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Von Johannes Georgi
Zum zweiten Male während des Aufenthaltes in »Eismitte« sah ich am 9. Mai die Kameraden und Grönländer nach Westen entschwinden. Wir alle hatten schärfster Anspannung bedurft, um in Tag und Nacht fortgeführten Besprechungen unsere künftige Arbeit auf die veränderten Umstände umzustellen und diesen zum Trotz die Durchführung von Wegeners gewaltigem Arbeitsplan zu sichern. Auch menschlich waren die Tage sehr angreifend gewesen.
Von Wegener war ich stets als sein »Nächstkommandierender« bezeichnet worden und hielt mich deshalb eigentlich für verpflichtet, mit den Motorschlitten zur Weststation zu gehen und dort die Leitung zu übernehmen. In diesem Falle hätte mich Holzapfel in »Eismitte« abgelöst. Doch entschied ich mich nach eingehender Aussprache für das Verbleiben in »Eismitte« aus diesen beiden Gründen: Die von Weiken und den andern »West«kameraden getroffenen Vorbereitungen für die mannigfachen Sommerarbeiten zwischen der Weststation und »Eismitte« erschienen mir so zweckmäßig, daß ich dort nichts hätte besser machen können. Und Loewe ging ja auch zur Westküste, der zum Verbindungsmann mit den dänischen Behörden und den Grönländern hervorragend geeignet war. Der andere Grund war der, die meteorologischen Arbeiten in »Eismitte«, in deren Besonderheiten ich nun eingearbeitet war, ohne Beobachterwechsel zu Ende zu führen. Man weiß ja, wie wichtig bei diesen Arbeiten eine gleichmäßige Handhabung aller Einzelheiten für die spätere Bearbeitung ist. Einen telegraphischen Bericht über unsere Beschlüsse für die Notgemeinschaft gab ich den Motorschlitten zur Weststation mit.
Jetzt hieß es die Zähne zusammenbeißen. Gewiß waren nun für die übrige Zeit genug Lebensmittel und Brennstoff vorhanden. Und Arbeit in Fülle. Denn nicht nur sollte die meteorologische Arbeit, im Winter notgedrungen eingeschränkt, der erwarteten Sommerwitterung entsprechend ausgebaut werden, sondern es galt auch, Sorges gletscherkundliche Messungen so gut als möglich fortzuführen. Aber zunächst kam ein Zusammenbruch, der schwer überwunden wurde, und trübe Stimmung blieb für den Rest des Sommers ständiger Gast in »Eismitte«.
Noch war Weikens Schlitten in der Ferne zu sehen, da erschien am Lagerplatz der Grönländer ein Hund. Polarhunde sind Allesfresser im eigentlichsten Sinn, geben also keinen angenehmen Nachbar für eine Höhlenwohnung ohne Tür und Schublade ab. Auch mußte der Hund meinen Kameraden fehlen. Also versuchen, ihn mit Prügeln auf der Spur nach West in Marsch zu setzen. Aber wollte oder konnte die trächtige Hündin nicht der Schlittenreise folgen, sie legte sich jedesmal im Schnee nieder, wenn ich, vom Hinterherlaufen im tiefen Schnee atemlos und in Schweiß gebadet, stehenblieb. Am folgenden Tag holte ich sie zur Burg heran, beim nächsten Schneesturm warf sie, in der Umwehrung des Turmes untergebracht, ihre Jungen, und mir blieb schließlich nichts anderes übrig, als diese umzubringen. In »Eismitte« lag ja ein Stapel Hundefutter, aber das war für spätere Arbeiten auf dem Inlandeis bestimmt und natürlich »tabu«. Aber man staune über die Anpassungsfähigkeit eines Polarhundes: in den 2½ Monaten meines Alleinseins hat er sich fast nur von unsern Exkrementen aus der Winterzeit ernährt und gedieh dabei! Mühsam war es freilich, die Wohnung dauernd gegen unerwünschte Besuche zu sichern. Aber zuweilen war es doch tröstlich, ein Lebewesen zu sehen.
