz am Ende, goldgetränktes Feld im Osten, schien die Lichtwiese zu sein, zu der die Sonne niederstieg; in Erwartung stand er und vermeinte, der Morgen müsse durch die Allee bis zu ihm rinnen. Er fühlte sein Kommen im lauen Wehen, schwach zuerst, kaum spürbar auf der Haut, dann nach und nach anschwellend und so kräftig, daß es ihn ganz durchbebte. Immer deutlicher schmeckte er sein Kommen in der gesunden Bitternis frischen Luftzuges, im Hauch angenehm aromatischer Süße fruchtherber Baummilch. Er sog sein Kommen ein mit allen wegentlang gesammelten Düften, dem Erdgeruch, dem Duft schattiger Wälder, erwärmter Pflanzen, dem Geruch lebenden Getiers, einen ganzen Strauß von Düften, deren Heftigkeit Schwindel erregte. Er hörte sein Kommen im leisen Flug des rasenüberstreifenden Vogels, allem Berührten verlieh er Stimme und ließ in seinem Ohr die Musik alles Belebten und Unbelebten aufklingen. Er sah ihn kommen aus den belebten Tiefen der Allee, von den goldtrunkenen Wiesen her, rosig und so voll Heiterkeit, daß sein Lächeln über den Weg hin leuchtete, in der Ferne zuerst wie ein helles Schimmern, dann in wenigen Sätzen Sonnenpracht selber. Und der Morgen überflutete den Maulbeerbaum, an dem Sergius lehnte.
Sergius kam zur Welt inmitten der Morgenkindheit.
»Sergius! Sergius!« rief Albines Stimme hinter den hohen Sträuchern des Blumengartens hervor. »Hab' keine Angst, ich bin da.«
Aber Sergius hatte keine Angst mehr. Im vollen Sonnenglanz kam er zur Welt, von reinem Licht umspült. Er kam zur Welt mit fünfundzwanzig Jahren, seine Sinne erwachten urplötzlich, der große Himmel, die glückliche Erde, die weiten Horizonte entzückten ihn. Der Garten, den er gestern noch nicht kannte, war ihm ein unerhörter Genuß. Alles erfüllte ihn mit Wonne, die feinsten Grashalme, sogar die Steine am Weg, bis auf den unsichtbaren Wind, der ihm die Wangen streichelte. Mit seiner ganzen Körperlichkeit ergriff er Besitz von diesem Stück Erde, nahm es ganz in sich auf; seine Lippen tranken es, seine Nüstern schnoben es ein; er bewahrte es in seinen Ohren, versteckte es auf dem Grund seiner Augen. Es gehörte ihm. Die Rosen im Garten, die hochschwebenden Äste, die aufstrebenden Baumstämme, klingenden Felsen, stürzenden Quellen, die lichtährenbestandenen Sonnenfelder, alles gehörte ihm. Dann schloß er die Augen, um sich die Lust zu verschaffen, sie langsam, langsam wieder zu öffnen, zum zweiten Male lichtfroh zu erwachen. Albine kam entsetzt angelaufen und sagte: »Die Vögel haben alle Erdbeeren aufgefressen. Da, nur die zwei haben sie übriggelassen.«
Aber sie hielt einige Schritte vor Sergius an und betrachtete ihn bewegten Herzens in entzücktem Erstaunen.
»Wie schön du bist,« sagte sie. Ganz versunken in seinen Anblick kam sie näher und murmelte:
»So habe ich dich nie gesehen.«
Er schien gewachsen zu sein. Aufrecht stand er in seinem weiten Anzug, schlank gewachsen, noch etwas mager, mit gewölbter Brust und runden Schultern. Sein weißer, am Nacken bräunlich schimmernder Hals bewegte sich frei und trug stolz den Kopf. Gesundheit, Kraft und Stärke malten sich auf seinem Antlitz. Die Züge ruhten, der sanfternste Mund, die festumrissenen Wangen, die große Nase, die sehr hellen gebietend grauen Augen; er lächelte nicht. Sein langes, den ganzen Schädel bedeckendes Haar fiel ihm in schwarzen Locken auf die Schultern. Leichter Bartflaum umkräuselte Lippen und Kinn über weißer Haut.
»Du bist schön, du bist schön!« wiederholte Albine, sich langsam vor ihm niederkauernd, und hob liebkosende Blicke zu ihm.
»Warum aber schmollst du jetzt mit mir? Warum redest du nicht mit mir?«
Er stand und gab keine Antwort. Sein Auge richtete sich in die Ferne, er sah fort über das Mädchen zu seinen Füßen, sagte vor sich hin in die Sonne:
»Wie das Licht gut ist!«
Es war, als ob diese Worte der Sonne selbst entbebten. Wie ein tönender Hauch, kaum ein Murmeln, verlauteten sie, ein Beben lebendiger Wärme.
