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Bruder Archangias aß jeden Donnerstag in der Pfarre. Gewöhnlich kam er schon frühzeitig, um über Pfarreiangelegenheiten zu reden. Er war es, der den Abbé seit drei Monaten auf dem laufenden hielt und über das ganze Tal aufklärte. An diesem Donnerstag gingen sie, in Erwartung des Rufes zu Tisch, mit kleinen Schritten vor der Küche auf und ab. Der Priester war sehr erstaunt, als der Bruder nach Wiedergabe seiner Unterredung mit Bambousse die Antwort des Bauern ganz verständlich zu finden schien.
»Recht hat er, der Mann,« sagte der Bruder. »Man vergeudet sein Eigentum nicht so ... Die Rosalie ist nicht viel wert; aber es ist immer hart, mit ansehen zu müssen, wie die eigene Tochter sich einem Bettler nachwirft.«
»Immerhin«, fuhr der Abbé Mouret fort, »kann doch nur die Heirat dies Ärgernis aus der Welt schaffen.«
Der Bruder zuckte die klobigen Achseln und lachte höhnisch.
»Bilden Sie sich nur nicht ein, daß Sie mit dieser Heirat irgendeine Änderung schaffen im Land. Noch vor zwei Jahren ist die Kathrine trächtig, folgen die andern, alle kommen so weit. Vom Augenblick an, wo man sie verheiratet, machen sie sich lustig über alles. Die Leute vom Artaud wachsen und gedeihen in ihren ungeregelten Beziehungen wie in ihrem eigensten Mistbeet. Nur ein Gegenmittel gibt es, hab' ich Ihnen gesagt; man muß den Weibern den Hals umdrehen, wenn man will, daß das Land nicht vergiftet wird ... Keinen Ehemann sollte man ihnen geben, sondern Stockprügel, Herr Pfarrer, Stockprügel.«
Er beruhigte sich und fuhr fort:
»Lassen wir jeden sein Gut verwalten nach eigenem Ermessen.«
Und er sprach davon, die Katechismusunterweisungen neu einzuteilen. Der Abbé Mouret gab ihm zerstreute Antworten. Er betrachtete das Dorf zu seinen Füßen, beglänzt von der untergehenden Sonne. Die Bauern kehrten heim, schweigsame Männer, die langsam daherkamen mit dem Gang von Lastochsen, die zum Stall zurückfinden. Vor den Häusern stehende Frauen stießen Rufe aus, unterhielten sich laut von einer Türe zur anderen, während Rudel von Kindern, sich prügelnd, wälzend und überkugelnd, die Straße mit Schuhgeklapper erfüllten. Ausdünstung von Menschen stieg auf von diesem Haufen baufälliger Häuser. Der Priester fühlte sich immer noch in Desideratas Hof vor dem sich rastlos mehrenden Tiergewimmel. Hier fand er die gleiche Zeugungshitze, die gleichen unaufhörlichen Paarungen, die sein Gefühl beunruhigten.
Seit morgens in Rosaliens Schwangerschaftsgeschichte verstrickt, bedachte er zu guter Letzt die Umstände, den Schmutz des Lebens, die fleischliche Bedrängnis, die unvermeidliche Fortpflanzung der Art, die Menschen sät wie Getreidekörner. Die Leute vom Artaud waren wie eine Herde, zwischen vier den Horizont begrenzende Hügel eingepfercht, zeugend, sich ausbreitend über die Scholle, weiter und weiter bei jedem Wurf der Weibchen.
»Halt, sag' ich's nicht,« schrie Bruder Archangias und unterbrach sich, um auf ein großes Mädchen aufmerksam zu machen, das sich von ihrem Schatz hinter einem Busch küssen ließ. »Da haben wir wieder so eine liederliche Dirne!«
Er fuchtelte so lange mit seinen langen schwarzen Armen, bis das Pärchen vertrieben war. Weithin über das rote Gelände, die kahlen Felsen brünstete die sterbende Sonne letztes Feuerflammen. Mählich kam die Nacht. Der warme, weiche Lavendelduft erfrischte sich, von leise erwachenden Winden getragen. Wie ein großes Seufzen klang es von Zeit zu Zeit, als käme dieses verscheidende, von Leidenschaft ganz verglühte Erdenland endlich zur Ruhe im grauen Rieseln der Dämmerung.
Der Abbé Mouret, den Hut in der Hand, froh der Kühle, fühlte Schattenfrieden über sich gleiten.
»Herr Pfarrer! Bruder Archangias!« rief die Teusin. »Schnell! Die Suppe ist da.«
Es gab eine Kohlsuppe; kräftig durchdampfte sie das Eßzimmer der Pfarrei.