Die Tageseinteilung war recht gleichförmig: Wie im Winter um 7.40 Uhr die Frühbeobachtung, darauf das Frühstück, das freilich immer öfter ausfiel. Dann je nach Witterung und sonstigen Umständen Instandsetzung von Instrumenten draußen oder – es herrschte auch im Sommer unerwartet schlechtes und oft genug stürmisches Wetter – feinmechanische Arbeiten im Wohnraum, wobei mit fortschreitender Jahreszeit die kleine Drehbank und anderes Werkzeug vor jeder Benutzung immer mehr zu unförmigen Klumpen bereift waren, Nachtragen und Anlegen von Tabellen, gelegentlich Photographie von Reifbildungen. Später, als ich das Viermann-Sommerzelt droben aufgebaut hatte, stand die Ernoflex-Kamera darin, immer bereit für Wolkenaufnahmen. Und es war manchmal, als sollte der Wechsel wundervollster Wolkenbildungen für die strenge Einförmigkeit der irdischen Landschaft entschädigen. – Mittagessen gab's nach der 14-Uhr-Beobachtung, durchweg für drei bis vier Tage auf einmal gekocht. Schlimm nur, daß der Magen anfing zu streiken. Daß Hafergrütze, unsere tägliche Morgenmahlzeit seit der Ankunft in Grönland, allmählich nicht mehr geschätzt wurde, mag nicht verwundern. Die Schlittenreise hatte auch Reis, Grieß und ähnliche im Winter von uns sehr gewünschte Nahrungsmittel mitgebracht, doch leider bekamen auch diese guten Dinge nicht so, wie ich es gewohnt war. Auch hierin, wie in schlechtem Schlaf, Schreckhaftigkeit, Ohrensausen, zeigte sich eine Überreiztheit des ganzen Nervensystems.
Nachmittags waren an jedem zweiten Tage die von Sorge erfundenen und gebauten »Schrumpf-Schreiber« neu einzustellen, wozu ich im Schacht bis elf Meter hinabsteigen mußte. Jeden vierten Tag großes Programm: Ablesung aller zwölf im Schacht eingebauten Thermometer. Ich gestehe, daß diese Arbeit recht angreifend war, hauptsächlich durch die Zwangsvorstellung, bei einer der zahlreichen Begehungen des 15 Meter tiefen Schachtes auszugleiten und mit gebrochenen Gliedern unten liegenzubleiben. Der eigenen Sicherheit dagegen dienten die regelmäßigen Messungen der Deckensenkung im Wohnraum. Gespannt beobachtete ich, ob sich von Mal zu Mal eine Zunahme der bisherigen Senkungsgeschwindigkeit ergebe, die auf baldigen Einsturz gedeutet hätte. Und ein paarmal in jeder Nacht schrak ich aus, wenn irgendwo krachende Geräusche den Einbruch anzukündigen schienen. Zuweilen wurden photographische Platten entwickelt, eine Arbeit, die sich jedesmal vom frühen Nachmittag bis gegen Mitternacht hinzog. Große Mengen Firn waren in verschiedenen Büchsen zu schmelzen und zu temperieren, Fixierbad und Geräte aufzutauen. War doch die Wohnraumtemperatur kaum höher als im Winter, im Gegenteil im Mai und Juni, infolge der geringeren Wärmeentwicklung beim Wohnen und Kochen, des Heruntersteigens der Winterkälte im Firn bis in die Tiefe und der durch starken Wind hervorgerufenen Luftbewegung durch die Wand der Höhle, zeitweise niedriger, etwa –10 Grad in Tischhöhe. Während der Entwicklung mußte der Entwickler mehrmals erwärmt werden, Wässern und Trocknen erforderten stundenlange, unausgesetzte Aufmerksamkeit.
Schon zeitiger im Frühjahr waren Strahlungsmessungen wieder begonnen worden. Die Sonnenstrahlung wurde fortlaufend aufgezeichnet durch einen neuentworfenen Bimetall-Aktinographen von Professor Robitzsch. Häufige Kontrollmessungen erfolgten mit einem Aktionmeter nach Professor Gorczynski, dessen wirksamen Teil, ebenso wie bei dem zur Messung der Himmelsstrahlung verwendeten »Solarimeter«, eine sehr empfindliche Mollsche Thermosäule bildet. Farbige Filterscheiben erlauben die Messung der Sonnenintensität in verschiedenen Spektralbereichen. Eine besondere und nur unvollständig zu behebende Schwierigkeit lag darin, daß sich durch die starke Ausstrahlung gegen den Himmel selbst im vollen Sonnenschein oft die Glashalbkugeln dieser Apparate und die Glasscheibe des Galvanometers so stark abkühlten, daß der im Instrument befindliche Wasserdampf sich an der Innenseite niederschlug, was jedesmal zwang, den betreffenden Apparat völlig auseinanderzunehmen und über dem Primuskocher oder über der Lampe zu trocknen. Alle diese Messungen ergaben eine ganz ungewöhnliche Reinheit und Durchlässigkeit der Atmosphäre über Grönland. Klimatisch sehr wichtig für die »Wärmebilanz« war Kenntnis der Ausstrahlung. Da zu ihrer Messung kein Instrument vorhanden war, versuchte ich ihre mittelbare Bestimmung durch Untersuchung der Abkühlung der Schneefläche bei sinkender Sonne. Dazu wurden im Laufe der Zeit mit Material, das ich durch Zerlegung anderer Instrumente gewann, verschiedene Thermosäulen gebaut, um sowohl durch sehr empfindliche derartige Apparate die Temperaturdifferenz Luft- gegen Schneeoberfläche, später die Temperaturdifferenz der Schneeoberfläche zu der durch die Tagesschwankung nicht mehr beeinflußten Temperatur des Firns in einhalb Meter Tiefe zu messen. Dazu wurden auch mehrere Messungsreihen durch Nächte hindurch fortgeführt.
