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Von Fritz Loewe
Mai und Juni zeichneten sich an der Weststation und in der Randzone des Inlandeises durch fast ununterbrochen schönes Wetter aus, das die Außenarbeiten sehr begünstigte. Zwar sank die Temperatur Mitte Mai in der Dämmerung einer klaren Nacht noch bis 24 Grad Kälte, aber gegen Ende des Monats stiegen die Temperaturen schon über den Gefrierpunkt, und im Juni lag das Mittel über 0 Grad. Unter der Wirkung des ständigen Sonnenscheins bei Tag und Nacht setzte um diese Zeit die Schneeschmelze in der Höhe des Winterhauses bereits lebhaft ein. Die Spalten auf dem Kangerdluarsuk-Gletscher begannen sich zu öffnen. Die Schneewehe um das Winterhaus sackte allmählich zusammen; schon Anfang Juni mußten wir eine Leiter benutzen, wenn wir von der Luke, die als Eingang diente, auf das Dach steigen wollten. Und Mitte Juni begann es eines Nachts leise unter dem Haus zu plätschern. Als wir morgens in den Schacht blickten, sahen wir voll Bestürzung, daß er bereits bis fast zum Rand mit Wasser gefüllt war. Die Thermometer, die sich noch zu Temperaturmessungen in seiner Wandung befanden, waren verloren.
Die Propellerschlitten hatten die Maireise zur Station »Eismitte« nach ihrer Überwinterung auf dem Inlandeis ohne größere Überholung ausgeführt. Jetzt bedurften sie aber einer gründlichen Instandsetzung. Diese fand in der zweiten Maihälfte durch Kelbl, Kraus und Schif statt. Noch ehe die Schneeschmelze die Spalten östlich des Winterhauses freizulegen begann, verlegten die Propellerschlitten unter Führung von Schif und Kraus ihr Standlager nach »Start«, dem Ausgangspunkt der Fahrten des Vorjahres, zwölf Kilometer östlich des Winterhauses. Die kleinere unserer Funkstationen, eine Kurzwellenstation von etwa zwei Watt Antennenleistung mit Batteriebetrieb, hielt hier und später während der Inlandeisreisen die Verbindung zwischen der Propellerschlittengruppe und der Weststation aufrecht.
Die Weststation benutzte zum Verkehr mit der Außenwelt eine größere Funkstation, bei der der Betriebsstrom durch einen Benzinmotor erzeugt wurde. Der täglich oft mehrmalige Verkehr mit Godhavn, den Propellerschlitten und der Station am Kamarujuk-Fjord stellte an den kleinen Motor sehr hohe Anforderungen. Da traf es sich glücklich, daß durch die Ankunft Schifs die Expedition drei Propellerschlittenführer besaß; so konnten wir Kelbl mit seinen vielseitigen technischen Fähigkeiten als Funker beim Winterhaus behalten. Er baute aus Reservematerial für das Haus am Kamarujuk-Fjord eine Station mit Batteriebetrieb, die den ursprünglich für die Strecke Winterhaus-Kamarujuk vorgesehenen Fernsprecher vorzüglich ersetzte. Diese tägliche Verbindung zwischen den beiden Etappen erleichterte die Organisation des Nachschubs für die Inlandeisreisen und die Versorgung der Weststation bedeutend.
Die Verständigung zwischen den Stationen war auf einer Wellenlänge von etwa 50 Meter im allgemeinen recht gut. Ist doch das Polargebiet wie von Gewittern, so auch von atmosphärischen Störungen ziemlich frei. Auch die Lautstärkeschwankungen, das »Fading«, hielten sich meist in geringen Grenzen. Der unmittelbare Verkehr mit der Ostabteilung wurde allerdings von Anfang Mai ab eingestellt, weil dort die Winterstation geräumt wurde und die Besatzung sich bei der Kolonie aufhielt, wo die dänische Funkstation zur Verfügung stand.
