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Von Karl Weiken
Als Kraus und ich am 10. November mit den beiden Grönländern Johann Villumsen und Mathius Simeonsen, einem sehr tüchtigen Fänger aus Akuliarusek, abreisten, sagte Holzapfel, unser Wetterprophet, Sturm voraus und riet, die Abreise zu verschieben. Das Thermometer stand nicht weit von -30 Grad. Da wir für diese Reise noch manche Stürme zu erwarten hatten, wollten wir uns auch diesem nicht entziehen, um auf keinen Fall Zeit zu verlieren. Wir wollten bei km 62 Wegener, Loewe und Rasmus erwarten, denn wir rechneten kaum damit, daß Georgi und Sorge herauskommen würden, solange Wegener und Loewe eine Möglichkeit sahen, die Station »Eismitte« zu halten, und selbst gewillt waren, statt ihrer drinnen zu bleiben. Wir hofften, heute wenigstens bis »Start« zu kommen, wo ein festes Zelt stehengeblieben war. Aber wir hatten die 15 Kilometer bis dorthin noch nicht zurückgelegt, als der Sturm so stark war, daß die Hunde gegen das Schneefegen nicht mehr anzutreiben waren. Haushoch wirbelte der Schnee und fegte über uns hin. Es war nichts mehr zu sehen und jedes Suchen vergeblich. Immer wieder liefen wir Gefahr, auseinanderzukommen und uns gegenseitig zu verlieren. Wir gaben es auf und schlugen Zelt. Heute löffelten wir in etwas gedrückter Stimmung unsern Pemmikan.
Am nächsten Tage hatte der Sturm kaum nachgelassen. Nach stundenlangem Suchen glückte es uns aber doch, das Startzelt zu finden. Nur 600 Meter davon entfernt hatten wir gelegen. In dem größeren und festeren Startzelt konnten wir uns etwas besser einrichten als in unserm Reisezeit. An ein Weiterreisen war heute nicht zu denken. Das Thermometer zeigte -30 Grad. Vier Tage warteten wir auf das Ende dieses Sturmes. Erst am 15.November konnten wir weiterreisen. Doch auch an diesem Tage kamen wir nur wenig vorwärts. Die Temperatur war auf -24 Grad gestiegen. Am 16. November kamen wir bis km 35. Heute sahen wir die Mittagssonne zum letzten Male dicht am Horizont. Der nächste Tag war der wärmste auf der ganzen Reise. Das Thermometer stieg auf -13 Grad. Dafür schneite es aber bei stärkerem Wind so heftig, daß in dem treibenden Schnee nichts zu sehen war. Wir mußten liegenbleiben. Über Nacht drehte der Wind von Süd nach Ost. Es wurde kälter und hörte auf zu schneien. Am Morgen brachen wir auf. Wir hofften wenigstens bis zum »Schneespatz« bei km 51 zu kommen. Nur ganz selten sahen wir eine Flagge, so daß wir nie wußten, ob wir noch auf dem richtigen Weg waren. Bald wurde das Schneefegen wieder stärker. Es gelang uns noch, den Schneemann bei km 40 zu finden und dann den »Eisbär« bei km 41. Weiter ging es aber nicht. Auch am nächsten Tage ließ der Sturm nicht nach. Wir mußten wieder liegenbleiben. Am Morgen des 20. November hatte das Schneefegen soweit nachgelassen, daß wir die Weiterfahrt wagten. Zwei Flaggen sahen wir noch, dann nichts mehr von der Route. Wir kreuzten immer weiter nach Norden und Süden. So gelang es uns endlich, den Schneemann bei km 50 und dann noch den »Schneespatz« bei km 51 zu finden. Der »Schneespatz« war schon bis zu seiner halben Höhe eingeweht. Bald danach hatten wir den Weg wieder verloren. Das Depot bei km 55 war trotz aller Bemühungen nicht zu finden. Von dort hätten wir gern einen Dunk Benzin mitgenommen zum Abbrennen von Leuchtfeuern mit Petroleum-Benzin-Gemisch. Wegen einbrechender Dunkelheit und zunehmenden Schneefegens mußten wir die Suche aufgeben und Zelt schlagen. Schließlich kann man auch Petroleum allein in einer offenen Büchse brennen, wenn man es auf dem Primus genügend anwärmt.