Der Bruder setzte sich und löffelte bedächtig den Riesenteller leer, den die Teusin vor ihn hingestellt hatte. Er aß viel mit gurgelnden Kehllauten, aus denen man vernehmen konnte, wie die Speisen in den Magen trafen. Er richtete den Blick fest auf den Löffel und sagte kein Sterbenswort.
»Ist meine Suppe etwa nicht gut, Herr Pfarrer?« fragte die alte Dienerin. »Sie sitzen so da und rühren in Ihrem Teller.«
»Ich habe gar keinen Hunger, meine gute Teuse,« antwortete der Priester lächelnd.
»Ei der Tausend, das ist nicht zum Verwundern, wenn man so drauflos lebt!... Sie hätten schon Hunger, wenn sie nicht erst nach zwei Uhr gefrühstückt hätten.«
Bruder Archangias sagte gefaßt, nachdem er in seinen Löffel das wenige Suppengetropf vom Boden des Tellers geschüttet hatte:
»In seinen Mahlzeiten muß man regelmäßig sein, Herr Pfarrer.«
Währenddessen stand Desiderata auf und ging der Teusin nach in die Küche; auch sie hatte, ohne zu reden, ernsthaft ihre Suppe gelöffelt. Der Bruder, mit dem Abbé allein geblieben, schnitt sich lange Stücke Brot, die er schluckte in Erwartung des Kommenden.
»So sind Sie also heute weit herumgekommen?« fragte er.
Dem Priester blieb keine Zeit zur Antwort. Vom Hausgang an der Hofseite her vernahm man ein Geräusch von Schritten, Ausrufe, klingendes Gelächter. Dann tönte es wie ein kurzes Streiten. Eine trillernde Stimme, die den Abbé beunruhigte, ereiferte sich, redete hastig und verlor sich in einem Sturm von Heiterkeit.
»Was gibt es da?« sagte er und erhob sich von seinem Stuhl.
Desiderata war mit einem Satz im Zimmer zurück. Sie versteckte etwas unter ihrem umgeschlagenen Rock. Aufgeregt sagte sie:
»Wie drollig sie ist! Sie wollte nicht hereinkommen. Ich habe sie festgehalten am Kleid, aber sie hat tüchtige Kräfte und ist mir davongelaufen.«
»Von wem spricht sie?« erkundigte sich die Teusin, die aus der Küche gelaufen kam mit einer Kartoffelspeise, über der ein Stück Speck lag.
Das junge Mädchen hatte sich gesetzt. Mit unendlichen Vorsichtsmaßregeln zog sie unter ihrem Rock ein Amselnest hervor, in dem drei junge Amseln schliefen. Kaum erblickten die Vogeljungen das Licht, reckten sie ihre zarten Hälse und öffneten verlangend die blutroten Schnäblein. Desiderata klatschte begeistert in die Hände in außerordentlicher Erregung angesichts dieser ihr fremden Tierchen.
»Das Mädchen aus dem Paradeis war es!« rief der Abbé aus, dem plötzlich die Erinnerung kam.
Die Teusin war ans Fenster gegangen.
»Wahrhaftig, an ihrer Grillenstimme hätte ich sie erkennen sollen... Oh! die Zigeunerin. Seht nur, da hinten steht sie noch und spioniert uns aus.«
Der Abbé Mouret trat herzu. In der Tat war es ihm, als sähe er hinter einem Wacholderstrauch Albines orangefarbenen Rock aufleuchten.
Aber Bruder Archangias hob sich wild hinter ihm, drohte mit Fäusten, schüttelte sein grimmiges Haupt und donnerte:
»Der Teufel soll dich holen, Banditengeschmeiß. Bei den Haaren werde ich dich um die Kirche schleifen, fang' ich dich hier bei deinen Hexereien!«
Ein Gelächter, frisch wie nächtliche Lüfte, stieg vom Feld aus auf.
Dann hörte man ein leichtfüßiges Laufen und das Gleiten eines Kleides über Gras, wie ein Schlangenrieseln. Der Abbé Mouret, am Fenster stehend, folgte mit dem Blick einer Blondheit, die zwischen Föhrenstämmen wie Mondschein leuchtete. Von den Wiesen wehte es ihn an, erfüllt mit dem zwingenden Duft des Laubes, dem Duft wilder Blumen, den Albine ihren nackten Armen, ihrer bewegten Büste, ihren entfesselten Haaren entwallen ließ.
»Verfluchte Tochter der Verdammnis!« grollte dumpf Bruder Archangias und setzte sich wieder an den Tisch.
