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Von Ernst Sorge
Nun waren wir also wieder in »Eismitte«, diesmal, um die Dicke des Inlandeises im Mittelpunkt Grönlands zu messen. Wegener hatte in seinem Expeditionsprogramm »einen Aufenthalt von einigen Monaten, am besten eine Überwinterung im zentralen Firngebiet für diese Aufgabe als wünschenswert« bezeichnet. Durch die übergroßen Transportschwierigkeiten und Wegeners Tod war die Zeit für diese Messungen auf zwölf Tage zusammengeschrumpft. Es war sozusagen »die letzte Minute«, wo wir noch in »Eismitte« arbeiteten. Und ich will es gleich vorwegnehmen: Daß diese Messungen in der kurzen Zeit gelangen, war nur durch die Hilfe meiner Kameraden Georgi, Kraus, Schif und Jeremias sowie durch die Benutzung der Propellerschlitten möglich.
Wir teilten uns in die Arbeiten folgendermaßen: Kraus, Schif und Jeremias machten in wechselnder Entfernung von der Firnburg Sprengungen, um den Firn so zu erschüttern, daß die Wellen bis zur Burg liefen. Sie legten außerdem doppelte Telephonkabel von der Burg bis zu den Sprengstellen, damit der Augenblick der Sprengung elektrisch in der Burg aufgezeichnet werden konnte. Ich selbst bediente einen seinen Erdbebenmesser (Seismographen), der die Erschütterungswellen stark vergrößerte, und den »Lichtschreiber«, der die Bewegungen auf einem laufenden Film aufzeichnete. Georgi, der trotz schwerster körperlicher und seelischer Erlebnisse seine alte Kameradschaftlichkeit behalten hatte, entwickelte und fixierte die Filme Näheres über die Methoden und Probleme der Eisdickenmessung findet der Leser auf Seite 217 ff..
Ehe es aber soweit war, hatten wir noch allerlei anderes zu erledigen. Den Raum für die Apparate hatten wir ja im Winter zum Wohnen benutzt, das war unsere so oft geschmähte und so oft als Lebensretter gepriesene Firnhöhle. Die mußten wir erst ausräumen. Das ganze Inventar wurde nach oben in ein Zelt gepackt. Nur unsere Schlafsäcke ließen wir drin; denn aus Anhänglichkeit wollten wir auch noch die letzten Tage dort unten schlafen. Dann baute ich auf dem großen Vierkistentisch die Apparate auf. Verschiedene Teile waren während des Winters verrostet, bereift und vereist. Zwei Stativfüße aus Messingrohr waren ja im Winter beim Bohren zersplittert. Ein anderes Stativ stand noch im Schacht. Ich hatte es dort eingebaut, um damit auf einer Konservenbüchse die Geschwindigkeit zu messen, mit der der Firn im Laufe der Zeit zusammengedrückt wird. Das mußte nun ausgebaut und gereinigt werden. Ein kleiner Zylinder voll Alkohol und Glyzerin leckte. Da er aber in einem völlig geschlossenen Apparat eingebaut war, wagte ich nicht, bei der Kürze der Zeit alles auseinanderzunehmen und dem Wechsel der Temperaturen und der starken Bereifung auszusetzen. So verzichtete ich auf die Ausbesserung.
Am 29. und 30. Juli fanden die ersten kleinen Sprengungen statt, von denen noch nicht viel abhing. Aber wir mußten uns erst miteinander einarbeiten. Es dauerte immer einen ganzen Vormittag, bis genügend Schmelzwasser für das Entwickeln und Fixieren vorhanden war. Gesprengt wurde nach der Uhr zu verabredeten Zeiten. Diese Zeiten mußten auf die Sekunde genau eingehalten werden, da das Uhrwerk für die Fortbewegung des Films wenige Sekunden vor der Sprengung in Gang gesetzt wird. Dauernd verglichen wir daher den Gang unserer Uhren.
