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Von Curt Schif
Propellerschlitten auf dem grönländischen Inlandeis! Die Verwirklichung eines Planes von Alfred Wegener, der nach dem Versagen aller im Polargebiet verwendeten mechanischen Transportmittel versuchte, Fahrzeuge einzusetzen, bei denen die Antriebskraft nicht unmittelbar auf den Boden wirkt.
Die Finnische Staatliche Flugzeugfabrik in Helsingfors, die während des Winters zum Verkehr zwischen den Helsingfors vorgelagerten Inseln Propellerschlitten verwendet, fertigte unsere beiden Motorschlitten als Sonderkonstruktion für die Zwecke der Expedition an. Wenige Wochen vor der Ausreise nach Grönland fuhr ich mit dem technischen Berater Alfred Wegeners, Herrn Dr.-Ing. Asmus Hansen, nach Helsingfors, um die Herstellungsarbeiten so zu beschleunigen, daß die Schlitten noch rechtzeitig fertiggestellt wurden. Mit der Freude am fertigen Werk meldeten sich jedoch auch leise Zweifel: Werden die Schlitten unsern Erwartungen entsprechen, oder werden sich auch bei diesem Transportmittel, wenn es erst einmal in Grönland seinen schweren Dienst verrichten soll, unüberwindliche Schwierigkeiten einstellen?
Noch einmal betrachteten wir die Motorschlitten, ehe sie in ihren riesigen Kisten für den Versand verschwanden. Knallrot lackiert und blitzblank standen sie da und erwarteten ihre letzte Prüfung. Wir waren zufrieden. Der Aufbau der Schlitten, stromlinienförmig, mit Kabinenführersitz, einem geräumigen Laderaum und hinten sitzendem Motor mit Druckpropeller, war trotz der mit Rücksicht auf Gewichtsersparnis gewählten leichten Bauweise äußerst fest. Vier breite und starke Skier aus Hickoryholz saßen paarweise, durch Gummizüge abgefedert, drehbar auf zwei Achsen. Das vordere Kufenpaar war nach Art einer Automobilsteuerung lenkbar. Ein luftgekühlter Siemens-Sh-12-Flugmotor von 112 PS Leistung diente jedem Schlitten als Antrieb. Für den Brennstoff war ein Behälter, der 200 Kilogramm faßte, im Schlitten eingebaut.
Nach sorgfältiger Auswahl der Ersatzteile und Werkzeuge verließen wir unsere Schlitten, um sie erst in Kopenhagen an Bord der »Disko« wohlverpackt wiederzusehen.
Bis Holstensborg ging alles gut. Dann kam die erste Überraschung. Wegener befürchtete, daß »Gustav Holm« an Deck nicht genügend Platz für die beiden »Güterwagen« hätte, wie die Propellerschlittenkisten genannt wurden. »Können die Dinger schwimmen?« fragte er. Ich lehnte kategorisch ab und merkte allerdings gleich, daß Wegener mir nur scherzhaft die tatsächlich bevorstehenden Schwierigkeiten beibringen wollte. Kapitän Vestmar von »Gustav Holm« hatte aber ein Einsehen. Rücksichtlos schaffte er Platz auf Deck. Große Wasserkästen wurden versetzt, Treppen wurden abgebaut, und schließlich waren die beiden Kisten untergebracht.
Bis zum endgültigen Ausladen unseres Expeditionsgepäcks an der Eiskante vor Uvkusigsat hatten wir nun Ruhe. Dann erhob sich von neuem die Frage, wie die Schlitten am zweckmäßigsten weiterbringen könnten. Obwohl das Eis im Kamarujuk-Fjord schon reichlich schlecht war, beschlossen wir doch, sie sofort bis zum Kamarujuk-Gletscher zu schaffen, und zwar mit Hilfe von Hunden, da das Eis zusehends schlechter wurde und wir mit dem Einbau der Motoren keine Zeit verlieren durften.
Das Ausladen der Schlittenkisten ging verhältnismäßig schnell. Für die Fahrt mußten jedoch noch die Achsen und die Skier an die Schlitten montiert werden. Diese Teile lagen aber irgendwo im Lastraum des Schiffes verstaut. Nach stundenlangem Suchen mit Hilfe der gesamten Schiffsbesatzung fanden wir sie. Die Schlitten waren bald montiert, und dann zogen wir los, mit sechs Hunden als Vorspann vor jedem Schlitten: meine Kameraden Sorge und Kelbl, zwei Grönländer als Kutscher und ich. Die Hunde zogen, was sie konnten, aber die Last war riesig schwer, und wir kamen nur langsam vorwärts. In Uvkusigsat holten wir für jeden Schlitten sechs weitere Hunde zur Verstärkung.
Unsere erste Fahrt mit den Propellerschlitten ließ sich ja ziemlich kläglich an. Anstatt der brausenden Fahrt, von der wir immer geträumt hatten, mußten wir vorerst schon froh sein, wenn wir mit den Hunden überhaupt weiterkamen. Selbstverständlich fehlte es auch nicht an wohlwollender Teilnahme unserer Kameraden, die sie zunächst damit bekundeten, daß sie uns den Spitznamen »Motorschoner« anhängten.
30 Kilometer waren es noch von Uvkusigsat bis zum Kamarujuk-Gletscher. Mit der Zeit kamen wir unserm Ziel näher, aber je weiter wir kamen, desto schlechter wurde auch das Eis. Die Grönländer bekamen es allmählich mit der Angst zu tun, und zwei Kilometer vor dem Ziel hielten sie an mit der kategorischen Erklärung, nicht mehr weiterzufahren. An der Stelle, wo die Schlitten standen, bog sich die Eisdecke durch, und im Nu hatte sich ein See gebildet. Wir mußten unter allen Umständen weiterkommen, wenn wir die Schlitten nicht absacken lassen wollten. Also verhandelten wir mit den Grönländern; wir versprachen ihnen ein lukullisches Mahl und einen Schnaps, wenn sie uns nicht im Stiche lassen würden. Der Schnaps zog. Im Sturm wurde der letzte Rest des Weges genommen. Halb liefen, halb schwammen die Hunde, während wir durch Schieben nachhalfen.
Als die Schlitten unversehrt vor dem Kamarujuk-Gletscher wieder auf festem Boden standen, hatten die Grönländer den größten Stolz; sie wußten, was für Helden sie waren. Wir Europäer aber betrachteten mit gemischten Gefühlen den Gletscher; wir konnten den Gletscherbruch, das Gewirr von Eisrippen und Spalten erkennen, den »Weg«, auf dem die Schlitten auf das Inlandeis gebracht werden mußten.