Gierig aß er seinen Speck und verschlang, anstatt des Brotes, Kartoffeln in ganzen Stücken. Die Teusin vermochte Desiderata durch nichts zum Essen zu bewegen. Das große Kind blieb in Verzückung vor dem Amselnest, fragte, was die wohl fräßen, ob sie wohl Eier legten, woran man die Männchen erkennen könne bei diesen Tieren.
Aber die alte Dienerin durchfuhr es wie ein Verdacht. Sie stützte sich auf ihr gesundes Bein und sah dem jungen Pfarrer in die Augen.
»Sie kennen also die Leute im Paradeis,« fragte sie.
Da berichtete er einfach wahrheitsgetreu seinen Besuch beim alten Jeanbernat. Die Teusin wechselte Entrüstungsblicke mit Bruder Archangias. Zuerst sagte sie nichts. Sie wackelte um den Tisch mit wütendem Gehumpel und Absatzgetrampel zum Bodenbersten.
»Sie hätten mir ganz gut von diesen Menschen reden können in diesen drei Monaten,« sagte endlich der Priester, »dann hätte ich wenigstens gewußt, wen ich aufsuchte.«
Die Teusin blieb regungslos stehen, als ob die Füße ihr versagten.
»Lügen Sie nicht, Herr Pfarrer, lügen Sie nicht,« stammelte sie endlich, »das erschwert noch die Sünde ... Wie können Sie es wagen, mir zu sagen, ich habe Ihnen nie vom Philosophen gesprochen, dem Heiden, der das Ärgernis der ganzen Landschaft ist! Wahr ist, daß Sie mir niemals zuhören, wenn ich Ihnen etwas sage. Bei einem Ohr herein, beim anderen heraus ... Ach, wenn Sie auf mich hören wollten, würden Sie sich manches Ungemach ersparen!«
»Auch ich habe Ihnen ein Wörtlein gesagt bezüglich dieser Greuel,« versicherte der Bruder.
Der Abbé Mouret zuckte leicht mit den Achseln.
»Nun, ich habe nicht mehr daran gedacht,« fuhr er fort. »Erst im Paradeis entsann ich mich dunkel, allerhand Geschichten gehört zu haben ... Übrigens hätte ich unter allen Umständen den Armen besucht; er war, wie ich glaubte, in Todesgefahr.«
Bruder Archangias, mit vollem Mund, stieß das Messer heftig auf den Tisch und schrie:
»Jeanbernat ist ein Hund; wie ein Hund soll er verrecken.«
Als er der Miene des Priesters Widerspruch ansah, schnitt er ihm das Wort ab.
»Nein, nein, für ihn ist Gott nicht da, keine Buße, keine Gnade – Es wäre besser, die Hostie den Schweinen vorzuwerfen, als sie zu diesem Schelm zu tragen.«
Er nahm sich nochmals Kartoffeln, stützte die Ellbogen auf den Tisch und kaute wie rasend, das Kinn dicht am Teller. Die Teusin begnügte sich mit eingekniffenen Lippen, weiß vor Wut, zu sagen:
»Lassen Sie ihn doch, der Herr Pfarrer will nur nach seinem eigenen Kopf handeln, der Herr Pfarrer hat Geheimnisse vor uns.«
Ein schweres Schweigen lagerte sich. Eine kurze Spanne Zeit hörte man nur das Kaugeräusch des Bruders und seine sonderbaren Schlucktöne. Desiderata legte ihre nackten Arme um das Amselnest auf ihrem Teller; sie neigte das Antlitz darüber, lächelte den Jungen zu, sprach lang zu ihnen, ganz leise ... in einem ihr eigenen Gezwitscher, das sie zu verstehen schienen.