An jedem Vormittag um 11 Uhr rief die nordgrönländische Küstenstation Godhavn unsere Weststation an. Unmittelbar darauf begann bei uns der kleine Benzinmotor zu brummen. Die gerade anwesenden Mitglieder der Expedition scharten sich um die Funkbude, die durch eine Tür vom Hauptraum des Hauses getrennt war, um möglichst schnell die neuesten Nachrichten des stets mitteilsamen Funkleiters Paulsen in Godhavn zu erfahren. Vor allem interessierte uns der Schiffsverkehr wegen des Nachschubs und der Europapost, die wir natürlich stets sehnlich erwarteten. Unsere Station war die einzige Radiostation des Umanak-Distrikts; so beförderten wir manches Telegramm für die Dänen des Bezirks, und auch der eine oder andere Grönländer ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen, einen Gruß nach Hause zu senden. Hielt man ihm aber dann das Telephon ans Ohr und erzählte, nun spreche Godhavn, so zog gewiß ein verständnisloses Grinsen über sein Gesicht, wie wir aus diesem abgebrochenen Piepsen von kurzen und langen Tönen etwas verstehen könnten. Den passendsten Vergleich fand einmal ein alter Fänger, der meinte, wir verstünden vielleicht auch, was sich die Lummen mit ihrem Kreischen auf den Vogelbergen erzählten. Funkleiter Paulsen hat mit größter Bereitwilligkeit die nicht geringe Mehrarbeit durch unsere Station auf sich genommen; und jeder konnte es ihm nachfühlen, als er am 14. Oktober den Funkverkehr endgültig mit dem schönen deutschen Schlagerzitat schloß: »Man sagt auf Wiedersehn und denkt sich heimlich bloß: Na endlich bist du wieder 'ne Verbindung los!«
Ließen Wissenschafts- und Transportarbeiten Zeit dazu, so pflegte am Nachmittag einer der Funkkundigen die Pressenachrichten von Nauen aufzunehmen; dadurch waren wir vielfach über die neuesten Ereignisse eher unterrichtet als die Mehrzahl unserer Landsleute in der Heimat. Auch sonst hörten wir manches Interessante; wir hörten das Luftschiff »Graf Zeppelin« bei seinen Fahrten nach Südamerika wie bei seiner Polarfahrt nördlich Sibiriens; wir hörten unsern Landsmann v. Gronau während seines Fluges quer über das Inlandeis Grönlands am 15. August 1931.
In den ersten Junitagen begann das Eis im Innern des Kamarujuk-Fjords zu schwinden. Schon in der zweiten Maihälfte hatten Lissey und Gudmund die »Krabbe« überholt und ein Leck gedichtet. Am 6. und 7. Juni wurde sie mit vereinten Kräften aller verfügbaren Expeditionsmitglieder zu Wasser gebracht. Wir hatten wieder, wie in den beiden vorigen Jahren, Tobias Gabrielsen als Motorbootführer gewonnen. Bis zu seiner Ankunft übernahm Friedrichs die Führung des Bootes. Am 6. Juni kamen auch die ersten Grönländer durch aufbrechendes Eis mit ihren Kajaks nach Kamarujuk; die über halbjährige Absperrung von der Außenwelt war aufgehoben. Sofort sandten wir die »Krabbe« nach Uvkusigsat, um von dort Grönländer und Hunde für die Reise zu beschaffen, die Wölcken und Herdemerten mit Instrumenten und Vorräten zu Eisdickenmessungen auf einer Nordsüdstrecke 62 Kilometer vom Rand des Inlandeises bringen sollte. Aber noch immer lag, im Gegensatz zum Vorjahr, im äußeren Teil der Umanak-Bucht eine lückenlose Eissperre. Als diese endlich Mitte Juni verschwand, waren wir immer noch in unsern Fahrten mit der »Krabbe« gehemmt. Es fehlte an Petroleum; die unerwartet langen, bis in den Herbst 1930 ausgedehnten Fahrten hatten fast die letzten Reste aufgezehrt. Erst am 27. Juni konnte der Umanaker Schoner »Hvidfisken« Kamarujuk erreichen. Wir bekamen das dringend nötige Petroleum und erhielten aus der Heimat eine Fülle heimischer Nahrungsmittel, die bei vielen nicht wenig zur Hebung der Stimmung beitrugen. Wieder lagen, wie zur gleichen Zeit des Vorjahres, große Kistenstapel am Strande, des Herauftransportes harrend.