Am 21. November fanden wir trotz starken Schneefegens den Weg, um ihn aber sofort wieder zu verlieren. Wir mußten heute bis km 62 kommen. Aber das Depot zu finden, erschien fast aussichtslos. Man konnte kaum 100 Meter weit sehen, plötzlich in der Nachmittagsdämmerung wurde das Schneefegen noch dichter. Die übrigen Schlitten verschwanden aus meinen Augen und waren nicht wiederzufinden. Entdeckte ich die Kolonne heute oder morgen nicht wieder, so mußte ich ohne Zelt und Kochgelegenheit versuchen, allein zur Weststation zurückzukehren. Nur in hohen, scharfen Schneewehen konnte ich hoffen, die Spur der andern Schlitten noch unverweht vorzufinden. Lange suchte ich vergeblich. Es wurde schon fast dunkel. Da tauchten vor mir zwei Gestalten auf. Johann und Mathius kamen zu Fuß ihre Spur zurück, mich zu suchen, gerade als ich der Spur schon sehr nahe war. Das war ein glücklicher Zufall. Doch es sollte noch besser kommen: obwohl wir seit heute morgen nichts mehr vom Weg gesehen hatten, war Kraus zufällig genau auf das Depot km 62 gestoßen. Also endlich nach zwölf Tagen, darunter sechs Reisetage, war es uns gelungen, an dem von Alfred Wegener bestimmten Punkt zu sein. Auch Wegener wollte nach seiner Berechnung im letzten Brief von km 151 heute hier eintreffen. Das Depot fanden wir noch unberührt. Wegener konnte also noch nicht hier gewesen sein.
In den nächsten beiden Tagen fuhr ich mit Johann etwa 10 Kilometer nach Nordost und ebensoweit nach Südost und steckte auf diesen beiden Strecken Flaggen aus. Falls Wegener nicht sehr weit vom Weg abkam, mußte er auf eine dieser sehr dicht gesteckten Flaggenreihen stoßen und somit das Depot finden.
Währenddessen hatte Kraus mit Mathius ein Schneehaus gebaut. Der Firn war steinhart gefroren, ließ sich aber gut in Quadern schneiden. Wir zogen sofort aus dem windigen Zelt in das warme Schneehaus um. Leider blies der heftige Wind alles Dichtungsmaterial aus den Mauerfugen heraus. Am nächsten Morgen lagen wir mit unsern Schlafsäcken unter großen Haufen von Schnee, der über Nacht allenthalben hereingeweht war. Doch allmählich bekamen wir alles dicht. Als unsere beiden Primuskocher brannten, fühlten wir uns endlich mal wieder wohlgeborgen. Am Fußboden maßen wir -9 Grad, über den Schlafsäcken -8 Grad und unter der Decke sogar einige Grad über Null. Doch das war zu warm. An den Giebeln entstanden große Löcher. Wir durften nur einen Primus brennen, um die oberen Teile des Hauses vor dem Abschmelzen zu bewahren. Die Tür zu einem Vorraum schloß ein Renntierfell, den Ausgang des Vorraums eine Proviantkiste ab.
Durch die beiden Flaggenreihen und das Schneehaus war unsere Basisstation bei km 62 eingerichtet. Vom ersten Tage ab brannten wir an jedem Abend bei eintretender Dunkelheit, etwa um 3 Uhr, ein Petroleumfeuer an, das ungefähr drei Stunden brannte, also auf jeden Fall in der Zeit, in der eine reisende Abteilung Zelt schlagen mußte.
Entgegen Wegeners Weisung, hier auf ihn zu warten, hatten wir auch jetzt noch die Absicht, ihm weiter entgegenzufahren. Vor Antritt der Reise hatten wir geglaubt, dem Weg beliebig weit nach Osten folgen zu können. Doch nach den Erfahrungen der Herreise hatten sich starke Bedenken eingestellt. Da eine herausreisende Abteilung sicher darauf eingestellt war, uns bei km 62 zu treffen, durften wir bei einer Weiterreise nach Osten diese Abteilung auf keinen Fall verfehlen. Wir durften also nur an solchen Tagen und immer nur so lange reisen, als wir sicher waren, der Reihe der Flaggen und Schneemänner genau folgen zu können. Auf der Herreise war es uns an keinem einzigen Tage gelungen, dem Weg zu folgen.
Trotzdem entnahmen wir dem Depot Proviant und Futter und bereiteten die Weiterreise vor. Am Abend des 23. November setzte ein Sturm ein, der uns zum Abwarten zwang. Erst am 28. wurde der Wind schwächer. Es folgte ein Tag mit dichtem Nebel und Neuschnee. Jetzt gaben wir den Plan auf, mit der ganzen Kolonne weiterzureisen. Dafür wollten wir an einem guten Tage mit einem Schlitten Proviant, Petroleum und Futter möglichst weit nach Osten vorschieben.