»Man sagt, was man tut, wenn man nichts zu verbergen hat,« schrie die Teusin plötzlich. Dann wieder Schweigen. Daß der Priester ihr seinen Besuch anscheinend hatte geheimhalten wollen, brachte die alte Dienerin außer sich. Sie betrachtete sich als schändlich hintergangene Frau. Ihre Neugier war tief getroffen. Sie umkreiste den Tisch, sah den Priester nicht an, richtete an niemand das Wort, machte sich Luft, ganz für sich:
»Jawohl, darum ißt man so spät! ... Man macht sich davon ohne ein Wort und führt ein Bummelleben bis um zwei Uhr nachmittags. Man geht in derartig verrufene Häuser, daß man nachher nicht einmal den Mut hat, von seinen Erlebnissen zu erzählen. Man lügt und hintergeht seine Mitmenschen ...«
»Aber,« unterbrach sanft der Abbé Mouret, der sich Mühe gab, weiter zu essen, um die Teusin nicht noch mehr aufzubringen. »Niemand hat mich gefragt, ob ich im Paradeis gewesen sei; ich hatte es gar nicht nötig, zu lügen.«
Die Teusin fuhr fort, als habe sie nichts gehört:
»Man läßt seine Sutane nicht im Staub verkommen und schleicht sich heim wie ein Dieb. Und wenn eine wohlmeinende Person, der an einem liegt, einen zu seinem Besten ausfragt, stößt man sie zurück, behandelt sie als Nichtswürdige, die kein Vertrauen verdient. Man tut heimlich wie ein Falschspieler; man stürbe lieber, als daß man eine Silbe äußerte; man hat nicht einmal Aufmerksamkeit genug für seine Häuslichkeit, von seinen Erlebnissen erzählen zu wollen.«
Sie drehte sich zu dem Priester, sah ihm ins Gesicht. »Ja, Ihnen sage ich das alles ... Ein Geheimniskrämer sind Sie, ein schlimmer Mensch!«
Sie begann zu weinen. Der Abbé mußte sie trösten.
»Der selige Herr Caffin besprach alles mit mir,« wimmerte sie. Dann beruhigte sie sich. Bruder Archangias verschlang ein großes Stück Käse, ohne auch nur im geringsten von dieser Szene berührt zu werden. Nach seiner Meinung tat es dem Abbé Mouret gut, mit fester Hand geführt zu werden; die Teusin tat wohl daran, ihn die Zügel spüren zu lassen. Er leerte ein letztes Glas Kretzer, warf sich zurück in seinen Stuhl und verdaute.
»Was haben Sie denn nun zu sehen bekommen im Paradeis,« fragte die alte Magd, »erzählen Sie uns das wenigstens.«
Der Abbé Mouret schilderte mit wenigen Worten den sonderbaren Empfang, der ihm bei Jeanbernat wurde. Die Teusin stieß in einem Sturm von Fragen Entrüstungsrufe aus. Bruder Archangias ballte die Fäuste und schüttelte sie.
»Der Himmel soll über ihm einstürzen!« sagte er. »Brennen sollten sie alle beide, er und seine Hexe!«
Der Abbé versuchte seinerseits nun Einzelheiten über die Bewohner des Paradeis zu erfahren. Mit gespannter Aufmerksamkeit lauschte er dem Bruder, der Ungeheuerlichkeiten auskramte.
»Ja, und diese Satansbrut ist eines morgens zur Schule gekommen. Es ist schon lange her; sie war ungefähr zehn Jahre alt. Ich ließ sie gewähren; ich dachte, ihr Onkel schickte sie zur ersten Kommunion. Zwei Monate unterwühlte sie die Klasse. Sie ließ sich anschwärmen, die Lumpenprinzessin! Spiele wußte sie, allerhand Tand erfand sie aus Blättern und Stoffetzen. Und gescheit dabei, wie alle diese Höllenausgeburten ... Da eines Morgens bricht der Alte in die Schule ein. Er wollte alles kurz und klein schlagen, brüllte, die Pfaffen hätten ihm das Kind entführt. Der Feldhüter mußte kommen und ihn hinauswerfen. Die Kleine war ausgekniffen. Vom Fenster aus konnte ich sie in einem gegenüberliegenden Feld erblicken ... Sie war auf eigene Faust zur Schule gekommen, ohne daß er eine Ahnung davon gehabt hätte. Haarsträubende Geschichte!«
»Nie ist sie zur ersten Kommunion gegangen,« äußerte die Teusin halblaut mit einem leichten Schauder.
»Nein, niemals,« wiederholte Bruder Archangias. »Sechzehn Jahre muß sie jetzt sein. Wie ein Tier wächst sie auf. Auf allen Vieren habe ich sie laufen sehen in einem Dickicht bei Palud.«
»Auf allen Vieren,« flüsterte die Dienerin und wandte sich besorgt zum Fenster.
Der Abbé Mouret wollte einem Zweifel Ausdruck geben; der Bruder fuhr auf.