Und in wenigen Tagen hatten wir in Umanak das erste Schiff des Jahres zu erwarten, das uns sechs Pferde für diese Transporte bringen sollte, dazu Jon Jonsson, unsern alten Kameraden vom Vorjahr. Auf diesem Schiff befand sich auch der neue Leiter der Expedition, Professor Kurt Wegener. Sie alle, dazu unser Motorbootführer Tobias Gabrielsen, trafen am 6. Juli in Kamarujuk ein.
Mit ihnen kamen zwei junge Norweger, Arne Höygaard und Martin Mehren, die vom Kamarujuk-Fjord aus eine Durchquerung zum Franz-Joseph-Fjord der Ostküste durchführen wollten. Es war eine große Hilfe für sie, daß sie zum Aufstieg unsern Landweg und die eingearbeiteten Träger, auf dem Weg durch die Spaltenzone die von uns abgesteckte Route benutzen konnten. So glückte es ihnen, in nur einer Woche seit ihrer Ankunft Aufstieg und Spaltenzone hinter sich zu bringen. Da Höygaard und Mehren auf ihrer Reise nur in geringem Grade mit wissenschaftlichem Gepäck und wissenschaftlicher Arbeit belastet waren, konnten sie ihren Plan in fast unwahrscheinlich kurzer Zeit durchführen. Schon 2½ Monate nach ihrer Abreise aus Kopenhagen waren sie wieder in Norwegen eingetroffen.
In unserer Etappe »Kamarujuk« herrschte jetzt im Hochsommer reges Leben. Hier waren Friedrichs, Jon und Loewe stationiert, dazu meist ein Grönländer als Hilfe. Loewe bediente die Funkstation und sorgte für den notwendigen Nachschub. Oft mehrmals wöchentlich war er mit Tobias oder Friedrichs auf der »Krabbe« unterwegs, um Grönländer und Hunde für Schlittenreisen auf dem Inlandeis zu holen oder heimzubringen. War es doch fast unmöglich, die Grönländer längere Zeit ununterbrochen bei uns zu halten, wenn Heimatort und Familie in erreichbarer Nähe waren. Hatten sie sich wieder ein paar Tage bei Frau und Kind aufgehalten, so kamen sie stets gern zur Expedition zurück, bei der es soviel Neues zu sehen, Gutes zu essen und viel Geld zu verdienen gab.
Unten am Fjord stand ein großes Haus mit einem geräumigen Mittelraum, in dem die Grönländer hausten, daneben zwei Wohnräumen, den beiden Reisekisten der Propellerschlitten. Seitlich schlossen sich daran zwei Bretterverschläge, die als Vorratsräume dienten. Neben dem Haus stand, schon im Winter gezimmert, ein riesiges Trockengestell, auf dem Hunderte von Hellefischen hingen. Diese Hellefische sind halbmeterlange Plattfische. Ihr Fleisch ist außerordentlich fett, und unter dem Gestell war der Boden mit ranzigem, heraustropfendem Fett imprägniert, das liebliche Düfte verbreitete und die Hunde unwiderstehlich anlockte.