Wenige Tage später gingen wir mit Wegener zum erstenmal zur Erkundung der besten Aufstiegsmöglichkeit über den Gletscher. Bei dem Gedanken, daß hier Propellerschlitten transportiert werden sollten, konnte einem allerdings schwarz vor den Augen werden.
Wir begannen zunächst, die ausgesuchte Strecke einigermaßen begehbar zu machen. Wir wurden Bauarbeiter, spuckten fachmännisch in die Hände und schlugen mit der Eisaxt um uns, daß die Brocken flogen. Herdemerten, unser Sprengingenieur, räumte uns die größten Hindernisse mit etlichen Ladungen Sprengstoff elegant aus dem Weg. Jedesmal, nachdem der »Weg« auf eine Länge von etwa 150 Meter vorbereitet war, zogen wir die Schlitten und die Motoren nacheinander mit Hilfe einer Bauwinde, die wir im Eis verankert hatten, hoch. Waren die Schlitten und Motoren bis zur Winde gebracht, so wurde im nächsten Abschnitt zuerst wieder der Weg vorbereitet, dann die Winde wieder um 150 Meter weitergebracht und verankert, und schließlich wurden die Schlitten wieder nachgezogen.
Es war eine mühselige und zeitraubende Arbeit. Die Eisrippen, über die wir die Schlitten hinaufziehen mußten, bildeten oft Steigungen bis zu 70%. Die Spalten mußten überbrückt werden. Für die Verankerung der Winde benutzten wir zehn Proviantkisten, mit denen das »Windenbett«, zwei lange Bohlen, beschwert wurde. Sechzehn solcher Windenstellen waren erforderlich, um die Schlitten und Motoren vom Fuße des Gletschers bis zum Rand des Inlandeises, 900 Meter hoch, zu bringen. Sechs Wochen dauerte der Transport, und mehrfach hatte es den Anschein, als müßten wir die Schlitten elend steckenlassen, da es unmöglich erschien, mit den wenigen zur Verfügung stehenden Leuten den Bruch zu erzwingen. In solchen Fällen wurden aber sämtliche erreichbaren Expeditionskameraden mobil gemacht. Alle auf das Kommando »Hoch – Ruck« gleichzeitig mit Hebeln und Brechstangen einsetzend, ging es langsam, zentimeterweise, aber sicher vorwärts. Nie werde ich unser Freudengeheul vergessen, als am 9. August die letzte Strecke mit Hilfe Sorges und seiner aus Grönländern bestehenden Wegebauabteilung in einem Endspurt genommen wurde, der uns allen die Zunge zum Halse heraushängen ließ. Nun standen die Schlitten vor unserm Montagezelt, friedlich und mit einer im Hinblick auf die letzten sechs sauren Wochen geradezu herausfordernden Selbstverständlichkeit.
Wir waren glücklich, überglücklich, Kelbl, Kraus und ich. Endlich war der Augenblick gekommen, auf den wir uns schon so lange gefreut hatten, endlich sollten wir wieder mit Zange und Schraubenzieher umgehen dürfen, sollten einen Motor laufen sehen.
Etwa ein Kilometer südlich von Scheideck hatten wir unser Lager aufgeschlagen. In unserm grünen Zelt, das wir uns wohnlich eingerichtet hatten, und das später, auf Depot »Start«, unser dauerndes Heim war, schliefen wir und verrichteten darin solche Arbeiten, die wir nicht draußen in unserer »Freilicht«werkstatt ausführen konnten. Mit Hilfe unserer Kameraden und der Grönländer hatten wir bald alles Nötige wie Werkzeug, Instrumente, Luftschrauben und dergleichen herbeigeschafft. Die Einbauarbeiten gingen rasch von der Hand. Die Motoren wurden eingehängt, die Motorüberwachungsgeräte, die Feuerlöschanlage eingebaut, die Achsen nachgesehen und festgemacht, die Skier geteert und montiert. Dann kam der große Augenblick: die erste Motorprobe. Unsere Eskimo hatten sich dazu vollzählig eingefunden. Neugierig bestaunten sie die Wundermaschine und standen uns bei unserer letzten Arbeit im Wege, wo sie konnten. Indessen sandte ich einen Stoßseufzer zum Himmel, daß unser Motor so liebenswürdig sein sollte, anzuspringen. Wir wollten uns doch nicht gleich vor unsern grönländischen Zuschauern blamieren, und wer Flugmotoren kennt, weiß auch, daß sie launischer sind als alte Weiber. Aber er tat's. Im selben Augenblick, als der Motor lief, rannten auch schon die Grönländer ihren Mützen nach, die ihnen der Propellerwind vom Kopf geblasen hatte. Auf eine solche Wirkung waren sie nicht gefaßt gewesen. Für uns aber war es eine himmlische Musik, das Brummen des Motors, das uns den Beginn der Propellerschlittenfahrten verkündete, nach denen wir uns seit Monaten gesehnt hatten.
Die darauffolgenden Probefahrten sorgten jedoch dafür, daß unsere Bäume nicht gleich in den grönländischen Himmel hineinwuchsen. Es stellte sich heraus, daß die Aufhängung der Achsen für die höckrige Oberfläche des Inlandeises ungeeignet war. Die Achsen, die sich in Führungsschlitzen des Schlittenkastens bewegten, konnten sich in seitlicher Richtung zu weit verschieben, so daß die Aufhängeseile durch den Schlitz abgeschert wurden. Bald darauf eine neue Überraschung: Ein Magnet am Motor versagte! Glücklicherweise hatten wir hierfür einen Ersatz, der allerdings erst aus Kamarujuk heraufgeholt werden mußte. Schlimmer stand es um unsere Achsen. Wir mußten sie wieder ausbauen und Zwischenstücke einsetzen; das Material hierzu »verschafften« wir uns, indem wir von einem Pferdeschlitten die Stahlkufen nahmen.
Während dieser Arbeiten erhielten wir Besuch, Damenbesuch. Fräulein Österby, die Leiterin des Sanatoriums für grönländische Kinder in Umanak, hatte sich aufs Inlandeis gewagt. Wir benutzten diese Gelegenheit, unsere beiden Schlitten von zarter Hand auf die Namen »Schneespatz« und »Eisbär« taufen zu lassen. In Ermangelung einer Flasche Sekt, die eigentlich an den Schlitten hätte zerschellt werden müssen, wurde die Taufhandlung mit Schneebällen vollzogen.
