Emil Zola
Die Sünde des Abbé Mouret
Emil Zola

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Als der Abbé Mouret fühlte, daß die Teusin nicht mehr hinter ihm sei, blieb er stehen und freute sich, endlich allein zu sein. Die Kirche war auf einer sanft zum Dorf sich senkenden kleinen Anhöhe errichtet; sie erstreckte sich wie eine verlassene Schäferei mit großen Fenstern und lustigen roten Dachziegeln. Der Priester sah sich um und warf einen Blick auf das Pfarrhaus, graues Gebäu, das an der Flanke des Kirchenschiffes klebte. Dann, als fürchte er sich eingeholt zu werden von dem nie versiegenden Redestrom, der ihm seit früh in den Ohren klang, stieg er nach rechts in die Höhe und fühlte sich erst sicher vor der großen Eingangstüre, wo man ihn von der Pfarre aus nicht sehen konnte. Die kahle Vorderseite der Kirche, von Sonne und Regen zermürbt, war von einem schmalen, käfigartigen Gemäuer überragt, in dessen Mitte sich eine Glocke dunkel abzeichnete; das Strickende verlor sich in den Dachsparren. Sechs zerbrochene Stufen, an beiden Enden halb eingegraben, führten zu der verbogenen, zersprungenen Tür, die staub- und rostzerfressen, mit Spinnweben überzogen, so kläglich in ihren morschen Angeln hing, daß es schien, als ob der nächste Windstoß sie umreißen müßte. Den Abbé Mouret rührte diese Ruine; oben auf dem Treppenabsatz lehnte er sich an einen der Türflügel. Von dort aus konnte er mit einem Blick die ganze Landschaft umfangen. Die Hand vor den Augen, hielt er suchend Umschau am Horizont.

Im Mai brach ein mächtiges Wachstum aus dem steinigen Grund. Riesige Lavendelstauden, Wacholderbüsche, ganze Züge wilder Kräuter erkletterten die Stufen, und grüne Sträuße sproßten sogar aus dem Dachgeschiefer. Das erste Saftschwellen drohte die Kirche zu entwurzeln und im Getriebe starrer Pflanzlichkeit fortzudrängen. In dieser morgendlichen Stunde sprossender Anspannung schwirrte es von Wärme, und ein treibendes Schweigen durchzitterte das Gestein. Dem Abbé Mouret wurde nichts bewußt von der Glut dieser mühevollen Geburten; die Schwelle schien ihm zu schwanken, und so lehnte er sich gegen den anderen Türflügel. Zwei Meilen weit erstreckte sich das Land, begrenzt von einer gelben Hügelkette, die mit schwarzen Nadelhölzern hier und da bestanden war; trauriges Gebiet vertrockneter Heide, wo Felsgeäder den Boden durchgrätete. Das Wenige urbaren Landes breitete sich wie Lachen von Blut, rote Felder mit dünn gereihten Mandelbäumen, grauhäuptige Oliven, Weinspaliere, die knorrig das Land bestreiften. Es sah aus wie nach einer großen Feuersbrunst, die über die Höhen Asche verkohlter Wälder streute, die Wiesen versengte und ihren Glanz, ihre wütende Glut in den Vertiefungen zurückließ. Kaum daß hin und wieder das Blaßgrün eines Getreidefeldes Zartheit antönte. Nichts als Wildnis, so weit das Auge reichte, verdurstend, ohne jegliches Wassergerinsel, aufstiebend in großen Staubwolken beim leisesten Lufthauch. Und ganz in der Ferne sah man durch eine Bresche im Hügelgürtel feuchtfernes Grün, einen schmalen Streifen nachbarlicher Täler, befruchtend durchspült von der Biorne, eines vom Seiller Paß sich ergießenden Flusses. Geblendet ließ der Priester den Blick zum Dorfe hinabgleiten, dessen wenige Häuser kreuz und quer unterhalb der Kirche standen. Elende Häuser aus Backstein und Fachwerk, ohne Straßenanlagen einen schmalen Weg entlang gestellt. Es waren ihrer dreißig; die geschwärzte Erbärmlichkeit mancher erstickte fast im Mist, andere größere sahen anheimelnd aus unter rosigen Schindeldächern. Kleine, den Felsen abgetrotzte Gartenwinkel wiesen Gemüsebeete, von bunten Hecken durchzogen. Zu dieser Stunde war das Artaud wie ausgestorben. Keine Frau, zeigte sich am Fenster, nicht ein einziges Kind wälzte sich im Staub; nur das Auf und Ab einer Schar Hühner war zu sehen, die im Stroh scharrten und sich, rastlos auf der Suche, bis zu den Schwellen der Häuser vorwagten, deren offenstehende Türen der Sonne willig Einlaß gewährten. Ein großer schwarzer Hund saß aufrecht am Eingange des Dorfes, als hielte er Wache.

