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Von Georg Lissey
Sitzen wir da eines Morgens in den letzten Novembertagen beim Frühstück im Winterhaus, da fliegt die Tür auf, und herein treten drei wild ausschauende, dicht vermummte Gestalten. Vorneweg stapft der lange Gudmund, durchs Gletscherseil mit Jülg und Friedrichs verbunden. Alle drei sind über und über mit Schnee und Reif bedeckt. Der kleine, dicke Friedrichs schnauft und ächzt: »Zwölf Stunden haben wir von Kamarujuk herauf gebraucht! Zuerst hatten wir Mondschein; aber dann wurde es ganz finster. Bis zum Bauch sind wir durch den Schnee gewatet. Brrr! Ist das ungemütlich draußen! Jetzt aber erst mal Kaffee her! – Noch einen halben Liter – Und was ist mit Wegener los? – Steckt noch auf dem Inlandeis? – Ihr wißt nischt? – Verflucht und zugenäht!«
»Tja, ich bin ja mit meinem ›Krabben‹-Kahn Anfang November gerade noch nach Kamarujuk hineingekommen. Im Innern des Fjords lag schon Neueis. Wir haben dann die ›Krabbe‹ regelrecht aus dem Eis heraushacken müssen. An Land gezogen haben wir sie – aber fragt nur nicht, wie. Mit ein paar leichten Flaschenzügen und einigen Balken ein sieben Tonnen schweres Boot auf Land zu ziehen, ist ein Kunststück. Zwei Grönländer hatten wir zur Hilfe; die sind jetzt mit ihren Kajaks nach Hause gefahren. Die ›Krabbe‹ muß aber noch höher hinauf, damit es im Frühjahr kein Kleinholz gibt, wenn das Eis aufbricht und die Schollen auf den Strand geworfen werden. – Ein Mann muß mit hinunterkommen, um uns zu helfen. – Lissey, kommst du mit?«
Nun, natürlich kam ich mit. Die ›Krabbe‹ allerdings war inzwischen schon unbeweglich fest an den Boden gefroren. Sie mußte bleiben, wo sie lag. Uns blieb nichts anderes übrig, als uns in unserer Villa häuslich einzurichten; denn hinauf zum Winterhaus konnten wir so bald nicht wieder. Die vier Stunden Dämmerung, die jetzt den Tag darstellten, reichten für den Marsch über den Gletscher nicht aus.
Kalt war es eigentlich nicht besonders, gewöhnlich 5 bis 6 Grad unter Null, aber unbarmherzig brauste Tag für Tag der Sturm vom Inlandeis herunter. So blieben wir in unserer Hütte, rückten die beiden kleinen Petroleumöfen möglichst nahe an den Tisch heran und spielten ein Dauerbridge.
Unsere Hütte war eigentlich nur eine große Kiste, die ehemals einen Propellerschlitten enthalten hatte. Das Mobiliar bestand aus vier roh gezimmerten Kojengestellen, einem Tisch und zwei Bänken, die mit Polstern von Packsätteln belegt waren. Manche Schreberlaube ist ein Palast gegen unsere damalige Wohnung. Wir aber fanden es äußerst gemütlich; wenn nur der Wind nicht gewesen wäre, der überall durch die Fugen hereinpfiff.
Weihnachten wurde zur Abwechslung L'Hombre und nicht Bridge gespielt. Zur Silvesterfeier braucht man Schnaps, aber woher sollten wir den nehmen? Nun, in der Apotheke stand ja immer noch eine Flasche mit 98prozentigem Alkohol. Wasser wurde gekocht, Zucker, Zitronenbonbons, Pfefferminztabletten und Glyzerin hineingeschüttet, das Ganze kalt gestellt und eine gehörige Portion von dem Apothekeralkohol dazugetan. Der Schnaps war fertig. Wir stießen auf das neue Jahr an, knallten ein paar Schüsse zum wunderbar funkelnden arktischen Sternenhimmel empor und verkrochen uns wieder in unsere Schlafsäcke. Vorher legten wir allerdings noch, wie allabendlich, unsere Hemden auf den Tisch des Hauses und suchten beim trüben Scheine der einzigen vorhandenen Petroleumfunzel die Läuse ab. Ich fing sieben besonders fette Exemplare. »Das bringt Glück«, meinte Gudmund.