Endlich, am 29. August, hatten wir die Schlitten so weit in Ordnung, daß wir mit den Fahrten endgültig beginnen konnten. Wegener hatte sich inzwischen bei uns eingefunden; er wollte selbst an den ersten Fahrten der Schlitten teilnehmen und, wenn möglich, mit ihnen nach »Eismitte« fahren. So waren wir also vier Mann Besatzung: Im »Eisbär« Kelbl und Kraus, die sich in der Führung abwechselten, im »Schneespatz« Wegener als Passagier und ich als Führer.
Um nicht immer die Randzone des Inlandeises mit den unangenehmen Spalten durchfahren zu müssen, gründeten wir, zwölf Kilometer östlich von Scheideck, das Depot »Start« und siedelten mit Haus und Hof von unserm Montageplatz mit eigener Kraft dorthin über. Weiken hatte uns schon seit mehreren Tagen mit Hundeschlitten Benzin nach »Start« gefahren und bei dieser Gelegenheit einen für die Propellerschlitten fahrbaren Weg durch das Spaltengebiet ausgesucht.
Auf halbem Weg dorthin sahen wir in der Ferne schwarze Punkte, die sich langsam bewegten. Hundeschlitten! Unwillkürlich bekam der Motor einen »Zahn« mehr Gas, trotzdem die Spalten auf unserm Weg und das durch Eishöcker und Bachbetten etwas holperige »Pflaster« zu vorsichtigem Fahren mahnten. Wir holten rasch auf. Wegener zählte die Schlitten; es waren zwölf, die dritte große Schlittenreise, die mit Sorge, Wölcken, Jülg und neun Grönländern heute in Scheideck nach »Eismitte« gestartet war. Fast gleichzeitig erreichten die Hunde- und die Propellerschlitten ihr heutiges Tagesziel, das Depot »Start«.
Die Grönländer waren sprachlos; sie hatten es sich nicht vorstellen können, daß ein Schlitten ohne Hunde fahren könnte, und sie begriffen es immer noch nicht, wie wir hierhergekommen waren, lediglich dadurch, daß sich am Schlitten ein Stück Holz in der Luft herumdrehte.
Auf dieser kurzen Fahrt hatten wir zum erstenmal Gelegenheit, die angenehmen Seiten einer Propellerschlittenreise kennenzulernen und Erfahrungen bei der Überwindung auftretender Schwierigkeiten zu sammeln.
In der bequemen, geschlossenen Kabine sitzend, geschützt vor Wind und Wetter, hatten wir in kurzer Zeit unser Ziel erreicht. Für Wegener war es ein besonderer Genuß, während einer Schlittenreise gemütlich seine geliebte Pfeife rauchen zu können. Im gepolsterten Sitz, »Zweiter Klasse«, über das Inlandeis zu fahren, bezeichnete er als unerhörte Schlemmerei. Er kannte ja Hunde- und Handschlittenreisen zur Genüge. Und gerade deshalb war für ihn diese erste, wenn auch kurze Fahrt mit den Propellerschlitten ein besonderes Erlebnis gewesen.
Anderseits zeigte uns aber auch diese Fahrt, daß man, um vorwärts zu kommen, nicht nur am Gashebel zu regulieren brauchte und dann den Schlitten nach Belieben steuern konnte, sondern daß man im Laufe der Fahrten auf mancherlei Schwierigkeiten gefaßt sein mußte. Schon vor der Abfahrt streikte der Motor vom »Eisbär«. Mit der nötigen Geduld und den erforderlichen Mengen Äther konnten wir ihn schließlich zum Anspringen bringen. Dann, als die Motoren mit Vollgas liefen, rührten sich die Schlitten nicht vom Fleck, sie waren am Boden festgebackt und mußten erst mit Stangen losgebrochen werden. Auf dem unebenen Gelände des Randgebietes mußte außerdem besonders vorsichtig gefahren werden, da befürchtet werden mußte, daß das Fahrwerk bei den harten Stößen beschädigt würde.
Am nächsten Tag hatten wir vor der bevorstehenden großen Reise noch alle Hände voll zu tun. Die Kompasse mußten kompensiert, verschiedene Änderungen an Schlitten und Motoren durchgeführt werden; es waren die letzten Vorbereitungen. Sorge, Wölcken und Jülg brachen unterdessen mit ihren Grönländern auf. Mit gemischten Gefühlen sahen wir Propellerschlittenleute den abziehenden Hundeschlitten nach, von denen einer nach dem andern im Osten am Horizont verschwand. Einerseits beneideten wir sie. Bei ihrer Reise gab es keine unbekannten Faktoren mehr. Sie wußten, daß sie sich auf ihre Hunde verlassen konnten, daß sie zwar langsam, aber sicher weiterkommen würden; sie reisten nach der Methode, die viel älter ist als jede Polarforschung. Was aber wußten wir von unsern Propellerschlitten? Wir tappten noch gänzlich im Dunkeln; wir mußten erst einmal abwarten, wie sich unsere Kasten dem Inlandeis gegenüber benehmen würden, wir hatten eben die ersten Schritte getan, uns unsere eigene Reisemethode zu schaffen, hatten erst gestern auf dem Inlandeis »gehen gelernt«. Anderseits aber brach das aus unserer stetigen Hoffnung geborene Gefühl der Überlegenheit durch, ein Gefühl, das sich etwa mit dem vergleichen läßt, das ein neugebackener Herrenfahrer mit einem X-pferdigen Wagen, aber noch tintenfeuchtem Führerschein empfindet, wenn er zum erstenmal einen Radfahrer überholt. Zwar wußten wir, daß die bereits aufgetretenen Schwierigkeiten nicht die einzigen bleiben würden, sondern daß uns vielleicht jeder Tag vor neue Aufgaben stellen konnte. Dennoch, oder gerade deshalb, waren wir aber unermeßlich glücklich, daß die Schlitten ihre erste Probe bestanden hatten, daß sie uns gestern dieses kleine Stückchen Weg willig gefahren hatten, daß sie uns gezeigt hatten: es geht!