Mattigkeit überkam nach und nach den Abbé Mouret. Die steigende Sonne umspielte ihn so lau, daß er sich gegen die Kirchtüre sinken ließ, überwältigt von friedlichem Glücksgefühl. Er dachte an das Artaud, dieses Dorf, das aufgeschossen war wie eine der verschrobenen Pflanzenwucherungen des Tales. Alle Einwohner waren untereinander verwandt, alle trugen den gleichen Namen, so daß sie von der Wiege an einen Beinamen bekommen mußten, der Unterscheidung wegen. Ein Vorvater, Artaud genannt, kam eines Tages und siedelte sich in der Heide an wie ein Ausgestoßener; dann hatten die Seinigen sich vermehrt mit der hartnäckigen Lebensfähigkeit der Pflanzen, die aus den Felsen ihre Kräfte ziehen. Seine Familie wurde ein Stamm, eine Gemeinschaft, deren verwandtschaftliche Verknüpfungen sich im Nebel der Jahrhunderte verloren. Sie vermischten sich in schamlos nahen Heiraten. Kein Beispiel wäre dafür anzuführen gewesen, daß ein Artaud sich mit einer Frau aus einem anderen Dorf verehelicht hätte; nur die Mädchen heirateten manchmal nach auswärts. Verbunden mit diesem Erdenwinkel kamen sie zur Welt und starben, in ihrem Unrat stetig wuchernd, mit der Einfalt von Bäumen, die aus ihrem Gesäme neu erwachsen, ohne eine klare Vorstellung von der Weite der Welt zu gewinnen über die gelben Felsen hinaus, hinter denen sie ihr Leben fristeten. Und doch gab es auch bei ihnen Arme und Reiche; weil Hühner verschwanden, wurden die Hühnerställe nächtlicherweile mit schweren Vorhängeschlössern gesichert; ein Artaud brachte eines Abends hinter der Mühle einen anderen Artaud um. Eingeschlossen von dieser trostlosen Hügelumschnürung bildeten sie ein Volk für sich, eine aus der Scholle geborene Rasse, eine Menschheit von dreihundert Köpfen, die lebte wie zu Anbeginn der Zeiten.

Lähmend hing noch der Schatten der Seminare über dem Abbé Mouret. Jahrelang kannte er die Sonne nicht. Auch jetzt noch sah er sie kaum; geschlossenen Auges spähte er nach Seelischem, und für die fluchbelastete Natur hatte er nur Verachtung. Lange Zeit träumte er, in Stunden der Sammlung, wenn er sich in Betrachtungen löste, von einer wüsten Einsiedelei, irgendeinem Bergversteck, wo nichts Lebendiges, kein Geschöpf, keine Pflanze, keine Flut ihn von der Anschauung Gottes abzuziehen vermöchte. Eine Wallung reiner Liebesbegeisterung war es, Abscheu vor jeder sinnlichen Empfindung. Dort, vom Licht abgewandt, sich abtötend, hätte er seine Auflösung erwartet, das Aufgehen in herrlicher Seelenweiße. Ganz weiß erschien ihm der Himmel, in lichtvoller Weiße, als wenn Lilien ihm entschneiten, als ob alle Reinheit, alle Unschuld, alle Unberührtheit weiß aufleuchteten. Sein Beichtvater aber zankte ihn aus, als er ihm seine Einsamkeitsgelüste, seinen Drang nach göttlicher Klarheit darlegte; Er rief ihn auf, zu kämpfen für die Kirche, zur Notwendigkeit des Priestertums. Nach Empfang der Weihen später war der junge Priester auf seinen eigenen Wunsch nach dem Artaud gekommen in der Hoffnung, sich hier der erträumten Vernichtung aller menschlichen Schwächen hingeben zu können. Inmitten dieses Elends, auf diesem unfruchtbaren Boden hoffte er seine Ohren den Geräuschen der Welt zu verschließen und in heiligem Schlummer dahinzuleben. Und wirklich, seit mehreren Monaten lebte er lächelnd dahin; kaum daß eine Unruhe vom Dorf her ihn einmal trübte, kaum daß er einen heißen Sonnenbiß im Nacken spürte, wenn er seine Straße zog, ganz dem Himmel zugetan, ohne die nicht endenden Wehen zu vernehmen, inmitten derer er wanderte.

