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Von Ernst Sorge
Wir begannen vom 5. Juni ab, das Inlandeis weit nördlich und südlich des markierten Weges abzusuchen. Täglich schwärmten wir aus, fuhren mit leeren Hundeschlitten Bogen von 30 bis 50 Kilometer Länge nach allen Seiten, verlegten nach und nach unsern Zeltplatz weiter nach Westen und suchten mit Ferngläsern unablässig den Horizont ab. Wichtig war dabei, daß kein Gebiet zwischen den einzelnen Bogenfahrten unbeachtet blieb, sondern daß ein breiter Streifen des Inlandeises lückenlos abgesucht wurde.
Die Sichtweite auf dem Inlandeis wird in dem Suchgebiet im allgemeinen durch die großen Bodenwellen bestimmt, die sich in den verschiedensten Richtungen erstrecken. Mulden von fünf bis zehn Kilometer Länge wechseln mit langen flachen Rücken ab. Wegen dieser Oberflächenkrümmung kann man von einem Rücken zwar den nächsten Rücken sehen, aber nicht die näheren Teile der Mulde; und ebensowenig kann man vom tiefsten Punkt einer Mulde die Kämme der umgebenden Rücken sehen. Um sich von der Sehweite stets zu überzeugen, wurden täglich mehrere hohe Schneetürme gebaut, deren Lage zu den Schneemännern des markierten Weges durch Kompaßpeilungen bestimmt werden konnte. Damit sie nicht später vielleicht mit den Schneemännern des Weges verwechselt werden konnten, bauten wir stets zwei Warten im Abstand von einigen Metern nebeneinander. Diese Doppelwarten waren 10 bis 15 Kilometer weit sichtbar. Sie dienten uns als feste Punkte beim Suchen. Alle Schlittenfahrten wurden von verschiedenen Seiten an sie herangeführt, und so war der lückenlose Anschluß unserer Gesichtsfelder gesichert.
Auf diesen Fahrten war ich vom 5. bis 14. Juni als einziger Deutscher mit drei Grönländern zusammen. Wir wurden daher sehr vertraut miteinander. Täglich zeichnete ich ihnen den geplanten Weg der einzelnen Schlitten auf, gab ihnen an, wo sie Doppelwarten bauen sollten, ließ mir abends die wirklichen Schlittenwege aufzeichnen mit Angabe der gesehenen Schneemänner, Flaggen und Doppelwarten und prüfte durch Peilungen und eigene Schlittenfahrten die Genauigkeit der Angaben. Dabei lernte ich viele grönländische Worte und erwarb die Fähigkeit, mit meinen zwölf Hunden allein fertig zu werden, ohne Spur die Richtungen genau einzuhalten und schnell vorwärts zu kommen. Nach wenigen Tagen bekamen wir ein solches Feingefühl für die Bodenwellen des Inlandeises, für die Fahrtrichtung und die zurückgelegten Wege, daß wir nach einer Rundfahrt von 40 Kilometer Länge fast ohne jede Seitenabweichung wieder auf unser Zelt trafen. Durch unsere Ferngläser konnten wir uns dabei oft gegenseitig sehen. Obwohl das Wetter, der Schnee und die Sicht ganz hervorragend waren, entdeckten wir leider keine Spur von Rasmus. Und nun ging unser Hundefutter zu Ende.