»Jawohl, auf allen Vieren! Und sie machte Sprünge wie eine Wildkatze mit bis übers Knie aufgeschürzten Röcken. Ich hätte sie schießen können, wäre ein Gewehr zur Hand gewesen. Man bringt Tiere um, die Gott wohlgefälliger sind ... Und dazu weiß man wohl, daß sie allnächtlich das Artaud ummauzt. Sie gibt Töne von sich wie eine läufige Katze. Wenn ihr jemals ein Mann in die Krallen kommt, die da wird ihm sicherlich keinen Fetzen Fleisch auf den Knochen lassen.«
Sein ganzer Frauenhaß kam zum Vorschein, seine Faust krachte auf den Tisch; er stieß seine gewohnheitsmäßigen Schimpfereien aus:
»Der Teufel steckt in ihnen. Der Teufel stinkt aus ihnen; überall, an Beinen, Armen, Leib. Das ist es, was die Dummköpfe bezaubert.«
Der Priester stimmte ihm durch Nicken bei. Die Heftigkeit Bruder Archangias', die geschwätzigen Vergewaltigungen der Teusin waren ihm wie Geißelhiebe, denen seine Schultern willig sich boten. Es verursachte ihm fromme Freude, wenn er sich in Niedrigkeiten vergrub, in die Roheit der Einfachen. Es schien ihm, Himmelsfrieden erwarte ihn in dieser Weltverachtung, in dieser Erniedringung seines ganzen Seins. Es beglückte ihn, seinem Körper diese Mißhandlung zuzufügen, tat ihm wohl, seine zarten Anlagen durch diese Gosse zu schleifen.
»Alles Irdische ist Unrat,« flüsterte er und faltete seine Serviette.
Die Teusin deckte den Tisch ab. Sie wollte den Teller abnehmen, auf den Desiderata das Amselnest gelegt hatte.
»Sie werden da doch nicht schlafen, Fräulein Desiderata,« sagte sie. »Was haben Sie nur mit den garstigen Tieren?«
Desiderata hingegen verteidigte den Teller, schützte ihn mit ihren bloßen Armen; sie lachte nicht mehr und ärgerte sich über die Störung.
»Man wird doch diese Vögel nicht behalten wollen, hoffe ich,« rief Bruder Archangias aus. »Das brächte Unglück... Den Hals muß man ihnen umdrehen.«
Und schon streckte er seine großen Hände aus. Das junge Mädchen sprang auf, trat bebend zurück und drückte das Nest fest an sich. Sie starrte den Bruder an mit aufgeschürzten Lippen, dem Ausdruck einer kampfbereiten Wölfin.
»Rühren Sie die Tierchen nicht an,« stammelte sie. »Wie häßlich Sie sind.«
Sie betonte dies Wort so seltsam verächtlich, daß es den Abbé Mouret zusammenfahren ließ, als ob die Häßlichkeit des Bruders ihm zum ersten Male deutlich würde. Dieser beschränkte sich darauf, ein Gebrumm auszustoßen. Er nährte einen dumpfen Haß gegen Desiderata, deren tierhaft schönes Wachstum ihm zuwider war.
Nachdem sie das Zimmer verlassen hatte, rückwärts, gehend und ohne ihn aus den Augen zu lassen, zuckte er die Schultern und zerbiß zwischen den Zähnen ein zotiges Wort, das niemand verstand.
»Es ist besser, sie geht schlafen,« sagte die Teusin, »in der Kirche nachher könnte sie uns stören.«
»Ist jemand gekommen?« fragte der Abbé Mouret.
»Eine ganze Weile schon sind die Mädchen draußen, mit Armen voll Grünzeug... Ich stecke die Lampen an. Wir können gleich anfangen, wenn Sie wollen.«
Einige Sekunden später hörte man sie in der Sakristei fluchen über die feuchten Streichhölzer. Bruder Archangias, mit dem Priester allein, erkundigte sich in verdrießlichem Ton:
»Für den Marienmonat?«
»Ja,« antwortete der Priester, »in den letzten Tagen konnten die Dorfmädchen wegen Arbeitsüberlastung nicht kommen, wie es der Brauch ist, um die Kapelle der Jungfrau zu schmücken. Die Zeremonie wurde auf heute abend verschoben.«
»Ein alberner Brauch,« krächzte der Bruder. »Wenn ich mit ansehen muß, wie sie ihre Zweige niederlegen, hab' ich Lust, sie auf die Knie zu zwingen, damit sie ihre Abscheulichkeiten wenigstens beichten, ehe sie den Altar berühren. Zu dulden, daß Frauen ihre Kleider in Berührung bringen mit den heiligen Reliquien, ist schändlich.«
Der Abbé machte eine entschuldigende Bewegung. Er war seit kurzem erst im Artaud, so mußte er den Gebräuchen folgen.
»Paßt es Ihnen jetzt, Herr Pfarrer?« rief die Teusin.
Bruder Archangias hielt ihn noch einen Augenblick zurück.