Als wir uns genügend eingeübt hatten, maßen wir mit dem 50 Meter langen Stahlbandmaß eine Strecke von 3500 Meter ab und legten das gesamte Telephonkabel doppelt bis 3400 Meter. Dabei leisteten uns die Propellerschlitten ausgezeichnete Dienste. Der »Schneespatz« brachte die Kabeltrommeln auf die Strecke. Wir nahmen sie auf den Rücken und legten das Kabel, auf Skiern laufend, auf der abgemessenen Strecke aus. Auch der Sprengstoff wurde mit Propellerschlitten befördert. Die Sprengkapseln trugen wir bei diesen Fahrten vorsichtshalber in der Hand; denn die Zusammenstellung: Benzin, Sprengstoff und Sprengkapseln, dazu der saufende Flugzeugmotor und die heißen Auspuffgase waren keine ganz angenehme Verbindung.
An den Sprengstellen wurden zwei Meter tiefe Gruben gegraben und der Sprengstoff unten hineingepackt. Dann kam der unangenehmste Augenblick: Einer mußte hinuntersteigen und die hochempfindliche Sprengkapsel in das Loch eines Sprengstoffpäckchens hineinstecken und festbinden, ferner das Telephonkabel einmal um den Sprengstoff herumwinden. Dann wurde die Grube voll Schnee geworfen und tüchtig festgestampft. Schließlich sah man nur noch die Zündleitung und die Telephonleitung aus dem Schnee herausragen. Die Zündleitung war etwa 50 Meter lang. Sie wurde am Ende an eine kleine Dynamomaschine mit Handbetrieb angeschlossen, und nun konnte es losgehen!
Das Tagesprogramm der Sprengungen bekamen die Sprenggruppe Kraus, Schif, Jeremias und die Apparategruppe Georgi, Sorge in gleicher Ausfertigung. Z. B. sah das Programm vom 3. August folgendermaßen aus:
Entfernung | Sprengstoffmenge | Sprengaugenblick | ||
nach Schifs Uhr | nach Georgis Uhr | |||
15. Sprengung | 2500 m | 10 kg | 12 Uhr 35 Min. | 12 Uhr 24 Min. 26,5 Sek. |
16. Sprengung | 3000 m | 15 kg | 13 Uhr 15 Min. | 13 Uhr 04 Min. 26,0 Sek. |
17. Sprengung | 3400 m | 20 kg | 13 Uhr 45 Min. | 13 Uhr 34 Min. 25,5 Sek. |
18. Sprengung | 4500 m | 50 kg | 19 Uhr 50 Min. | 19 Uhr 39 Min. 20,0 Sek. |
An diesem Tage fuhr der »Schneespatz« nach 3500 Meter hin und zurück und dann noch nach 4500 Meter hin und zurück, im ganzen also 16 Kilometer. Das sind Strecken, die man mit dem Sprengstoff auf Handschlitten nur mit großer Anstrengung in einem achtstündigen Marsch zurücklegen kann, und nun ging es spielend leicht in einigen Minuten! Die Benutzung der Propellerschlitten für wissenschaftliche Arbeiten auf dem Inlandeis war eine Idee von Wegener. Ihr liegt der Gedanke zugrunde, daß bei längerem Aufenthalt auf dem Inlandeis Hundeschlitten gegenüber den Motorschlitten benachteiligt sind, weil die Hunde täglich Futter verbrauchen, auch wenn sie nicht arbeiten. Ein Motorschlitten kann dagegen längere Zeit stehen, weil der Lebensmittelbedarf der Besatzung keine Rolle spielt. Diese Idee war nun in der schönsten Weise verwirklicht, aber ohne daß es Wegener erleben durfte.