Der große schwarze Hund, der das Artaud bewachte, entschloß sich, zum Abbé Mouret heraufzusteigen, zu dessen Füßen er sich dann aufrecht wieder niederließ. Der Priester aber dämmerte weiter in der Morgenlieblichkeit. Am Abend des vorhergehenden Tages hatte er die Exerzitien des Marianischen Rosenkranzes begonnen. Die große Freudigkeit in seinem Innern schrieb er gnädiger Fürbitte der Jungfrau bei ihrem göttlichen Sohne zu. Wie nichtig ihm die irdischen Güter erschienen! Wie erfüllte es ihn mit Dankbarkeit, arm sein zu dürfen. Als er die Weihen empfing, überließ er sein ganzes Vermögen seinem älteren Bruder; Vater und Mutter hatte er an dem gleichen Tage verloren, infolge eines Unglücksfalles, dessen ganzer Schrecken sich ihm noch nicht enthüllt hatte. Von irdischen Beziehungen war ihm nichts als die Schwester verblieben. Aus einer Art frommen Zärtlichkeit für ihre Einfalt hatte er sich ihrer angenommen. Die liebe Unschuld war so kindlich, so kleinmädchenhaft, daß sie ihm angetan erschien mit der Reinheit jener Armen im Geist, denen evangelische Worte das Himmelreich zusprechen. Seit einiger Zeit jedoch begann sie ihn zu beunruhigen. Sie wurde zu kräftig, zu üppig, zuviel Leben ging von ihr aus. Doch es kam kaum zu einem Unbehagen. Er verbrachte seine Tage in dem verinnerlichten Zustand, in den er hineingewachsen war, als er alles aufgab, um sich ganz hingeben zu können. Er verschloß dem Sinnenleben die Tür, versuchte der Natur des Leibes zu entrinnen und war nichts als eine in Beschaulichkeit selige Seele. Die Natur bedeutete ihm Fallstrick und Unflat; er setzte seine Ehre darein, ihr Gewalt anzutun, sie gering zu achten, sich zu entflecken von aller irdischen Unsauberkeit. Vor der Welt ist der Gerechte sinnlos. Er betrachtete sich als Erdverbannten. Nur die himmlischen Güter zog er in Betracht und begriff nicht, wie einige Stunden vergänglicher Freuden eine Ewigkeit aus Glückseligkeiten aufwiegen sollten. Seine Vernunft führte ihn irre und betrog ihn; seine Wünsche logen. Und nahm er zu an Tugend, war es vor allem seiner Demütigkeit, seines Gehorsams wegen. Der Letzte von allen wollte er sein, allen dienstbar, auf daß der Tau der Göttlichkeit auf sein Herz wie in starren Sand niederrieselte; er nannte sich schwach und schandbedeckt, bis ins Tiefste unwürdig, von der Erbsünde erlöst zu werden. Demütig sein heißt glauben, heißt lieben. Er war in nichts mehr von sich abhängig, blind, taub, irgendein Ding ohne Willen, Gottes Eigentum. Aus dieser Erniedrigung, in die er sich tief vergrub, trug ein Hosiana ihn weit hinaus über Glück und Macht, in den Glanz eines endelosen Glücks. So waren dem Abbé Mouret im Artaud die Entzückungen klösterlichen Lebens beschieden, die er einst so glühend erwünschte beim jedesmaligen Lesen der Nachfolge Jesu. Nichts in ihm kannte Kampf. Vom ersten Kniefall an war er fehlerfrei, ohne Widerstand, ohne Erschütterungen; es war, als ob der Blitzstrahl der Gnade sein Fleischbewußtsein endgültig zernichtet habe. Verzückung in Gottes Nähe, der einige junge Priester teilhaftig werden; glückselige Stunde, wo alles schweigt, wo im großen Schweigen die Begierden nichts mehr sind als ein maßloser Hang nach Reinheit. An keiner Kreatur wollte er Tröstung gewinnen. Wenn man glaubt, daß eines alles umfaßt, ist man unerschütterlich, und er glaubte an die Allheit Gottes, glaubte, daß seine eigene Demut, sein Gehorsam, seine Keuschheit alles seien. Er erinnerte sich, von der Versuchung reden gehört zu haben als von einer schrecklichen Qual, die selbst die Heiligsten befällt. Hierüber mußte er lächeln. Ihn hatte Gott niemals verlassen. Im Glauben wandelte er wie in einem Panzer, der ihn gegen die kleinste schlimme Regung schützte. Mit acht Jahren, entsann er sich, weinte er in einem Winkel aus Liebe; er war sich nicht bewußt zu lieben; er weinte, weil er irgendwo in der Weite jemanden liebte. Diese Weichheit war ihm geblieben. Später hatte er Priester werden wollen, um dieser übermenschlichen Liebessehnsucht zu genügen, die einzig ihn quälte. So erfüllte er sein Wesen, seine Veranlagung, seine Jünglingsträume und Jungmännerwünsche. Sollte die Versuchung an ihn herantreten, er erwartete sie mit der ihm eignenden Kaltblütigkeit des unwissenden Seminaristen. Der Mann war ertötet in ihm; er fühlte es und war dessen froh, glücklich, sich besonders zu wissen als entmanntes Wesen, von der Art abweichend, durch die Tonsur gezeichnet als Lamm des Herrn.


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