Bis jetzt war uns der Wettergott freundlich gesinnt gewesen. Aber ausgerechnet in dem Augenblick, wo wir endlich fertig waren, wo wir mit den Schlitten Nutzlast fahren wollten, legte Petrus ein Veto ein in Gestalt ausgiebigen Neuschnees und heftigen Gegenwindes aus Osten. Trotzdem starteten wir am Tage darauf bei unsichtigem Wetter mit 450 Kilogramm Nutzlast, Proviant und Reisezelt in jedem Schlitten. Wieder hatten wir einen ungewöhnlich schweren Start. Auf dem backenden Neuschnee klebten die Schlitten wie angewachsen. Es war zum Verzweifeln! Bei voll laufendem Motor rüttelten und schoben wir mit Hebeln, alle vier Mann an einem Schlitten; aber es dauerte stundenlang, bis er in Bewegung kam. Erst dann kletterte der Führer in den Führerraum und fuhr so lange Runden, bis die übriggebliebenen drei Mann den andern Schlitten auf die gleiche Weise in Gang gebracht hatten. Wir lernten es jedoch bald, den Start leichter zu gestalten, indem wir sofort beim Anhalten Brettchen unter die Kufen legten oder aber vor dem Start die Gleitflächen sämtlicher Kufen von allen anhaftenden Schnee- und Eisresten säuberten.
Leider war die Strecke vom Depot »Start« bis zum Depot bei km 25 nicht durch Fahnen markiert, da die vorhergehenden Schlittenreisen den Weg stets nach den zahlreichen Schlittenspuren mühelos finden konnten. Der jetzige Neuschnee hatte diese Spuren aber völlig verdeckt. Wir fuhren daher nach dem Kompaß, in der Hoffnung, nach einer der Weglänge entsprechenden Fahrzeit die durch Fahnen ausgesteckte Route zu finden. Wir hatten uns aber verrechnet. Das herrschende zerstreute Licht und das dichte Schneetreiben erschwerten die Ortsbestimmung und das Zurechtfinden in hoffnungsloser Weise. Eine weitere Enttäuschung wurde uns durch die auf dem Wege liegenden Hänge beschert. Bei dem starken Gegenwind und dem nassen Neuschnee kamen die Schlitten nicht senkrecht gegen die Steigung an. Bei dem Gedanken an die mühselige Würgerei beim Start spürten wir auch kein besonderes Verlangen danach, unter Umständen gegen den Hang und gegen den Wind steckenzubleiben. Wir mußten daher an solchen Stellen »kreuzen« und konnten, wenn die Verhältnisse ungünstig waren, bei diesem Manöver manchmal nicht »über Stag« gehen, sondern mußten »halsen«. Wehe, wenn einmal ein Schlitten steckenblieb! Wir mußten dann die ganze Last ausladen, den Schlitten mit Hebeln auf der Stelle um 180 Grad drehen, so daß er, nachdem er wieder beladen war, mit dem Wind im Rücken hangabwärts in Fahrt gebracht werden konnte.
Nachdem wir mehrere Stunden gefahren waren, mußten wir den Versuch, den Anschluß an die Reihe der schwarzen Fähnchen zu erreichen, aufgeben. Wir kehrten um und versuchten auf gut Glück wenigstens wieder unser Zelt beim Depot »Start« zu erreichen. Allerdings waren die Aussichten dazu bei diesem Wetter nicht gerade glänzend, zumal wir keine Ahnung hatten, wo wir bei der Umkehr waren. Wir vertrauten wieder unserm Kompaß und steuerten danach heimwärts. Wir hatten Dusel! Trotz der gänzlich fehlenden Sicht stießen wir nach einigen Irrfahrten wieder auf unser Zelt.
Damit war unser erster Ausflug beendet. Unsere gesamte Last hatten wir wieder zurückgebracht. Außer dem Verlust verschiedener Kannen Benzin, die wir auf unserer Fahrt verbraucht hatten, und außer einigen weiteren unsere Begeisterung dämpfenden Erfahrungen hatten wir nichts zu buchen.
Am 2. September klarte das Wetter auf. Sofort machten wir einen Vorstoß, um den Anschluß an die Route bei km 25 zu finden. Mit dem leeren »Schneespatz« fuhren Wegener, Kelbl, Kraus und ich los. Wegener stand im Lastraum und peilte nach den Randbergen die Richtung. Es wurde ein wundervolles Erlebnis. Eine weiche Schneedecke lag jetzt auf dem Inlandeis, so daß der Schlitten wie auf Daunen daherschaukelte. Die ausgezeichnete Sicht ließ uns das Depot bei km 25 und damit den Anschluß an den markierten Weg finden. Mit Hilfe eines dort schnell aufgegriffenen Paketes mit Fahnen steckten wir auf der Rückfahrt den Weg bis zu unserm Zelt aus.
So kurz die Fahrt auch war, ihr Eindruck auf uns war überwältigend. Nun wußten wir, wie es ging, wenn Petrus wollte! Klare Sicht, kein Gegenwind und gute Bahn, Herz, was begehrst du mehr?! Selbst die Steigungen hatten uns nichts anhaben können, unsere Schlitten nahmen sie mit Schwung. Kein Wunder, daß unter solchen Umständen unser Hoffnungsbarometer in die Höhe kletterte!
Unsere Freude sollte aber nicht lange dauern. Schon am selben Abend tobte wieder der Sturm über das Inlandeis; übermannshohes Schneefegen ließ uns nicht mehr die Hand vor den Augen sehen.
Der Versuch, am nächsten Tag trotz dieses fürchterlichen Wetters eine Fahrt mit Last auszuführen, scheiterte. Nach wenigen Kilometern blieb der »Schneespatz« am Hange stecken und konnte nur mit Mühe wieder flottgemacht werden.
Endlich, am 5. September, glückte die erste größere Reise. Zwar waren die Wetterverhältnisse immer noch reichlich schlecht – wir hatten wieder Gegenwind und Schneefegen –, aber wir kamen wenigstens vorwärts. Bei 50 Kilometer Randabstand krebsten wir die Hänge im Fußgängertempo, immer »kreuzend«, hoch. Das andauernde Schneefegen, das mit dem Gegenwind unmittelbar auf uns zukam, gab dem Inlandeis den Anschein, als ob dessen Oberfläche in rasender Bewegung wäre, und täuschte uns in der Führerkabine eine »Affenfahrt« der Schlitten vor. Wir schwammen förmlich in dem weißen Chaos, aus dem von Zeit zu Zeit geisterhaft die schwarzen Fähnchen der Wegmarkierung auftauchten und wieder verschwanden. Da wir weder Himmel noch Boden sahen, merkten wir nur an den Stößen, die wir beim Überfahren der harten Schneewehen bekamen, daß wir auf dem Boden fuhren.