Kurz nach Neujahr kam Weiken mit den Grönländern, die die Entsatzreise mitgemacht hatten, und den dazugehörigen Hunden herunter. Oben war das Hundefutter schon längst ausgegangen. In Kamarujuk war ebenfalls nichts vorhanden. Die Tiere waren schon völlig ausgehungert. Sie bestanden nur noch aus Haut und Knochen. Alles, was zu beißen war, wurde gefressen. Ein paar alte Pferdehäute, Tauwerk und noch weniger wohlschmeckende Dinge mußten daran glauben. Nachts fraßen uns die Hunde die Dachpappe vom Haus. Wir versuchten Haie zu angeln und setzten Seehundsnetze aus, aber kein »Puisse« ging ins Garn, die Angel speiste ein Hai zum Frühstück. Einige Hunde hatten wir wegen Futtermangels schon töten müssen. Das Eis lag jetzt fast bis Akuliarusersuak. Dort steht ein Fanghaus der Leute von Uvkusigsat. Die Grönländer fuhren von dort aus mit Kajaks nach Hause, und dorthin brachten wir auch unsere Hunde, um sie auffüttern zu lassen. Aber auch hier war der Fang so spärlich, daß noch mehrere in den Hundehimmel eingingen. Woher sollten wir Hundefutter für die Frühjahrsschlittenreisen beschaffen?
Wir mußten unbedingt so früh wie möglich im Frühjahr eine Hundeschlittenkarawane nach »Eismitte« entsenden, um etwas über den Verbleib von Wegener, Loewe und Rasmus zu erfahren. Vielleicht waren alle drei in »Eismitte« bei Sorge und Georgi geblieben. Dann hatte der für zwei Menschen berechnete Proviant für fünf reichen müssen. Da tat schnelle Hilfe not. Wenn die Witterung günstig war, konnten wir vielleicht schon Anfang April abreisen.
Die Vorbereitung dieser Arbeiten erforderte es, daß Gudmund und ich weiterhin in Kamarujuk blieben. Einmal brauchten wir Hundefutter. Sehr gut für diesen Zweck ist Trockenfisch; davon brauchten wir etwa 3000 Kilogramm für eine Reise nach »Eismitte«. Noch aber schwammen die Fische vergnügt und froh im Meer. Die Winterstürme erlauben keinen Fischfang mit Booten. Erst wenn eine feste Eisdecke liegt, kann man durchs Eis Fische in großen Mengen angeln. Aber wann kam denn endlich das Eis? Die Fische mußten doch noch getrocknet und dann von den weit entfernten Fangplätzen nach Kamarujuk geschafft werden. Schließlich mußten wir die 3000 Kilogramm Fisch ohne Pferde, nur mit Trägern, den Gletscher hinauf nach Scheideck bringen.
Mit der Lieferung neuen brauchbaren Hundefutters war frühestens ein bis zwei Monate nach Festwerden der Meereisdecke zu rechnen. Eine Woche kalten, ruhigen Wetters kann genügen, das Meereis sturmfest zu machen. Aber immer wieder kam das nächste Unwetter zu früh und zerstörte unsere Hoffnungen. Sollte der Wettergott wieder einen schweren Schlag gegen die Expedition im Schilde führen? Gut standen wir nicht mit ihm. Das hatten wir mehrfach bitter erfahren müssen. Von grönländischen Fängern, die Ende Januar nach Kamarujuk kamen, erfuhren wir, daß die Fangverhältnisse überall sehr schlecht und die Futtervorräte fast verbraucht wären. Wir hofften immer noch, daß das Eis bald kommen würde, aber es wäre unverantwortlich gewesen, die Durchführung der Frühjahrsschlittenreisen allein auf diese Hoffnung zu gründen. Wir mußten uns nach andern Möglichkeiten der Futterbeschaffung umsehen.