Nach einigen kleineren Sprengungen fand schließlich am 5. August die letzte und größte Sprengung in 3800 Meter Entfernung von »Eismitte« statt. 73 Kilogramm Trinitrotoluol explodierten dabei auf einmal; leider durfte ich von diesem imposanten Feuerwerk nichts mit ansehen, denn ich saß ja unten in der Firnhöhle und paßte auf meine Apparate auf. Alle andern waren mit dem »Schneespatz« hingefahren, um die gewaltige Sprengung zu sehen, zu photographieren und zu filmen. Aber meine Hauptfreude bestand darin, daß nachher beim Entwickeln der Registrierung so gut wie sicher zurückgeworfene Wellen vom Eisuntergrund zu sehen waren. Das war ja das Hauptziel der ganzen Messung. Aus dem Abstand der verschiedenen Wellenzüge auf dem Filmstreifen ließ sich die Eisdicke berechnen, bei unserer knappen Zeit und den geringen Hilfsmitteln natürlich nur roh. Die vorläufige Berechnung führte zu dem Ergebnis: Im Mittelpunkt Grönlands ist das Inlandeis rund 2500 bis 2700 Meter dick. Das Innere Grönlands liegt also unter einem sehr dicken Eispanzer begraben. Die Station »Eismitte« liegt nach den vorläufigen Berechnungen rund 3000 Meter über dem Meer. Vergleicht man diese Zahl mit unserer Eisdicke, so kommt man zu dem Ergebnis, daß der Untergrund unter dem Eis nur 300 bis 500 Meter über dem Meeresspiegel liegt. Nun erheben sich die Randgebirge Grönlands vielfach über 2000 Meter, die höchsten Spitzen erreichen sogar 4000 Meter. Das Innere Grönlands liegt also viel tiefer als die Küstenberge. Die Eisdickenmessungen von Brockamp, Herdemerten und Wölcken führten zu ganz ähnlichen Ergebnissen. Wir müssen uns also Grönland wie einen tiefen Teller vorstellen, der mit Eis angefüllt ist. Ob die Senkung des Landes im Innern durch die große Eisbelastung verursacht worden ist, kann man noch nicht entscheiden. Dazu brauchen wir die Ergebnisse von Weikens Schweremessungen. Aber jedenfalls sieht man schon, zu welchen interessanten Folgerungen die Höhen-, Schwere- und Eisdickenmessungen in Grönland führen.
Glücklich über die gelungene Arbeit packten wir am 6. August 1931 unsere Instrumente und Ausrüstung ein. Auf den Resten des Beobachtungsturmes errichteten wir aus dem Gestell der Wetterhütte und langen Hölzern ein hohes Zeichen und stapelten an seinem Fuße alles auf, was sich noch an Petroleum, Proviant und Hundefutter vorfand.
Am 7. August, als tagelanger Nebel dem herrlichsten Sonnenschein gewichen war, sahen wir »Eismitte« zum letztenmal. Als wir morgens mit den schwerbeladenen Propellerschlitten abfuhren, ließen wir ein Stückchen Heimat hinter uns. In flotter Fahrt ging's nach Westen. Nach eineinhalb Stunden trafen wir bei km 340 unsere Kameraden Lissey und Gudmund mit drei Grönländern und Hundeschlitten im Aufbruch nach »Eismitte«. Sie waren sehr schnell gereist, um noch vor Sommerende die sehr wichtige trigonometrische Höhenmessung des Inlandeises von 400 bis 300 Kilometer durchzuführen. Nur kurz war die Begegnung, dann fuhren wir nach km 300 weiter. Abends trafen wir wieder Kameraden: Jülg und Weiken mit drei Grönländern, die eine Schweremessung machen wollten. Da in den nächsten Tagen unsichtiges, sehr warmes Wetter mit Backschnee herrschte, blieben wir fünf Tage liegen und unterhielten mit der Weststation einen lebhaften, abwechslungsreichen Verkehr durch Radio. Am 12. August wurde das Wetter besser. Da wir wenig Lebensmittel hatten, mußten mir sogleich nach km 200 starten, wo das nächste Depot lag. In 2½ Stunden wurden die 100 Kilometer von den Propellerschlitten spielend bewältigt. Eigentlich sollten wir gleich weiterfahren. Aber zum Glück begann schon wieder schlechtes Wetter, so daß wir es verantworten konnten, liegenzubleiben und noch einige Messungen zu machen. Georgi stellte sein sorgsam gehütetes Quecksilberbarometer auf und machte eine Reihe von Luftdruckmessungen. Ich grub in aller Eile einen vier Meter tiefen Schacht und bohrte mit dem hierliegenden Bohrgerät ein Loch bis 9,50 Meter Tiefe, um Temperaturen und Jahresschichten ähnlich wie in »Eismitte« zu untersuchen. Es schneite und regnete abwechselnd. Je länger das Wetter schlecht blieb, um so mehr freuten wir uns; denn um so wertvoller wurden unsere Messungen.