Von km 50 ab wurde es besser. Das Gelände wurde flacher, so daß wir geradeaus in Richtung Osten fahren konnten. Nach 6½ Stunden Fahrzeit war unser Benzintank leer. Wir waren bei km 85 angekommen. Dort deponierten wir unsere Last, die hauptsächlich aus Benzin bestand, tankten von unserm Vorrat und traten wieder die Heimreise an. Mit leeren Schlitten, den Wind im Rücken und bergab hatten wir leichte Fahrt. Leider konnten wir diese günstigen Verhältnisse nicht so ausnutzen, wie wir es gewünscht hätten, da die Unebenheiten des Geländes so groß waren, daß im allgemeinen nicht mehr als 30 Kilometer Stundengeschwindigkeit gefahren werden konnte. Bei höheren Geschwindigkeiten bestand die Gefahr, daß das Fahrwerk der Schlitten zu Bruch ging. Nach einer herrlichen dreieinhalbstündigen Fahrt erreichten wir am selben Abend wieder unser Zelt beim Depot »Start«.
Die Erfahrungen, die wir auf dieser Reise gesammelt hatten, waren ausschlaggebend bei der Einteilung unseres Fahrtprogramms. Abgesehen davon, daß das Wetter der vorgeschrittenen Jahreszeit entsprechend bereits große Schwierigkeiten mit sich brachte, hatte sich doch auch gezeigt, daß die Motoren für die im Randgebiet liegenden Steigungen und bei dem starken Gegenwind etwas zu schwach waren. Wir waren deshalb auf die Tage mit einigermaßen günstigen Wetterverhältnissen (Wind von erträglicher Stärke und ausreichende Sicht) und mit leidlicher Fahrbahn angewiesen. Bezüglich der Zuladung wurden unsere Erwartungen erfüllt: Wir konnten 500 Kilogramm reine Nutzlast je Schlitten befördern. Ungünstiger stand es aber mit den Geschwindigkeiten und infolgedessen mit der Reichweite. Zwar hatten wir bisher nur die besonders schlechten Verhältnisse des Randgebietes kennengelernt – jenseits dieser Zone waren die Fahrbedingungen ungleich besser –, doch genügten diese Erfahrungen, um uns von der Notwendigkeit zu überzeugen, die Strecke bis »Eismitte« zu unterteilen und auf die einzelnen Abschnitte Brennstoffdepots vorzuschieben, da unsere Tanks nur Brennstoff für sechs bis sieben Stunden Fahrzeit faßten.
Und nun begannen wir zu fahren, was das Zeug hielt. Bei jedem annehmbaren Wetter brummten die Motoren, klapperten die Kufen über die Schneewehen, und die Schlitten ächzten unter ihren Lasten, daß sich die Achsen bogen. Buchstäblich zu nehmen! Die Hinterachsen beider Schlitten hatten zuletzt verzweifelte Ähnlichkeit mit einem Flitzbogen. Aber darauf konnten wir keine Rücksicht nehmen. Für uns gab es jetzt nur noch eine Parole: Last fahren, hinein nach »Eismitte«, so schnell wie möglich, ehe der Winter da ist!
Wegener verließ uns wieder, er ging zurück zur Weststation, um die letzte Hundeschlittenreise dieses Jahres vorzubereiten. An seiner Stelle fuhr Weiken, später Lissey mit uns.
In der folgenden Zeit konnte jeder Schlitten an sieben Fahrtagen rund 800 Kilometer zurücklegen. Trotzdem das Wetter in dieser Zeit nicht immer freundlich gewesen war, war es bei diesen Fahrten gelungen, unter Ausnutzung jeder Fahrgelegenheit sämtliche Brennstoffdepots für eine Reise nach »Eismitte« anzulegen und neben 1000 Kilogramm Brennstoff und Öl die für die Station »Eismitte« bestimmte Last: das Haus für die Überwinterung, 500 Liter Petroleum, Hausrat und Instrumente, insgesamt etwa weitere 1400 Kilogramm, nach km 200 zu bringen. Gelegentlich versuchten zwar unsere Motoren, unfreundlicherweise zu streiken. Als es ihnen zu kalt geworden war, vereisten die Brennstoffzuleitungen und die Vergaserdüsen. Auch ließen sie sich mehrfach lange Zeit nötigen, ehe sie sich zum Anspringen bequemen konnten. Ein Öltankbruch bei km 85 hätte leicht verhängnisvoll werden können, wenn wir den Schaden nicht noch rechtzeitig bemerkt hätten und ihn mit unsern Universalmitteln Bindfaden, Isolierband und Draht behelfsmäßig hätten abdichten können.
Wir hatten auch bald gelernt, bei unsichtigem Wetter zu fahren. Der Führer hielt nach dem Kompaß den Kurs, während der Beifahrer in den Lastraum kletterte, von wo aus er eine viel bessere Übersicht über das Gelände hatte, und nach den Fähnchen spähte. Durch Klopfzeichen auf das Dach des Führerraums »franzte« er dann den Führer auf die markierte Route.
Jedesmal, wenn wir die Strecke von »Start« nach km 50 hinter uns hatten, atmeten wir auf. Außer den allerdings immer lästigen Schneewehen hörten dann die Geländeschwierigkeiten auf, und unsere braven, immer zum Brechen vollgeladenen Schlitten konnten dann das eines Motorfahrzeuges einigermaßen würdige Tempo von etwa 25 Kilometer in der Stunde erreichen. Die Motoren, die vorher stets ihr Äußerstes hatten hergeben müssen, konnten dann etwas gedrosselt werden; sie dankten uns auch diese freundliche Behandlung dadurch, daß sie uns bisher noch nie ernstlich im Stich gelassen hatten. Eine dieser Fahrten machten der Polarforscher Peter Freuchen und Magister Larsen mit, die von Umanak aus die Expedition besuchten.
Am 17. September machten wir den endgültigen Angriff auf »Eismitte«. Den größten Teil der Last sowie einige Kannen Benzin hatten wir bereits bis km 200 vorgeschoben. Nun fuhren wir mit dem letzten Rest und einer gewaltigen Ladung Brennstoff von unserm bei km 85 angelegten Depot erneut in Richtung Osten. Wir waren wieder vier Mann, nur fuhr bei mir im »Schneespatz« an Stelle Wegeners Lissey mit. Nach fünf Stunden Fahrt kamen wir abends kurz vor Anbruch der Dunkelheit zum zweitenmal bei km 200 an. Wir erhielten einen unerwarteten Empfang. Unsere Kameraden Wölcken und Jülg waren eben, auf ihrer Hundeschlittenreise von »Eismitte« mit ihren Grönländern zurückkehrend, hier angekommen. Wir bereicherten die schon fertige Zeltstadt schnell noch mit unsern beiden Zweimannzelten, schmierten die Motoren ab und hüllten sie sorgfältig ein. Dann, nach dem Abendbrot, saßen wir zusammen und tauschten unsere Erlebnisse aus.