Vielleicht war in der Disko-Bucht oder weiter südlich Hundefutter zu haben. Unsere einzige Verbindung mit der Außenwelt war jetzt der Funkverkehr mit und über Godhavn an der Südspitze der Disko-Insel. Godhavn ist der Sitz des Landvogtes von Nordgrönland. Ende Januar unterrichtete Weiken diesen über unsern Futterbedarf und fragte an, ob er irgendeine Möglichkeit sähe, für den Fall, daß das Meereis nicht früh genug komme, die für die erste Reise dringend benötigten 3000 Kilogramm zu besorgen. Landvogt Rosendahl erkannte die Gefahr für unsere Kameraden in »Eismitte« und bemühte sich mit aufopfernder Energie, uns zu helfen. Er bestellte Hundefutter für uns in den Kolonien der Disko-Bucht. Außerdem übernahm er es, durch Radiophon in den Kolonien alle Sachen zu bestellen, die wir noch für den Herauftransport brauchten. Zusammen mit dem Kolonieleiter von Godhavn, Herrn Blicher-Nielsen, richtete er eine Nähstube ein, in der 40 Grönländerinnen in kurzer Zeit Schlafsäcke aus Segeltuch und Deckenstoff sowie Überkleider für unsere Transportgrönländer nähten, und außerdem, zur Ergänzung unserer zusammengeschrumpften Bestände, Pelzsachen für die kommenden Inlandeisreisen. Im vergangenen Sommer hatten wir die bittere Erfahrung gemacht, daß die Grönländer immer ohne jede Ausrüstung und meistens sogar mit ungenügender Kleidung zu uns kamen. Wegener hatte auf allen ›Krabbe‹-Fahrten den Umanak-Bezirk nach Pelzzeug abgegrast, ohne jedoch immer genügend erhalten zu können. Durch die sehr tatkräftige Unterstützung des Landvogtes wurde es uns nun möglich, die Ausrüstung der Expedition für den Sommer vollständig zu ergänzen.
In der ersten Februarhälfte trat in den Eisverhältnissen immer noch keine Änderung ein. Der Landvogt ließ durch Grönländer von hohen Bergen der Disko-Insel aus immer wieder das Eis beobachten, während wir von Scheideck aus die Umanak-Bucht einsahen. Endlich in der zweiten Hälfte des Februar wurden die Aussichten besser. Von Norden kamen große Treibeismassen, das sogenannte Westeis, und drangen von der offenen See aus in die Umanak- und Disko-Bucht vor. Auch aus dem Innern der Fjorde heraus begann die Eisdecke fest zu werden.
Nun hieß es aber einkaufen. Unser Plan war, mit 20 bis 25 Grönländern das Futter über den Kamarujuk-Gletscher hinaufzubringen. Für die Leute mußte erst einmal Unterkunft und Verpflegung geschaffen werden. In Uvkusigsat räuberten wir den Laden erbarmungslos aus. Wir brauchten entsetzlich viel: Dachpappe, Nägel, Türangeln, einen Ofen, einen Herd, Koch-, Eß- und Trinkgeschirre für 25 Mann. Petroleum hatten wir nicht mehr, so mußten Tranlampen, Tran und drei Tonnen Kohlen beschafft werden.
Friedrichs kam wieder von Scheideck herunter, und wir zimmerten ein recht ansehnliches Gebäude zusammen. Ein Grönländer wurde mit Frau und Kind als Verwalter nach Kamarujuk geholt. So zogen auch Ordnung und Sauberkeit ein. Dafür wanderten die Läuse aus.
Mit Festwerden der Eisdecke in der Disko- und Umanak-Bucht war nun auch der Schlittenweg über die Halbinsel Nugsuak frei. Auf diesem Weg schickte der Landvogt Anfang März die in Godhavn hergestellte Ergänzung der Expeditionsausrüstung. Dieser Schlittenkolonne gaben alle dänischen Familien von Godhavn gute europäische Lebensmittel für Wegener und seine Gefährten mit.
Gegen Mitte März begann dann der Antransport der Hellefische nach Kamarujuk. Täglich trafen die Schlitten aus den oft über 100 Kilometer weit entfernten Eskimosiedlungen ein. Unendlich wertvoll war uns jetzt der Isländer Gudmund, der zum Einkauf überall herumreiste. Er spricht fließend dänisch, versteht sich auf Fische und kann ausgezeichnet handeln.