»Ich gehe,« redete er weiter. »Die Religion ist keine Dirne, die verlangt, daß man sie in Blumen und Spitzen hüllt.«
Er schritt langsam zur Türe. Blieb nochmals stehen, hob einen behaarten Zeigefinger und fügte hinzu:
»Hüten Sie sich vor Ihrer Andacht zur Jungfrau.«
In der Kirche fand der Abbé Mouret eine Zehnzahl großer Mädchen vor, die Olivenzweige, Lorbeer und Rosmarin trugen. Da Gartenblumen in den Felsen des Artaud kaum erblühten, war es Sitte, den Altar der Jungfrau mit haltbarem Grün auszuschmücken, das den Maimonat überdauerte. Die Teusin fügte Berglevkoien bei, deren Stiele in alten Glaskrügen weichten.
»Wollen Sie mich machen lassen, Herr Pfarrer?« fragte sie. »Sie sind es noch nicht gewohnt... Da, stellen Sie sich vor den Altar. Dann können Sie mir sagen, ob die Ausschmückung Ihnen gefällt.«
Er willigte ein, und so war in Wirklichkeit sie es, die das Ganze leitete. Sie war auf einen Schemel gestiegen und fuhr die großen Mädchen, die mit ihren Zweigen nacheinander vortraten, an:
»Nicht so schnell doch! Laßt mir doch Zeit, die Zweige anzubinden. Damit nicht all das Gestrüpp dem Herrn Pfarrer auf den Kopf fallen kann ... Nanu! Babette, du bist an der Reihe. Stier mich nur an mit deinen Glotzaugen. Hübsch sieht er aus, dein Rosmarin! Er ist gelb, wie die Disteln. Als ob alle Schindmähren der Gegend drauf gepißt hätten! ... Nun du, Fuchsige, dein Lorbeer ist wenigstens schön! Der kommt sicher von eurem Feld am Grünkreuz.«
Die großen Mädchen legten ihre Zweige auf den Altar, den sie küßten. Sie blieben einen Augenblick am Altar und reichten der Teusin die Zweige, und der verlogene Ausdruck von Sammlung, den sie angenommen hatten, um die Stufen zu ersteigen, verlor sich nach und nach; am Schluß kicherten sie, stießen sich mit den Knien, bogen die Hüften über den Altarrand und zerdrückten die Brust ohne Scheu am Sakramentshäuschen. Über ihnen neigte die große Jungfrau aus vergoldetem Gips ihr gemaltes Gesicht, lächelte mit rosigen Lippen den kleinen, splitternackten Jesus an, den sie auf dem linken Arm hielt.
»So ist's recht, Lisa!« rief die Teusin, »setz dich nur ganz auf den Altar. Willst du wohl deine Röcke herunterziehen, zeigt man so seine Beine!... Keine soll sich einfallen lassen, sich zu rekeln! Ich schlage ihr diese Zweige um die Ohren... Könnt ihr euch nicht anständig aufführen?«
Und sich umwendend:
»Gefällt es Ihnen so, Herr Pfarrer? Finden Sie, daß es so geht?«
Sie wölbte hinter der Jungfrau eine grüne Nische mit kleinem, überstehendem Blattwerk, das eine Wölbung, bildete und palmenartig niederfiel. Der Priester sagte ein lobendes Wort und erlaubte sich eine Bemerkung:
»Ich glaube,« murmelte er, »oben müßte ein Strauß zarteren Grüns sein.«
»Selbstverständlich,« knurrte die Teusin. »Lorbeer und Rosmarin bringen sie mir... Wer von euch hat Olivenzweige? Nicht eine, geht mir zu! Angst haben sie, die Heidinnen, ein paar Oliven könnten verloren gehen!«
Da stieg Katharina die Stufen empor mit einem riesigen Olivenzweig, unter dem sie fast verschwand.
»Oh, du hast ja genug, Mädel,« fing die Alte wieder an.
»Ach Gott,« sagte eine Stimme, »gestohlen hat sie ihn. Ich habe Vinzenz beim Abreißen des Zweiges gesehen, sie hielt Wache.«
Katharina, in Wut, schwur, das sei gelogen. Ohne ihren Zweig loszulassen, hatte sie sich umgedreht und reckte ihren braunen Kopf aus dem Blätterwerk, das sie trug; sie log mit außerordentlicher Gewandtheit und erfand eine lange Geschichte, um zu beweisen, der Olivenzweig stammte wirklich von ihr.
»Und überhaupt,« schloß sie, »alle Bäume gehören der heiligen Jungfrau.«
Der Abbé Mouret wollte sich einmischen. Aber die Teusin fragte, ob man sie zum besten haben wolle, daß man sie so lange stehen ließe, mit den Armen in der Luft. Sie befestigte den Olivenzweig gründlich, indessen Katharina sich auf den Schemel schwang und hinter ihrem Rücken die angestrengten Gebärden nachäffte, mit denen sie ihre ungeheuerliche Masse mit Hilfe des gesunden Beines umherwälzte; selbst der Priester mußte lächeln.