Die letzten Fahrten mit den Propellerschlitten waren so programmmäßig verlaufen, daß wir mit Berechtigung hoffen durften, am nächsten Tag von hier aus nach »Eismitte« fahren zu können. In bester Stimmung legten wir uns in den Schlafsack, froh, unserm Ziel auf Handbreite nahegekommen zu sein. – Es sollte aber anders kommen. –
Dicker Nebel und Schneetreiben empfingen uns am nächsten Morgen, als wir früh um 6 Uhr zum Aufbruch rüsten wollten. Sollte uns das Wetter in letzter Minute doch noch einen Streich spielen? Tatsächlich war unter diesen Umständen an einen Start nicht zu denken. Resigniert zogen wir uns wieder in unsere Zelte zurück und hielten Kriegsrat. Wollten wir »Eismitte« erreichen, dann mußten wir mit unserm Brennstoff haushalten. Auf keinen Fall durften wir unsere Reise dadurch aufs Spiel setzen, daß wir im Nebel, ohne dem Fähnchenweg folgen zu können, losfuhren und später durch Suchfahrten nach der Route unser wertvolles Benzin verbrauchten, Es blieb nur eine Möglichkeit: warten, bis das Wetter gnädiger gesinnt war. Ein trostloser Entschluß, dessen Tragweite bei der herrschenden Jahreszeit uns nur allzu deutlich vor Augen stand.
Wieder reisten die Hundeschlitten ab, während wir festgeleimt waren. Der Tag ging vorüber, ohne daß auch nur einen Augenblick lang die Aussicht bestanden hätte, fahren zu können. Es wurde kalt, und mit dem Thermometer sank auch unsere Stimmung. Mit wachsender Sorge sahen wir, wie wir allmählich einschneiten. In wenigen Stunden war unser Zelt so zugeweht, daß wir Mühe hatten, herauszukommen. Auch der nächste Tag brachte vorläufig keine Besserung. Wir hatten uns geduldig mit unserm Schicksal abgefunden und warteten weiter. Schließlich mußte das Wetter doch einmal besser werden.
In unsern kleinen Zelten wurde es bereits ungemütlich. Kleider und Schlafsäcke waren naß; beim Kochen war das Zelt sofort wie eine Waschküche mit Wasserdampf erfüllt. Doch als es gegen Abend bei -30 Grad Celsius etwas aufklarte, erwarteten wir mit neuer Hoffnung den nächsten Morgen.
Und nun folgten zwei Tage, die uns beinahe zur Verzweiflung brachten. Das Wetter wurde besser, so daß wir wenigstens die nächsten Fahnen sehen konnten. Wir stürzten uns auf die Schlitten, die in den letzten Tagen stark eingeschneit und eingeweht waren, um sie klarzumachen. Zuerst versuchten wir, den Motor vom »Eisbär« anzulassen. Mit vieler Mühe und den entsprechenden Mengen Äther, die wir in die Ansaugleitung einspritzten, gelang es auch, ihn zum Laufen zu bringen. Aber beim »Schneespatz« hatten wir kein Glück. Der Motor wollte einfach nicht. Weder Äther noch heißes Öl, gütliches Zureden oder wohlgemeinte Aufforderungen in einer etwas derberen Sprache vermochten ihn, sich zum Laufen zu bequemen. Stundenlang drehten wir abwechslungsweise den Propeller, vorwärts und rückwärts, schnell und langsam, sahen die Zündkerzen nach, kurz, wir taten alles, was man in solchen Fällen mit einem Flugmotor anfangen kann, alles erfolglos. Schließlich, nachdem wir ihn 1½ Stunden lang mit Primus und Lötlampen »angeheizt« hatten, ergab er sich und leierte los. Einen ganzen Tag hatte uns dieses Manöver gekostet. Einen weiteren Tag kostete uns das Ausgraben und Flottmachen der Schlitten; für jeden mußten wir erst eine Startbahn schaufeln, während der Motor mit Vollgas lief, versuchten wir dann, mit Hebeln und Rütteln die Schlitten in Bewegung zu setzen. Wohl brachten wir sie immer einige Zentimeter weit vorwärts, aber sie in Fahrt zu bringen, erschien aussichtslos. Die dort, in 2500 Meter Seehöhe, herrschende dünne Luft bewirkte vollends, daß wir abends um 5 Uhr von den körperlichen Anstrengungen des Tages völlig erschöpft in unser Zelt krabbelten, um den nächsten Tag abzuwarten, der uns wieder Schneesturm und Nebel brachte und der so zwangsläufig dafür sorgte, daß wir uns wartenderweise von den Anstrengungen erholen und auf neue vorbereiten konnten.
Unser Proviant schmolz allmählich zusammen. Die Lage konnte kritisch werden, wenn uns das Wetter noch länger gefangenhalten wollte. Wir hatten den bei km 200 liegenden Notproviant, der aus einigen Büchsen Pemmikan bestand, bereits angegriffen.
Tags darauf war es das erstemal, seit wir hier waren, daß wir morgens aufstanden, ohne Nebel oder Schneesturm zu haben. Es klappte alles wie noch nie. Wir waren natürlich auch entsprechend auf Draht. Nach dem Morgenpemmikan wurden sofort die Schlitten erneut vom Schnee freigeschaufelt. Die Motoren sprangen überraschenderweise schnell an, und die Schlitten, aus denen wir, um besser loszukommen, die Last ausgeladen hatten, kamen ohne besondere Schwierigkeit in Fahrt. Wir fuhren einige Runden und hielten die Schlitten auf der Spur wieder an, um so den Start mit Last leichter zu gestalten. Dann wurden die Zelte aufgeladen und mit der Last im Schlitten verstaut.
Kaum gestartet, mußten wir aber zu unserer Enttäuschung feststellen, daß wir wieder einmal die Rechnung ohne den Wirt gemacht hatten. Infolge des hohen Neuschnees und des Gegenwindes kamen die schwerbeladenen Schlitten in Richtung nach Osten nicht vorwärts. Obgleich der Motor mit Vollgas lief und der Beifahrer, der rasch aus dem Führersitz gesprungen war, durch Schieben nachhalf, blieben wir stecken. Wir merkten jetzt, daß es aussichtsloses Beginnen war, weiterhin gegen die Macht des plötzlich über uns hereingebrochenen Winters anzukämpfen. Wir mußten die Waffen strecken und uns mit der Tatsache abfinden, daß es für dieses Jahr mit dem Reisen mit Propellerschlitten auf dem Inlandeis endgültig vorbei war.