Nun wurden die Gletschertransporte nach Scheideck hinauf eingerichtet. Friedrichs übernahm die Abnahme der ankommenden Fische und Waren, Gudmund führte die Trägerkolonne, und ich, ich mimte den Haushaltungsvorstand unseres nun doch schon recht groß gewordenen Wirtschaftsbetriebes. Um 7 Uhr rasselte der Wecker, und mit einem kräftigen »frommen Wunsch« rutschte ich aus meinem Schlafsack. Schon trippelte auch Sarah Elisabeth, die kleine Eskimofrau, um den Herd herum und machte auf grönländische Art Feuer. Ein Stück Seehundspeck, in einen Lappen gewickelt, wurde angezündet, Kohlen daraufgeschüttet – und schon qualmte der Schornstein. »Sarah, Haferflocken kochen!« – »Inuit tamaisa, makipok!« »Aufstehen, ihr Kerle!« – Gähnend erheben sich die Grönländer. »Aber Sarah, du Unglückswurm! Der kleine Topf soll für 25 Mann reichen? Davon werden ja kaum drei satt.« »Ap, ap«, grinst sie und setzt umständlich und mit Ruhe den großen auf. »Kaffee brauchen wir auch; den kannst du gleich in diesem Eimer da kochen.« Dann mußte ich für die ganzen 25 Mann Brot schneiden und schmieren. Die Margarine auf den Tisch zu stellen, wagte ich nicht mehr. Einmal hatte ich eine halbe Kiste voll davon stehenlassen. Als ich nach zehn Minuten wiederkam, war nichts mehr davon übrig. Die Grönländer hatten sie mit Löffeln gegessen.
Nach dem Frühstück wurde abmarschiert. Gudmund an der Spitze. 18 Kilogramm Trockenfisch nahm jeder auf den Buckel. Die Tragweise ist dabei ganz eigenartig. Der Sack hängt quer auf dem Rücken und wird durch eine um die Stirn gelegte Schleife aus Riemen oder Tauwerk gehalten. Der Vorteil davon ist, daß sich das Gewicht auf Kopf und Rücken verteilt. Im Gänsemarsch wand sich die Kolonne den schneebedeckten Gletscher hinauf. Sanken die Träger auch manchmal tief in den Schnee ein, so ging die Arbeit doch besser vonstatten, als wir gehofft hatten. Die Zeit der schweren Winterstürme war vorüber. Hatten wir auch noch 25 bis 30 Grad Kälte, so hatte die Sonne doch schon wieder so viel Kraft, daß die Träger beim Aufstieg schwitzten. Am Ziele angelangt, setzten sich die Grönländer in den Schnee, rauchten ihre Zigarette und blickten auf die in der Sonne weiß glitzernde Fjordlandschaft hinab, wo eben noch als kleine schwarze Punkte erkennbare Schlitten schon wieder neuen Hellefisch heranbrachten. Der Abstieg ging auf höchst einfache Weise vor sich, indem die Leute unter viel Geschrei und Gebalge auf der unteren Verlängerung ihres Rückgrates hinabrodelten.
Unten war inzwischen das tägliche große Reinemachen gewesen. Friedrichs nahm die ankommenden Transporte in Empfang. Ein Grönländer zerhackte die Fische Stücke, mundgerecht für Hundeschnauzen, und wog die Traglasten für den nächsten Tag zu. Ein anderer zersägte gefrorenes Weißwalfleisch für das Mittagessen. Als Lohn durfte er die Sägespäne verspeisen. Gegen 15 Uhr kam Gudmund mit seinen Trägern zurück, und nun bekam jeder von ihnen ein ein Kilogramm schweres Stück steinhart gefrorenen Walfleisches, das sie dann ohne jegliche Zubereitung in unglaublicher Geschwindigkeit vertilgten. Sie schüttelten sich vor Kälte, zeigten auf den Magen und sagten: »Mamapok! Kiakrak!« »Das schmeckt gut und macht warm!« Nachmittags arbeitete Friedrichs mit den Grönländern an der Fertigstellung eines großen Trockengerüstes, an dem 5000 Kilogramm Fisch aufgehängt wurden. Nach dem Abendessen tanzten die Grönländer zu den Klängen einer uralten, asthmatischen Ziehharmonika oder sangen stundenlang mehrstimmig eintönige Psalmen.
So verlief in regelmäßiger Arbeit der ganze Monat März. Täglich kamen Schlitten aus allen Himmelsrichtungen von weit her zu uns. Wir handelten und schacherten wie die gerissensten Orientalen mit den Eingeborenen um Fische, Felle, Frischfleisch, Kleidung, Schuhe und tausenderlei sonstige Dinge. So gelang es uns, zum 1. April, dem Tag, der für den Beginn der Reise festgesetzt war, das nötige Hundefutter bereitzustellen.