Die Möglichkeit dazu bot der 30. November. Es war der beste Tag unserer ganzen Reise: bei -28 Grad kein Nebel, Wind und Schneefegen gering. Kraus und Johann Villumsen machten sich sofort auf. Sie fuhren ohne jede weitere Reiseausrüstung auf einem Schlitten mit einem besonders großen Gespann aus unsern stärksten Hunden. Sie führten außer den auf ihrem Wege neu auszusteckenden Flaggen nur das vorzuschiebende Depot mit sich: eine Kiste Proviant, eine Kiste Hundepemmikan und sieben Liter Petroleum. So war eine schnelle Reise gewährleistet, aber auch die Gefahr gegeben, daß ihnen ohne Zelt, Schlafsack, Proviant und Kochgelegenheit trotz ihrer dicht ausgesteckten neuen Flaggenreihe durch einen Witterungsumschlag der Rückweg zu unserm Lager abgeschnitten wurde. Um 3 Uhr, als schon alle Sterne zu sehen waren, entzündeten Mathius und ich unser tägliches Leuchtfeuer. Mit einer andern Büchse Petroleum ging ich unsern Kameraden entgegen, ihnen ein weiteres Feuer anzuzünden. Der Wind war schon wieder stärker, das Schneefegen dichter geworden. Noch hatte ich keine zwei Kilometer zurückgelegt, als kurz vor mir der Schlitten meiner Kameraden aus dem Schneefegen auftauchte und die Hunde auf mich zustürzten. Sie waren bis km 80 vorgedrungen. Dabei waren sie nur selten vom Weg abgekommen, hatten ihn aber immer sofort wiedergefunden. In den wenigen Dämmerstunden dieses Wintertages mit Hin- und Rückweg 36 Kilometer zurückzulegen, ohne den Weg zu verlieren, war eine großartige Leistung. Auch diesmal, wie während der ganzen Reise, hatte Kraus seinen ausgezeichneten Orientierungssinn bewiesen. Die nächsten Depots lagen bei km 100, 120, 155 und 200.
An Liegetagen während der Herreise und besonders auch während der Wartezeit auf km 62 baute Kraus immer mal wieder sein Funkgerät auf, um von der Weststation zu erfahren, ob Wegener nicht doch an uns vorbeigereist und draußen eingetroffen sei. Einfach war es nicht, unter diesen primitiven, ungemütlichen Verhältnissen Sender und Empfänger zur Arbeit zu bewegen. Alle Hebel, Kontakte und Spulen mußten erst über dem Primus von Reif und eisigem Niederschlag befreit werden. Die Batterien gaben erst nach langwieriger Anwärmung den nötigen Strom ab. Dazu kamen noch die üblichen atmosphärischen Störungen und andere Schwierigkeiten, wie elektrische Wirkungen des Schneefegens. Aber immer bekamen wir Verbindung mit der Weststation, wo Kelbl täglich zur verabredeten Stunde am Gerät saß. Immer die gleichen Meldungen. Kraus: »Aus Osten nichts Neues.« Kelbl: »Wegener nicht hier.«
Ernstlich hatten wir niemals daran gezweifelt, daß Wegener die in seinem letzten Brief vom 6. Oktober angegebenen Zeiten wirklich innehalten könnte. Inzwischen war nun schon der 1. Dezember herangekommen, der äußerste von Wegener angegebene Termin. Auch jetzt waren wir noch der festen Überzeugung, daß die Tagesleistung mit zwölf Kilometer nicht zu hoch angesetzt war. Auf der Herausreise mit Wind und Schneefegen im Rücken war sicher ein noch höherer Durchschnitt zu erzielen. Im Oktober waren die Tage doch noch viel länger und heller als jetzt. Erst seit Mitte November etwa fehlte das Sonnenlicht. Seit Ende Oktober hatten Kälte und Wind die Schneeoberfläche zu einer guten harten Schlittenbahn werden lassen.
Unwahrscheinlich erschien es uns auch, daß Wegener, einmal vom Weg abgekommen, ihn trotz Hodometer und Sextant auf die Dauer nicht wiedergefunden und somit die für ihn wichtigen Depots verfehlt haben könnte. Irgendwann, wenn auch selten, gab es doch mal eine Gelegenheit zur Ortsbestimmung. Für eine Abteilung auf der Reise zur Küste war es überhaupt bedeutend leichter, dem Weg zu folgen. Einmal ist die Sicht mit dem Schneefegen sehr viel besser als gegen das Fegen. Zudem waren für sie die großen schwarzen Zeichen auf den Schneemännern sichtbar, da diese Zeichen auf der Ostseite durch den Wind immer schneefrei gehalten wurden, während sie nach Westen durch eine bis zu ihrer Spitze reichende Wehe vollständig verdeckt waren. Auch mußten nach unsern bisherigen Erfahrungen weiter drinnen Wind und Schneefegen geringer und somit trotz niedriger Temperaturen die wichtigsten Reisebedingungen besser sein.