»So,« sagte die Teusin, kletterte herunter und trat an seine Seite, um ihr Werk zu begutachten; »das Obere wäre fertig... Jetzt wollen wir darangehen, Büschel zwischen die Leuchter zu stecken, im Falle Sie nicht Girlanden vorziehen, die sich die Stufen entlang ziehen.«
Der Priester entschied sich für große Sträuße.
»Immerzu, rührt euch,« schnob die Alte wieder los, neuerdings auf dem Schemel. »Hier soll nicht geschlafen werden ... Willst du wohl den Altar küssen, Mette! Du glaubst wohl, du bist in eurem Stall? Herr Pfarrer, sehen Sie doch, was die da hinten treiben. Sie lachen wie die Blöden.«
Eine der zwei Lampen wurde in die Höhe gehoben, der dunkle Kirchenwinkel aufgehellt. Unter der Galerie belustigten sich drei große Mädchen damit, einander herumzustoßen; eine war mit dem Kopf in das Weihwasserbecken gefallen, was die anderen derart zum Lachen brachte, daß sie sich auf die Erde fallen ließen, um sich nach Herzenslust auszulachen. Sie kamen hervor, sahen den Pfarrer verstohlen an, ließen sich beglückt ausschelten, standen mit hängenden Armen, die ihnen an die Schenkel schlugen.
Dies aber brachte die Teusin gründlich auf, sie gewahrte plötzlich Rosalie, die wie die anderen zum Altar heraufstieg mit ihren Ästen.
»Hinunter mit dir,« schrie sie, »an Frechheit mangelt es dir nicht, mein Töchterchen! ... Nur zu, etwas eilig, mach', daß dein Gemüse verschwindet.«
»Nun, warum nicht gar!« meinte Rosalie unverschämt. »Man wird mich doch vielleicht nicht im Verdacht haben, es gestohlen zu haben.«
Die großen Mädchen drängten herzu, stellten sich dumm und tauschten glänzende Blicke.
»Mach', daß du fortkommst,« wiederholte die Teusin, »du gehörst nicht her, verstehst du mich!«
Dann verlor sie ihr weniges an Geduld und sagte ein sehr starkes Wort, das zufriedenes Gelächter unter den Bauernmädchen entfesselte.
»Nun, und?« sagte Rosalie. »Wissen Sie etwa, was die anderen tun? Sie sind nicht nachsehen gegangen, nicht wahr?«
Und sie glaubte in Tränen ausbrechen zu müssen, warf die Zweige hin und ließ sich einige Schritte vom Abbé Mouret beiseite führen, der sehr streng mit ihr sprach. Er hatte den Versuch gemacht, die Teusin zum Schweigen zu bringen; es begann ihm ungemütlich zu werden inmitten der kecken Schar großer Mädchen, die sich in die Kirche drängten mit ihren grünen Wedeln. Bis vorne zum Altar hin standen sie, umgaben ihn als lebendiger Wald, der den kräftigen Hauch duftender Hölzer ihm zutrug wie ein Wehen von dem Gliedergefüge stark arbeitender Frauen.
»Beeilen wir uns, beeilen wir uns,« sagte er und klatschte leicht in die Hände.
»Tausend! Ich wär' auch lieber in meinem Bett,« murrte die Teusin, »Sie glauben wohl, daß es bequem ist, all dies Gestänge festzubinden!«
Indessen wurde sie damit fertig, zwischen den Leuchtern hohe Sträuße aus Grün festzuknüpfen. Dann klappte sie den Schemel zusammen, den Katharina hinter den Hochaltar trug. Jetzt galt es nur noch dichte Gebüsche zu beiden Seiten des Altartisches aufzurichten. Die letzten grünen Garben genügten für diesen kleinen Pflanzenstand; es blieben sogar Zweige übrig, mit denen die Mädchen den Boden bestreuten bis vor die hölzerne Balustrade. Der Altar der Jungfrau war anzusehen wie ein froher Hain, eine grün umbuschte Waldnische mit grünendem Rasen davor.
Die Teusin war jetzt bereit, dem Abbé Mouret ihren Platz einzuräumen. Dieser stieg zum Altar empor und klatschte nochmals leicht in die Hände.