Seit mehreren Tagen schon hatte Albine Sergius' Stimme nicht mehr gehört. Auch diese fand sie, wie ihn selbst, verändert. Es kam ihr vor, als vertönte sie im Park, süßer als Vogelschlag, zwingender als der zweigebiegende Wind. Gebieterisch war sie und königlich. Der ganze Garten hatte sie vernommen, war sie auch nur als Hauch vorübergeglitten, und der ganze Garten erzitterte in der Fröhlichkeit, die sie ihm bescherte.
»Sprich zu mir,« bat Albine. »Noch nie hast du mit dieser Stimme zu mir geredet. Oben im Zimmer, als du noch nicht verstummt warst, gabst du ein Kindeslallen von dir ... Woher kommt wohl, daß ich deine Stimme nicht wiedererkenne? Vorhin war mir, als sänge deine Stimme aus den Bäumen, als klinge der ganze Garten sie mir zu, als sei sie einer jener tiefen Seufzer, die mich in der Nacht ängstigten vor deinem Kommen ... Alles schweigt und will dich wieder sprechen hören.«
Er schien ihre Anwesenheit nicht zu bemerken. Noch zärtlicher sagte sie:
»Nein sprich nicht, wenn dich das ermüdet. Setz' dich neben mich. Wir wollen auf dem Rasen bleiben bis Mittag ... und sieh doch, nur zwei Erdbeeren habe ich gefunden. Und wie hab' ich mich angestrengt. Die Vögel fressen alles. Eine ist für dich, beide, wenn du willst; oder wir teilen sie, kosten von jeder... Du wirst danke sagen, und ich werde deine Stimme hören.«
Er wollte nichts von dem Rasen und den Erdbeeren wissen, die Albine verächtlich fortwarf. Auch sie tat den Mund nicht mehr auf. Lieber hätte sie ihn krank gesehen wie in den ersten Tagen, als sie ihm die Hand unter den Kopf schob und ihn wieder aufleben fühlte unter dem Hauch, mit dem sie sein Antlitz kühlte. Sie verwünschte die Gesundheit, die ihn jetzt sich in der Sonne aufrichten ließ mit der Gleichgültigkeit einer jungen Gottheit. Würde er weiterhin keine Augen für sie haben? Würde er nicht so weit gesund werden, daß er sie zu sehen und lieben vermöchte? Und sie erträumte sich, seine Heilung zu werden und einzig durch die Macht ihrer kleinen Hände diese Kur einer zweiten Geburt zu vollenden. Seinen grauen Augen mangelte es an wirklichem Leben, sie sah es wohl, und seine Schönheit war starr wie die der umgestürzten Steinfiguren unter den Nesseln des Blumengartens. Da stand sie auf, umschlang ihn wieder und blies ihm in den Nacken, um ihn aufzuwecken. An diesem Morgen aber wurde sich Sergius dieses Atems, unter dem sein seidiger Bartflaum zitterte, nicht einmal bewußt. Es war Mittag, sie mußten zurück ins Haus.
Oben im Zimmer weinte Albine.
Von diesem Morgen an unternahm der Genesende alle Tage einen kurzen Spaziergang im Garten. Er ging am Maulbeerbaum vorüber, bis zum Rande der Terrasse vor der großen Treppe, deren zerbrochene Stufen zum Blumengarten hinabführten. Er gewöhnte sich an die frische Luft. Jedes Baden in der Sonne ließ ihn mehr erblühen. Ein junger Kastanienbaum, der aus einem Samenkorn emporgeschossen war, das sich zwischen die Steinplatten der Balustrade verirrt hatte, sprengte seine Knospenharze, entfaltete seine Blattflächer weniger ungestüm als das Aufleben Sergius' Fortschritte machte. Eines Tages wollte er sogar die Treppe hinuntersteigen, er hatte seine Kräfte aber überschätzt und ließ sich auf einer Stufe nieder, inmitten von Mauerkraut, das aus Ritzen herauswuchs. Unten auf der linken Seite sah er ein kleines Rosengehölz. Bis dahin zu gelangen, war sein Traum.
»Warte noch ein wenig,« sagte Albine. »Der Rosenduft ist noch zu stark für dich. Nie habe ich mich unter die Rosen setzen können, ohne daß mich nicht ein Gefühl der Ermattung überfallen hätte, der Kopf schwindelte mir und eine süße Lust zu weinen kam mich an... Meine Hand darauf, ich werde dich zu den Rosen führen, und weinen werde ich auch, denn du machst mir großen Kummer.«