Die wichtigste meteorologische Arbeit in Wegeners Plan betraf, wie bekannt, die Erforschung der Luftschichten in der Höhe über dem Inlandeis. Es war zu erwarten, daß ihr Zustand auch für das Klima der untersten Luftschichten verantwortlich ist, ebenso wie sich in den höheren Schichten die seit langem angenommene Beeinflussung der benachbarten Lufträume von Grönland aus nachweisen lassen mußte. In einem Wort, nach der bisherigen Auffassung, die Untersuchung der Natur und Auswirkung der » glazialen Antizyklone«, wobei sich diese letztgenannte Aufgabe auch an eigene frühere Untersuchungen anschloß Prof. Dr. A. Wegener, Denkschrift über Inlandeis-Expedition nach Grönland. »Deutsche Forschung« 5.2.1928. Karl Sigismund Verlag, Berlin.. Durch die mehr als vorgesehen primitive Art der Überwinterung und Ausrüstung wurde dieser Teil der Aufgaben leider am meisten beeinträchtigt. Während des schneesturmreichen Winters waren keine aerologischen Messungen außer Beobachtungen des Wolkenzuges möglich gewesen. Und während im vergangenen Herbst wenigstens einige gute Temperaturmessungen mit Fesselballonen möglich waren, hatten die empfindlichen Registrierinstrumente während des Winters derart Schaden genommen, daß die Messung des Luftdruckes durch das eingebaute Barometer nicht mehr einwandfrei gelang. Dieser Mangel ließ sich nur zum Teil dadurch ausgleichen, daß für die leichte und entsprechend einfache Handwinde ein Zählwerk für Messung der ausgelaufenen Drahtlänge hergestellt und die Höhe des Ballons annähernd aus dieser und dem Höhenwinkel des Ballons bestimmt wurde. Dagegen wurden Pilotballonaufstiege wieder von Mai ab ausgeführt, nachdem der etwa acht Kubikmeter große unterirdische Raum zum Füllen, der im Laufe des Winters gänzlich verschneit war, wieder ausgegraben war. Auch der Apparat zur Entwicklung des Wasserstoffgases sowie das Druckwerk des registrierenden Theodoliten waren während des Winters umgebaut worden; beide bewährten sich nun ausgezeichnet. Bis zum völligen Aufbrauch des Materials Mitte Juli konnten so noch 25 Pilotaufstiege, davon 25 über 10 Kilometer, der höchste mit 17,5 Kilometer Seehöhe, und 7 Aufstiege mit Fesselballon ausgeführt werden. Die Pilotaufstiege, gleichfalls die zahlreichen Messungen von Zugrichtung und Geschwindigkeit der Wolken ergaben nicht das bis dahin erwartete Vorherrschen der »glazialen Antizyklone« über der Station »Eismitte«, ohne daß bisher, vor eingehender Bearbeitung der Ergebnisse, eine andere einfache Vorstellung an deren Stelle gesetzt werden konnte.
Inzwischen war es Anfang Juli geworden, ohne daß die Propellerschlitten mit Sorge und Weiken gekommen wären. Und je weiter die Zeit verstrich, um so größer wurde meine Befürchtung, daß den Kameraden ein Unglück zugestoßen sei, mochte es auch nur sein, daß sie durch eine allgemeine Erkrankung der Menschen oder Hunde lahmgelegt wären. Ich mußte mich an den Gedanken gewöhnen, am 1. August, nach Ablauf meiner zwölfmonatigen Beobachtungszeit, die Rückreise nach der Westküste allein zu machen. Aus meinen Skiern und einem unbrauchbaren Korbschlitten wurde ein Schlitten gebaut, der die berechnete Last, Lebensmittel für einen Monat, Schlafsack, die wichtigsten Registrierinstrumente, Beobachtungsbücher und etwas Hundefutter, zusammen etwa 60 Kilogramm, tragen konnte. Als Hilfe beim Ziehen sollte die Hündin dienen. Die Beschreibung der Vorbereitungen, besonders des Einfahrens der Hündin, die anscheinend das Schlittenziehen völlig verlernt hatte, überschritte den hier verfügbaren Raum. Da erschienen kurz vor Toresschluß, am 24. Juli frühmorgens, Schif, Kraus und Sorge mit den beiden Propellerschlitten. Sorge konnte trotz der vorgeschrittenen Zeit seine schönen Eisdickenmessungen ausführen.