»Meine Damen,« sagte er, »wir fahren morgen fort mit den Exerzitien des Marienmonats. Die am Kommen verhindert sind, müssen wenigstens für sich den Rosenkranz beten.«
Er kniete nieder, die Bauernmädchen sanken mit viel Röckerauschen auf die Erde, setzten sich auf ihre Hacken und begleiteten sein Gebet mit unbestimmtem Geplapper, aus dem Gelächter brach. Ein Gequiek ließ sich vernehmen, das durch einen Hustenanfall verdeckt werden sollte; dies gab Anlaß zu derartiger Heiterkeit, daß alle sich nach dem Amen vor Lachen wanden, mit den Nasen fast auf den Fliesen, ohne die Kraft aufzustehen.
Die Teusin entließ die Schlimmen, während der Priester sich bekreuzte und vertieft vor dem Altar stand, als höre er nicht mehr, was sich hinter ihm zutrug.
»Vorwärts, macht jetzt, daß ihr fortkommt,« knurrte sie. »Eine nichtsnutzige Bande seid ihr, die nicht einmal vor dem lieben Gott Respekt hat. Eine Schande ist es, noch nicht dagewesen, Mädchen, die sich in der Kirche auf der Erde wälzen wie unvernünftige Tiere auf der Weide. Was treibst du da hinten, Fuchsige? Wenn ich sehe, daß du eine kneifst, bekommst du's mit mir zu tun! Ja, ja, streck' mir nur die Zunge heraus; ich sage alles dem Herrn Pfarrer. Fort, weg mit euch liederliches Gesindel!«
Sie drängte sie langsam zur Türe, umkreiste sie aufgeregt unter wütendem Gehink. Endlich war es ihr gelungen, die Mädchen alle hinauszutreiben; da erblickte sie Katharina, die sich friedlich mit Vinzenz im Beichtstuhl eingenistet hatte; sie aßen irgend etwas und sahen entzückt aus. Die Teusin warf sie hinaus. Als sie vor dem Verschließen der Türe den Kopf aus der Kirche steckte, sah sie, wie Rosalie sich dem großen Fortunat, der auf sie wartete, an den Hals hing; beide verloren sich in die Nacht, nach dem Kirchhof zu; die Entfernung dämpfte das Geräusch der Küsse.
»Und so etwas stellt sich vor den Altar der Jungfrau!« stammelte sie beim Vorschieben des Riegels. »Die anderen sind nicht mehr wert, ich weiß es nur zu gut. Lose Dirnen, alle, wie sie da heute abend waren mit ihren Reisigbündeln, unterhalten wollten sie sich hier und nachher von den Burschen küssen lassen beim Nachhausegehen! Keine wird morgen einen Schritt hierher tun. Der Herr Pfarrer wird seine Aves ganz allein aufsagen müssen ... Nur die Schlampen wird man zu sehen bekommen, die ein Stelldichein verabredet haben.«
Sie rückte die Stühle, schob sie an ihre Plätze, sah nach, ob nichts Verdächtiges herumliege. Im Beichtstuhl hob sie eine Handvoll Kartoffelschalen auf, die sie hinter den Hauptaltar schmiß. Auch ein Endchen Band fand sie, von irgendeiner Haube abgerissen, samt einer schwarzen Haarsträhne, woraus sie sich ein kleines Bündel machte, zwecks Eröffnung einer Untersuchung. Bis auf dies schien ihr die Kirche in Ordnung. Die ewige Lampe war mit Öl versehen für die Nacht, die Fliesen im Chor brauchten vor Samstag nicht aufgewaschen zu werden.
»Es ist fast zehn Uhr, Herr Pfarrer,« sagte sie und näherte sich dem immer noch knienden Priester. »Sie täten gut daran, hinaufzugehen.«
Er antwortete nicht, beschränkte sich darauf, sanft das Haupt zu neigen.
»Wohl, ich weiß, was das heißt,« fuhr die Teusin fort. »In einer Stunde knien Sie noch immer da auf dem Stein und erkälten sich den Magen. Ich gehe, weil ich Sie langweile. Immerhin, einen Sinn hat das nicht: frühstücken, wenn die anderen zu Mittag essen, zu Bett gehen, wenn die Hühner aufstehen! ... Ich störe Sie, nicht wahr, Herr Pfarrer? Guten Abend. Glauben Sie mir's. Sie sind wirklich nicht vernünftig!«
Die Teusin entschloß sich zum Abzug, kam aber zurück, um die eine der beiden Lampen auszulöschen mit dem Gemurmel, daß so spätes Beten dem Öl den Garaus machen müßte. Endlich verschwand sie; vorher wischte sie noch mit dem Ärmel über die Decke des Hauptaltars, die ihr staubgrau erschien. Der Abbé Mouret mit erhobenem Blick und über der Brust gekreuzten Armen blieb allein.