Da entschloß ich mich, meine drei Grönländer zur Weststation zurückzuschicken und mit einem Schlitten und sechs Hunden allein weiterzusuchen. In dem Depot bei km 120 stand ein Seismographenzelt, das ich benutzen konnte. Am 14. Juni trennten wir uns. Aber ich war doch nicht ganz allein. Denn meine sechs Hunde, prächtige Tiere, waren meine treuen Kameraden. Sie zogen meinen Schlitten noch acht Tage über das Inlandeis. Breiter und breiter wurde der abgesuchte Streifen, immer trotziger mein Entschluß, Rasmus zu finden. Aber je näher wir dem Inlandeisrand kamen, desto größer wurden die Schneewehen, desto tiefer die Mulden. Schneefegen und Luftspiegelungen erschwerten die Sicht. Mit der Sonne gesehen, leuchteten überall die weißen Schneewehen wie lauter Schneemänner aus der braunbläulichen Fläche; gegen die Sonne sah alles wie eine Gebirgslandschaft mit Zacken und schwarzen Schatten aus; quer zur Sonne hatte jede Schneewehe eine weiße und eine dunkelblaue Seite. Diese Richtung täuschte am meisten. Hier glaubte ich immer wieder – und war es auch zum tausendsten Male –, daß dieser oder jener Gegenstand sicherlich von Menschen stammte. Bald sah es einem Schlitten ähnlich, bald einem Schneemann, bald einem Stock, indem mehrere Schattenlinien sich vereinigten, bald auch einem aufgerichteten Schlitten oder einem halb verschütteten Zelt. Die Einbildungskraft nahm übermäßige Ausdehnung an. Und manchmal, wenn ich an einem Tage schon zum zehnten Male mit dem Fernglas aufs genaueste das ganze Panorama der zehntausend Schneewehen ringsherum gemustert hatte, kam es mir so vor, als ob überall lauter Schneemänner, Zelte, Stöcke oder Schlitten ständen oder durch die Gegend flögen. Selbst die Hunde wurden getäuscht. Einmal rannten sie im Galopp auf eine auffällige Schneewehe los, und da war ich allerdings fest überzeugt, daß hier ein Zeltplatz gewesen war. Ich grub und grub rings um die Schneewehe herum, sondierte mit einer langen Messingröhre wieder und wieder und sagte mir dauernd: Bloß nicht nachlassen, bloß nicht aufhören, nur Ausdauer, immer weiter graben, weiter, weiter! Aber nach einigen Stunden mußte ich mir eingestehen, daß hier genau so wenig war wie unter all den andern Schneewehen. Und dann hörte ich auf und fuhr zu meinem Zelt weiter. Mein fester Glaube war grausam getäuscht worden.
Schließlich ging der letzte Rest Hundefutter zu Ende. Ich mußte nun zur Weststation zurück. Der Schnee war durch das warme Sommerwetter so aufgeweicht, daß die Hunde geradezu im Schneematsch schwammen. Der Skistock mit seinem Teller ging ohne Widerstand mit der ganzen Stocklänge in den Schnee hinein. Ich konnte meinen Hunden nur dadurch etwas beim Ziehen helfen, daß ich, auf dem Schlitten sitzend, mit dem Skistock regelrecht ruderte. Im Schnee zu gehen war unmöglich, einmal wegen des tiefen Einsinkens, dann aber auch wegen der Spaltengefahr. Und trotz alledem liefen meine Hunde an diesem Tage 60 Kilometer weit. Daraus sieht man, wie unendlich der Hund als Lauf- und Zugtier dem Menschen überlegen ist!
Der Mißerfolg dieser Suchreise drückte mich schwer. Wir hatten im ganzen 3000 Kilometer zurückgelegt und doch nichts gefunden. Und immer schwebte mir vor Augen, wie viele einzigartige Eintragungen Wegener in sein Tagebuch gemacht hatte. Er selber hatte es uns ja in »Eismitte« erzählt. Die Notizen vom Rückweg waren mindestens ebenso wichtig. Und all das war jetzt verloren!
Das Schicksal von Rasmus liegt völlig im Dunkeln. Entweder ist er bald umgekommen, dann wird er jedes Jahr tiefer und tiefer mit Schnee zugedeckt; oder aber er ist in das Randgebiet gekommen, dann kann er günstigenfalls durch die alljährliche Abschmelzung sichtbar werden. Es ist aber ebensogut möglich, daß er am Rand in ein Gebiet von großen Spalten geraten ist und an einer völlig unzugänglichen Stelle, vielleicht in einer Gletscherspalte, liegt. Er ist nur 22 Jahre alt geworden.