In der Nacht vom 14. zum 15. August kamen fünf Grönländer auf Hundeschlitten von Lissey und Weiken und fuhren wegen des starken Schneefegens erst am 16. morgens weiter. Tags wurde es besser, und daher brachen wir abends auf und fuhren zunächst elf Kilometer weiter bis zu Wegeners Grab. Aus unserm Bohrgestänge errichteten wir ein sechs Meter hohes Kreuz als weithin sichtbares Zeichen über der Ruhestätte unseres Führers und Kameraden. Auf der Weiterfahrt überholten wir die fünf Grönländer wieder. Im Randgebiet geriet ein Propellerschlitten in eine Spalte und brach eine Kufe. Notdürftig wurde sie mit Blech geflickt. Von dieser Stelle sahen wir sehr deutlich die Küstenberge. Georgi hatte seit 400 Tagen kein Land gesehen! Vorsichtig durch das Spaltengebiet fahrend, erreichten die Propellerschlitten ihren Startplatz mit der unversehrten Ausrüstung der Station »Eismitte« an Bord. Zugleich kamen die fünf Grönländer an; und nun wurde die gemeinsame Rückkehr mit einem großen Kaffee gefeiert, dem grönländischen Lieblingsgetränk.
Am gleichen Tage, am 18. August, fuhren wir dann mit den Hundeschlitten zur Weststation. Unsere Kameraden empfingen uns auf das herzlichste. In dem prächtigen großen Holzhause fühlten wir uns nach dem Leben in »Eismitte« außerordentlich wohl. Unsere Gedanken flogen freilich immer wieder zurück nach unserer Firnhöhle in »Eismitte« und nach dem einsamen Kreuz auf dem Inlandeis.
*
Um das Winterhaus hatte den Sommer über die Schneeschmelze mit voller Kraft gewirkt. Zwei Monate lang, von Ende Juni bis Ende August, lagen auch hier in 1000 Meter Höhe die Tagesmittel der Temperatur über dem Gefrierpunkt. Das Winterhaus taute vollständig aus der Schneewehe heraus, in die es zu Sommeranfang noch tief eingehüllt gewesen war. Im Spätsommer stand es schließlich auf einem Eissockel. Zwischen Fußboden und Wand klafften an einzelnen Stellen breite Spalten, und es wurde nötig, das Haus mit Balken zu stützen. Im Winter war die Beseitigung des Abfalls außerordentlich bequem gewesen. Was man durch den Einstiegsschacht ins Freie warf, war in kurzer Zeit durch das ständige Schneefegen völlig zugedeckt. Aber als dann der Schnee mehr und mehr schwand, da wuchsen um das Haus die Abfallhaufen höher und höher, ein grausiges Gemisch von Kistentrümmern, Konservenbüchsen, Blech und Stoffetzen, dem gegenüber jeder Reinigungsversuch scheiterte, aber ein Paradies für die Hunde, die unverdrossen ihre Schnauze immer wieder in die hundertmal ausgeleckten Büchsen steckten.
Hier im Winterhaus auf dem Kangerdluarsuk-Gletscher war im Sommer 1931 dauernd Kelbl anwesend. Neben seinem Dienst als Funker sorgte er für Verpackung und Rücktransport der ständig wachsenden Menge entbehrlicher Güter. Bei seiner ausgeprägten Ordnungsliebe war er für diese undankbare Aufgabe der rechte Mann.
Auch Kurt Wegener hatte den größten Teil des Sommers über sein Standquartier im Winterhaus. Hier saß er an der Zentralstelle der Expedition, wo Etappe und Front zusammentrafen, und hatte durch die Radiostation Verbindung sowohl mit der Außenwelt wie mit der Propellerschlittenabteilung. Von hier aus leitete er die Anlage der Reisen auf dem Inlandeis. Am 12. August fuhr er selbst mit zwei Grönländern aus, um das Grab seines Bruders zu besuchen. Er setzte seine Reise bis km 250 fort; hier begegnete er am 22. August den beiden auf dem Inlandeis mit Höhenmessungen beschäftigten Abteilungen Weiken-Jülg und Lissey-Gudmund. Mit der letzteren zusammen traf er am 29. August nach einer Reise von zweieinhalb Wochen wieder beim Winterhaus ein.
Holzapfel war den größeren Teil des Sommers mit seinen meteorologischen Beobachtungen und Pilotballonaufstiegen beim Winterhaus beschäftigt. Zweimal reiste er inzwischen aufs Inlandeis, um mit seiner Schlittenabteilung Kameraden abzuholen, die dort zu wissenschaftlicher Arbeit weilten.
Diese Arbeiten waren vor allem der Eisdickenmessung, der Höhenmessung und der Schweremessung gewidmet.