Vor dem Haus war aus den großen Anhängern der Propellerschlitten, die wir gar nicht erst aufs Inlandeis geschafft hatten, eine Veranda »mit Blick auf See und Gebirge« errichtet. Davor dehnt sich der blaue Fjord, als weiße Tupfen einzelne Eisberge darin. Im Hintergrund hebt der »Spitzberg« von Uvkusigsat, eine unserer Landmarken auf dem Inlandeis, seine regelmäßige Pyramide; daneben säumt das Hochlandeis der Uvkusigsat-Halbinsel als weißes Band die mächtigen Felsabstürze. Und ganz in der Ferne, wohl 100 Kilometer weit, liegt, deutlich sichtbar in der klaren Polarluft, das Bergland von Nugsuak. Auf beiden Seiten ist der Kamarujuk-Fjord von mächtigen, grauen Gneiswänden eingerahmt. Übersteil ragen sie fast ohne Fußhalde aus dem Meer empor, von schwarzen Gängen durchzogen. Nur hier und da vermag sich zwischen kahlen Felsplatten und steilen Schuttkegeln ein grüner Rasenfleck zu behaupten. In weißen Bändern flattern die Wasserfälle über die Wände; in schmalen Scharten hängen die Gletscherzungen herab. Kommt die Zeit, in der steter Wechsel von Gefrieren und Tauen die zerklüfteten Felsen sprengt und die gelockerten Trümmer des Haltes beraubt, dann donnern die Steinschläge über die Wände hinab. Eine mächtige Staubwolke wirbelt empor, wo einer der Riesenblöcke aufschlägt, in gewaltigen Sätzen springt er in den Fjord hinab, daß das Meer haushoch emporspritzt.
Rückwärts ist der Blick durch die alte, wenige Meter hohe Moräne des Kamarujuk-Gletschers begrenzt. An ihrem Abfall zur See hingeduckt, sind unsere Baulichkeiten vor den schlimmsten Stößen des »warmen« Eiswindes, des Föhns, geschützt.
Zwar ist die Luft über dem Inlandeis kalt; stürzt sie aber schnell über den Kamarujuk-Gletscher und die einschließenden Wände hinab, so kommt sie unter höheren Luftdruck und erwärmt sich durch die Zusammendrückung gleich der in einen Fahrradreifen gepumpten Luft. Lange währt oft der Kampf zwischen dem Föhn und der kühlen Luft über dem Wasser, die immer wieder gegen das Land vordringt. Schließlich siegt der Föhn. Trockene Luft flimmert über der Moräne, und mit den Windstößen stiebt der Staub aus dem weiten Becken vor der Gletscherfront empor. Hier auf der Moräne, mit freiem Blick gegen den Gletscher, steht der Pferch, in dem sich unsere sechs Pferde munter bewegen; und stundenweit kann man sie von hier auf ihrem mühsamen Weg zum Winterhaus verfolgen. Es war kein kleines Stück Arbeit für Jon, fast täglich hin und zurück die Strecke bis zum Nunatak Scheideck, ja bis zum Winterhaus zu begehen. Zeitweilig waren auch die Bachrinnen auf dem Bis für die Transporte sehr hinderlich, besonders in der Zeit des beginnenden Frostes, in der die Pferde plötzlich bis zum Leib in den Eisbrei einbrachen. Jon und die Pferde waren uns auch in diesem Sommer von unschätzbarem Wert. Dank ihrer Hilfe konnten wir die Inlandeisreisen in Gang setzen, ohne jemals durch Nachschubschwierigkeiten in unsern Plänen beschränkt zu sein, und konnten mühelos alles noch Verwertbare nach Beendigung unserer Arbeiten wieder herunterschaffen. Jons breiter Gestalt sah man die Bärenkräfte an, die er in diesem Jahr, wo er meist ohne Helfer beim Auf- und Abladen war, besonders gebrauchte. Doch ebenso groß wie seine Kräfte war seine Gutherzigkeit; mit seinen Pferden ging er wie mit menschlichen Freunden um, die jungen Hunde pflegte er wie seine Kinder.
Die häufigen Gänge über den Gletscher von seiner Wurzel beim Nunatak Scheideck bis zu seinem Ende am Kamarujuk-Fjord erlaubten uns manche schöne Beobachtung der Eisoberfläche und ihrer Veränderungen mit wechselnder Höhe und Zeit. Jülg nahm sich dieser Beobachtungen mit besonderer Liebe an.