Trotzdem war es für uns ein unsäglich schwerer Entschluß, jetzt, nachdem alle Vorarbeiten geleistet waren, nachdem genügend Brennstoffdepots ausgefahren waren, eine Tagereise vor dem Ziel umzukehren. Aber was blieb uns anderes übrig? Eine Fahrt mit Last war ausgeschlossen. Vielleicht hätten wir die Schlitten ohne Last bis »Eismitte« durchbringen können; dies wäre jedoch völlig zwecklos gewesen. Entsprechend niedergeschlagen luden wir ab und stellten die Last in einem Depot zusammen.
Mit Rückenwind und leeren Schlitten kamen wir in Richtung nach Westen, heimwärts, leidlich gut voran. Wir hatten für die Rückfahrt einen weiteren Passagier als Zuwachs erhalten: ein Hund, der bei der letzten Hundeschlittenreise unterwegs zurückgeblieben war, hatte sich bei uns eingefunden. Nachdem wir ihm mit etwas Pemmikan wieder auf die Beine geholfen hatten, wurde er mit Leinen im Frachtraum eines Schlittens festgebunden. Nach 4½ Stunden Fahrt hatten wir bereits 150 Kilometer zurückgelegt, als plötzlich mein Motor am »Schneespatz« verdächtig unruhig lief. Ich hielt sofort an; es war leicht festzustellen, daß einer oder mehrere Kolben gefressen hatten. Die Kühlung war infolge der langen Fahrt mit Rückenwind nicht ausreichend gewesen; der Motor war zu heiß geworden.
Wir waren nur noch 39 Kilometer von unserm Depot »Start« entfernt. Da es bereits anfing, dunkel zu werden, zogen wir es vor, keine Zeit mit der Instandsetzung des Motors zu verlieren, zumal mit unserm Bordwerkzeug solche größeren Arbeiten nur behelfsmäßig hätten ausgeführt werden können. Wir entschlossen uns daher, den »Schneespatz« stehenzulassen und alle vier Mann nebst Hund mit dem »Eisbär« so schnell als möglich die kurze Strecke nach Hause zu fahren. Wir konnten ja dann leicht wieder mit dem nötigen Sonderwerkzeug zum »Schneespatz« zurückkehren, den Schaden beheben und ihn dann ebenfalls zur Weststation zurückbringen.
Anscheinend war jedoch der »Eisbär« von seinem Bruder angesteckt worden. Schon nach acht Kilometer zeigten sich bei ihm die gleichen Erscheinungen. Ein Glück, daß außer uns niemand auf dem Inlandeis war, der mit anhören konnte, welche Liebenswürdigkeiten wir ihm zuflüsterten! Auch er hatte Kolbenschaden. Die Nacht war inzwischen angebrochen, so daß wir vorläufig nichts Besseres tun konnten, als Zelt zu schlagen und den nächsten Tag abzuwarten, um dann zu versuchen, den Schlitten flottzumachen. Mit der entsprechenden Wut im Bauch lagen wir im Schlafsack! Wenn wir wenigstens etwas zu rauchen gehabt hätten! Der letzte Krümel Tabak war aber schon lange den Weg alles Irdischen gegangen, und auch in unsern Lebensmittelkisten war ebensolange außer Pemmikan und Salz nichts Eßbares mehr zu finden.
Am andern Morgen gab es eine Überraschung. Als wir eben aus unsern Schlafsäcken krochen, bekamen wir Besuch. Wir trauten unsern Augen nicht: Wegener und Loewe standen plötzlich vor uns. Sie waren mit 13 Grönländern, insgesamt 15 Hundeschlitten stark, unterwegs nach »Eismitte« und hatten heute nacht drei Kilometer westlich von uns Lager geschlagen. Die Grönländer hatten gestern schon unsere Taschenlampen gesehen; als sie dann heute früh den Propellerschlitten erkannt hatten, waren unsere beiden Kameraden uns sofort entgegengefahren. Vorsorglich hatten sie gleich eine Kiste Proviant mitgebracht.
In unserm Zelt hockten wir nun zu fünfen. Wegener mußte zuerst seinen Tabaksbeutel die Runde machen lassen. Dann erfuhr er unser Schicksal, und merkwürdigerweise war er darüber nicht einmal besonders überrascht, obgleich er am besten von uns allen wußte, was der Ausfall unserer Reise für die ohnehin schwierige Versorgung von »Eismitte« bedeutete. Er selbst hatte uns schon mit Sorgen losfahren sehen und war bezüglich der jetzt noch erreichbaren Leistungen wegen der späten Jahreszeit stets weniger optimistisch eingestellt gewesen als wir. So schwer dieser Schlag für ihn war, er wußte, daß er von höherer Gewalt geführt war, und war dankbar, daß mit Hilfe der Motorschlitten die Last wenigstens soweit hatte gebracht werden können. Bald waren seine Gedanken gänzlich damit beschäftigt, auszurechnen, wie er mit seiner Hundeschlittenreise möglicherweise einen Teil dieser Last weiterbringen könnte. Er beschloß, nur das Notwendigste für »Eismitte« mitzunehmen und vor allem den ganzen Proviant für den dritten planmäßig zur Überwinterung auf »Eismitte« vorgesehenen Mann hier niederzulegen und diese Station nur durch zwei Leute, Georgi und Sorge, den Winter über besetzt zu lassen. Dafür sollte von dem bei km 200 liegenden Petroleum soviel als möglich nach »Eismitte« gebracht werden.
Nach einem opulenten Frühstück aus der neuen Proviantkiste – für uns eine gewaltige Schlemmerei, weil es jetzt morgens wieder etwas anderes als Pemmikan zu essen gab – kehrten Wegener und Loewe zu ihren Grönländern zurück, während wir uns dem widerspenstigen Motor zuwendeten. Als wir ihn eben zur Probe laufen ließen, kamen die Hundeschlitten vorbei: eine Karawane von 15 »betriebssicheren« Schlitten, wie wir mit einem wehmütigen Blick auf unsern Motor feststellen mußten. Einer der Grönländer, Ole Kruse, hatte allerdings auch schon »Bruch« gemacht. Sein Grönländerschlitten, der mit provisorischen Holzkufen versehen war, war zusammengebrochen. Er mußte daher umkehren und sollte mit den Propellerschlitten zurückfahren.