Konnten Wegener und seine Gefährten nicht doch den Anstrengungen der Reise und den Unbilden der Witterung erlegen sein? Die Reisebedingungen waren zu dieser Jahreszeit hart. Auch Kraus, ich und die Grönländer waren nicht ohne leichte Erfrierungen davongekommen. Gegen diese grimmige Kälte und den eisigen, alles durchdringenden Wind gibt es einfach keinen hinreichenden Schutz. Unbedingt notwendig, aber besonders schwierig war es, Handschuhe und Kamikker trocken zu halten. All das war wenig angenehm, sogar recht ungemütlich, aber nicht unbedingt zum »Totgehen«, solange die Ernährung noch ausreichte. Wegeners Abteilung war nun schon 2½ Monate unterwegs, dreimal solange als wir, konnte also schon stärker zermürbt sein. Doch demgegenüber stand Wegeners Energie, seine ungleich größere Erfahrung und bessere, vorsichtigere Reisetechnik. Auch bei seinen Reisegefährten würde Wegener auf die Einhaltung jeder Vorsichtsmaßregel achten. So sehr wir auch alle Möglichkeiten erwogen, immer wieder kamen wir zu dem Schluß: Wegener und seine Gefährten können nicht umgekommen sein.
Weshalb aber sind sie nicht zurückgekehrt? Hatten sie es vielleicht vorgezogen, zu fünf Mann in »Eismitte« zu überwintern, da sie die Rückreise für zu gefährlich hielten? Diese Möglichkeit schien uns durchaus gegeben. Mit dem nach der dritten Schlittenreise in »Eismitte« vorhandenen Proviant konnten fünf Mann bis Anfang Mai leben, wenn sie die Hunde schlachteten. Das Petroleum war knapp, reichte aber nach den Erfahrungen in unserm einfachen Schneehaus zum Leben aus. Von Georgis großartigen Bauten im Hirn hatten uns Wölcken und Jülg nach der dritten Schlittenreise erzählt.
Je länger wir warteten und alle Möglichkeiten erwogen, um so wahrscheinlicher, ja sicherer erschien es uns, daß Wegener, Loewe, Georgi, Sorge und Rasmus zur gemeinsamen Überwinterung in »Eismitte« geblieben waren. Doch alle Berechnungen und Überlegungen konnten uns keine Gewißheit geben.
Eine nochmalige Einteilung unseres schon sehr gestreckten Futters ergab, daß es höchstens bis zum 9. Dezember reichte. Unter Berücksichtigung der Wettermöglichkeiten mußten wir deshalb spätestens am 7. Dezember die Rückreise antreten.
So warteten wir also auch noch die ganze erste Dezemberwoche. Wind und Schneefegen waren ununterbrochen stark und ließen erst am 5. Dezember etwas nach. Am 6. Dezember zeigte das Thermometer -42 Grad. Zugleich kam wieder ein heftiger Sturm auf. Jetzt gaben wir die Hoffnung auf, daß die Kameraden noch kommen würden. Wir mußten ohne sie zur Weststation zurückkehren.
Am 7. Dezember brachen wir auf. Der Sturm hatte etwas nachgelassen, der Vollmond stand niedrig im Norden. Durch die Kälte hatten wir einen Teil unserer Hunde verloren. Wir bildeten deshalb nur noch drei Gespanne. Kraus setzte sich als »Franz« zu Johann auf den Schlitten. Um 11 Uhr fuhren wir los. Wie ganz anders war doch diese Reise mit Wind und Schneefegen im Rücken. Die Hunde, sehr empfindlich gegen den kalten Wind und das beißende Fegen, waren auf der Ausreise nur schwer, oft gar nicht mehr vorwärts zu treiben. Jetzt trabten sie munter und flink wie in den guten Tagen der sommerlichen Inlandeisreisen. Das Licht des Vollmondes, der mit schwindender Mittagsdämmerung immer höher von Norden nach Osten heraufstieg, reichte nun vollkommen zur Orientierung aus. Ohne Aufenthalt brausten wir an Schneemännern und Flaggen vorbei, die wir auf der Herreise gar nicht gesehen hatten, ebenso an den beiden Propellerschlitten, die wir nun doch stehenlassen mußten. Die im Mondschein glänzenden Randberge zeigten uns die Richtung zum Startzelt und weiter zum Winterhaus. Um 7 Uhr abends waren wir angelangt. Ohne besondere Anstrengung hatten wir nach Westen an einem Tage die gleiche Strecke zurückgelegt, für die wir nach Osten uns und die Hunde zwölf Tage lang mühselig quälen mußten.