Mit Ole Kruse und einem weiteren aufgesammelten Hund starteten wir nach notdürftiger Reparatur des Motors gegen Abend. Ein paar Kilometer weit kamen wir, dann war die Bescherung wieder da. Ohne gründliche Instandsetzung wollte es der Motor nicht mehr schaffen. Wir ließen daher den Schlitten, über den wir uns jetzt genügend geärgert hatten, stehen. Unser »Rettungsboot«, ein kleiner Korbhandschlitten, den wir für Notfälle stets mitführten, wurde in Betrieb gesetzt, ein Zweimannzelt, unsere Schlafsäcke sowie ein Primus, mit Petroleum gefüllt, daraufgeladen, unsere beiden Hundefindlinge mittels von Ole angefertigten Geschirren davorgespannt, und dann zogen wir los. Die 29 Kilometer bis »Start«, eine Fahrstunde mit den Propellerschlitten, hofften wir trotz des Neuschnees wenigstens in einem Tag zu Fuß zurücklegen zu können.
Als es gänzlich Nacht geworden war, machten wir halt, wir waren am Anfang der Spaltenzone angekommen und wollten diesen Teil des Weges lieber am Tag zurücklegen. In unserm bescheidenen Zweimannzelt richteten wir uns so wohnlich ein, als es ging, d. h. wir legten uns zwei Mann mit dem Kopf nach einer Seite, drei mit dem Kopf nach der andern wie die Ölsardinen übereinander in die Schlafsäcke. Da unter diesen Umständen an Schlaf nicht zu denken war, vertrieben wir uns die Zeit, jeder auf seine Weise. Draußen war es empfindlich kalt, so daß wir, um uns aufzuwärmen, unsern Primus so lange in Betrieb hielten, als seine Füllung ausreichte. An Mundvorrat hatte jeder eine Tafel Schokolade und einige Stücke harten Weißbrots sowie eine Handvoll Stückzucker.
Das Maß unseres Pechs war noch lange nicht voll! Als es morgens hell wurde, hatten wir wieder den schönsten Schneesturm. Kein Wegzeichen auf weiter Flur zu sehen. Wir mußten aber weiter; wie wir nach Hause finden sollten, war uns selbst noch schleierhaft. Mit dem Kompaß hielten wir die Richtung und stapften blindlings durch das wilde Schneetreiben. Die beiden Hunde, abgemagert bis zum Skelett, zogen wacker den Handschlitten durch den weichen Neuschnee. Der Marschzeit nach mußten wir nun längst mitten im Spaltengebiet sein. Dessenungeachtet tappten wir, ohne den Boden zu sehen, völlig apathisch und rein mechanisch weiter in Richtung Westen. Ein trostloser Marsch!
Wir stoppten erst, als ich in eine verdeckte Spalte einbrach. Schlag auf Schlag hatten wir in den letzten Tagen eine Enttäuschung nach der andern erlebt, so daß uns die jetzige Hilflosigkeit beinahe als selbstverständliche und notwendige Ergänzung unserer Pechsträhne erschien. Wenn wir aber nicht riskieren wollten, den Hals zu brechen oder uns vollends ganz zu verirren, mußten wir wieder Zelt schlagen und besseres Wetter abwarten. Die fürchterliche Enge in unserm Notzelt, in dem wir zu fünfen Unterschlupf suchen mußten, und das Bewußtsein der gänzlichen Machtlosigkeit gegen die Natur drückten neben dem sich allmählich einstellenden Hunger unsere Stimmung nach und nach auf das überhaupt erreichbare Mindestmaß herab. Unsere und der beiden treuen Hunde Magen knurrten um die Wette.
Zwei Tage und zwei Nächte mußten wir hier liegen, ohne Proviant, ohne Petroleum, hungernd und frierend, während draußen der Schneesturm tobte. Unser Grönländer, der tapfer mit aushielt, war der einzige Beneidenswerte. Während wir nicht wußten, wie wir das Kreuz geradehalten sollten, wenn alle fünf im Zelte Platz haben wollten, schlief er mit verrenkten Gliedern in den unmöglichsten Stellungen den Schlaf des Gerechten.
Am dritten Tag hörte der Sturm auf. Wir sahen die Randberge und konnten uns danach orientieren. Wieder stapften wir, diesmal wegen der Spalten alle am Seil gehend, mit unsern wenigen Habseligkeiten auf dem Schlitten, los. Infolge unserer Hunger- und Kältekur waren wir ziemlich erschöpft und mußten immer wieder Ruhepausen einschieben. Dann, als endlich unser Startzelt in Sicht kam, freuten wir uns im ersten Augenblick nur auf das eine: wie ein Mensch auf einem Fleckchen schlafen zu dürfen, das ihm allein gehört.
Es war der 27. September geworden, als wir auf »Start« ankamen. Anfang Oktober mußte ich die Expedition verlassen, da ich nur für ein halbes Jahr beurlaubt war. Ich mußte es meinen beiden Kameraden Kelbl und Kraus überlassen, die Propellerschlitten zur Weststation zurückzubringen.
Zweimal fuhren sie mit Hundeschlitten zu den verlassenen Motorschlitten. Die Instandsetzung der Motoren bot keine Schwierigkeiten, aber die Schlitten selbst wollte das Inlandeis nicht aus seinen Krallen lassen. Trotz übermenschlicher Anstrengungen gelang es den beiden nicht, sie auf dem grundlosen Neuschnee in Fahrt zu bringen. Nach dem zweiten Versuch mußten sie es endgültig aufgeben, die Schlitten zur Weststation zurückzubringen. Das Inlandeis behielt sie zum Winterschlaf zurück.
Der Abschluß der Propellerschlittenfahrten war nicht gerade begeisternd gewesen. Stolz und hoffnungsfreudig waren wir weggefahren, zu Fuß und mit knapper Not waren wir wieder nach Hause gekommen. Wir konnten uns aber trösten. Die Schlitten hatten in den wenigen Tagen, in denen sie gefahren waren, Beträchtliches geleistet. Nur der Einbruch des Winters hatte der weiteren erfolgreichen Verwendung ein Ende gesetzt. Die Reisebedingungen auf dem Inlandeis waren um diese Zeit für Motorschlitten wie auch für Hundeschlitten zu schlecht. Die Erfahrungen, die wir gesammelt hatten, berechtigten aber zu der Hoffnung, daß die Schlitten im nächsten Jahr, im Frühjahr und im Sommer, unter ungleich besseren Wetterverhältnissen der Expedition bei der Durchführung der wissenschaftlichen Arbeiten wertvolle Dienste leisten würden. Daß sie diese Hoffnung nicht enttäuschten, werden wir in einem späteren Abschnitt erfahren.