Unsere Kameraden freuten sich, daß wir diese Reise ohne ernstlichen Schaden überstanden hatten. Eine gewisse Niedergeschlagenheit, weil Wegener, Loewe und Rasmus nicht zurückgekehrt waren, konnte jedoch keiner verheimlichen. Wegener hatte die Ungewißheit um Georgi und Sorge beseitigen wollen. Jetzt war die Ungewißheit um Wegener, Loewe und Rasmus hinzugekommen. Vor April konnten wir nichts für die Kameraden unternehmen, vor Ende April nichts über ihr Schicksal erfahren. Um der gedrückten Stimmung nicht weiter Raum zu geben, besonders auch wegen der anwesenden Grönländer, ließen wir muntere Weisen auf dem Grammophon ertönen und unterhielten uns über alle Ereignisse der letzten Wochen und über die kommenden Winterarbeiten.
Das Winterhaus war jetzt recht wohnlich eingerichtet und das Vorratszelt gegen die darauf lastenden Schneemassen gut abgestützt.
Die Räumung der Depots um Scheideck war immer fortgesetzt, aber durch Unwetter oft gestört worden. Drei Grönländer hatten bei diesen Transporten geholfen und waren auch jetzt noch hier. Fast alles war geborgen. Leider fehlten aber noch einige für die Schweremessung wichtige Instrumente. Man hatte sie nirgendwo gefunden.
Alfred Wegener hatte in der Voraussicht, daß er als Expeditionsleiter in keinem der beiden Sommer zu großen eigenen Arbeiten kommen würde, sich selbst die wichtigste Winterarbeit, die Gletscherforschung, vorbehalten. Über Einzelheiten seiner Pläne wußten wir nichts. Mit unsern beiden Physikern, Wölcken und Holzapfel, und mit unserm Bergmann, Ingenieur Herdemerten, besprach ich eingehend das gletscherkundliche Winterprogramm. Wir beschlossen, Schachtbau und Bohrarbeiten nach Wegeners Plan durchzuführen und für Wegener möglichst viel Beobachtungsstoff zu sammeln. Etwa noch fehlende Beobachtungen konnte Wegener dann im kommenden Frühjahr selbst nachholen.
Für die meteorologischen, aerologischen, seismischen und geodätischen Arbeiten und für den Funkdienst waren die verantwortlichen Fachleute vorhanden und die notwendige Unterstützung durch die Kameraden sicher.
Während der übermäßigen Anstrengungen und der nervösen Hast des Sommers hatten wir uns manchmal auf die lange, ruhige Winternacht gefreut. Zunächst wollten wir uns etwas ausruhen und innerlich sammeln, dann auch einmal wieder mit Genuß ein gutes Buch lesen. Wir hofften, viel Zeit zu finden, die bisherigen wissenschaftlichen Arbeiten zu ordnen und zu prüfen und dann die großen Inlandeisarbeiten des kommenden Sommers in Ruhe vorzubereiten. Wir alle wollten von Wegener manches erfahren über die großen Fragen der Erforschung der Arktis und im besonderen des grönländischen Inlandeises, dessen Erleben auf uns alle einen gewaltigen Eindruck gemacht hatte.
Um die meisten dieser Hoffnungen und Erwartungen sahen wir uns schon jetzt betrogen. Die trotz größter Anstrengung im Sommer nicht zu bewältigenden Arbeiten und Inlandeisreisen hatten uns nun schon fast bis in den halben Winter von der Ruhe des Winterhauses ferngehalten. Der Rest des Winters würde alle unsere Kräfte beanspruchen, um neben den geplanten Winterarbeiten die Vorbereitungen für die wissenschaftlichen Arbeiten des Sommers und die dazu nötigen großen Schlittenreisen zu treffen. Schmerzlich empfanden wir alle die Abwesenheit von Wegener und Loewe, die doch mit uns auf der Weststation überwintern wollten. Doch über allem stand die Sorge um unsere Kameraden und die Notwendigkeit, ohne Rücksicht auf unsere wissenschaftlichen Pläne mit der ersten möglichen Frühjahrsschlittenreise die Station »Eismitte« zu entsetzen und Klarheit über das Schicksal der Kameraden zu schaffen. Diese Notwendigkeit war bestimmend für alle Unternehmungen der Weststation während des Winters.