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Die erste Schlittenreise ins Innere und die Errichtung der Station »Eismitte«

Von Johannes Georgi

Die von Wegener geplante Überwinterungsstation mitten aus dem grönländischen Inlandeis, von ihm selbst an einer Stelle seines Tagebuches als »der Hauptzweck der Unternehmung« gekennzeichnet, stellt nicht etwa nur das Werk der dort Überwinternden dar, sondern ist das Ergebnis von Wegeners ungemein sorgfältiger Vorbereitung und der aufopfernden Zusammenarbeit aller Expeditionskameraden. Der von Wegener gebrauchte Ausdruck und mehrere ähnliche sollen nicht bedeuten, daß die wissenschaftlichen Arbeiten von »Eismitte« wichtiger seien als die der beiden andern Stationen. Sie geben nur der Tatsache Ausdruck, daß für die Überwinterungsstation in der Mitte des Inlandeises ein sehr umfangreicher Apparat aufgeboten werden mußte, sowohl an technischen Vorbereitungen wie an allgemeiner Mehrarbeit, wie er bei einer Beschränkung auf Sommerarbeiten auf dem Inlandeis nicht erforderlich gewesen wäre.

Zudem warf dieser Plan zahlreiche, in der arktischen Forschung bisher unbekannte Probleme auf, sei es, daß man die Transportaufgabe, eine solche Station 400 Kilometer vom Rande des Inlandeises und in 3000 Meter Höhe einzurichten und zu unterhalten, betrachtet, oder die für gänzlich unbekannte klimatische Verhältnisse vorzusehende Ausrüstung, mit Winterhaus, Proviant und wissenschaftlichen Instrumenten. So ist es nicht verwunderlich, daß diese Fragen schon während der vorbereitenden Expedition 1929 ununterbrochen erörtert wurden, wie ja auch die beiden damaligen Reisen ins Innere der Untersuchung der Transportbedingungen auf dem Inlandeis dienten. Auf der Heimreise 1929 glaubten wir, bei bescheidenster wissenschaftlicher Ausrüstung der »zentralen Firnstation«, später von Wegener »Eismitte« genannt, mit einem Gewichtsbedarf von 3500 Kilogramm auskommen zu können. Dieser sollte durch drei Schlittenreisen in der Zeit vom 20. Juni bis 5. Oktober mit insgesamt 20 Hundeschlitten und 3300 Kilogramm Nutzlast hineingebracht werden, während zusätzliche Ausrüstungslasten durch die Propellerschlitten bewältigt werden sollten.

Wie leider in der Polarforschung so häufig, hat sich bei genauerer Ausrechnung und Ausführung das Mindestgewicht der »Eismitte«-Ausrüstung erheblich vergrößert. Wegeners eigene Berechnung im Winter 1929/30 ergab bereits als Winterbedarf für Wohnung (Zelthaus 500 Kilogramm), Proviant und Petroleum 4000 Kilogramm, ohne sonstige Ausrüstung und irgendwelchen wissenschaftlichen Bedarf, und so bestand schon bei der Ausreise 1930 volle Übereinstimmung darüber, daß – selbst bei denkbarster Einschränkung des berechneten Bedarfes – die ursprüngliche rohe Schätzung in jedem Fall erheblich übertroffen werden würde. Da andererseits eine entsprechende Vermehrung der Hundeschlittenreisen kaum möglich erschien, mußte bereits in diesem Stadium mit den Propellerschlitten als Transportmittel gerechnet werden. Wegener selbst hatte in seiner grundlegenden Darstellung des Expeditionsplanes von 1928 übrigens sogar mit einem Ausrüstungsgewicht von 10 000 Kilogramm für »Eismitte« gerechnet.

Die eigentlichen Vorbereitungen der ersten Schlittenreisen ins Innere begannen während der unfreiwilligen Wartezeit im Mai/Juni in Uvkusigsat. Die größtenteils im letzten Augenblick fertig gewordenen Instrumente wurden erprobt, und leider mußten zahlreiche Transportschäden beseitigt werden. Im Lager am Kamarujuk-Fjord wurde, wiederholt unterbrochen durch Mithilfe am Transport der Propellerschlitten, fast die ganze Ausrüstung zum Hinaufbringen durch Packpferde nach Scheideck in leichte Holzkisten in der Größe unserer Proviantkisten umgepackt, eine außerordentlich mühevolle und zeitraubende Arbeit in Anbetracht der Unzahl von kleinen und kleinsten Bedarfsgegenständen für den Winteraufenthalt und der Notwendigkeit, mit Zurücklassen einzelner Kisten im Verlaufe der Reise zu rechnen. Es durfte z. B. nicht eintreten, daß in diesem Falle die zahlreichen Teile der Pilotballonausrüstung getrennt wurden. Entweder mußten alle zusammen zurückbleiben oder zusammen mit hineinkommen, und ebenso die Einrichtung für klimatologische Beobachtungen, Registrierballone oder für Strahlungsmessung. Mit Rücksicht auf die ohnehin bei der ersten Reise zu erwartenden Transportschwierigkeiten wurde wissenschaftliches Material (Pilotballone, Kalziumhydrid für Wasserstofferzeugung) nur für zwei bis drei Monate mitgenommen, ein Registrierballon, wenig Schreib- und Zeichenmaterial, während der Nachschub hieran sowie die gesamte Ausrüstung für Drachenaufstiege mit den späteren Reisen nachkommen sollten. Selbstverständlich konnte bei dieser ersten Reise auch nur ein kleiner Teil des Winterproviantes mitgenommen werden. Die fertiggepackten Kisten wurden an verschiedenen Tagen von den Packpferden bis zum oberen Ende des Bruches, und von dort durch Loewe und seine Grönländer mit Hundeschlitten bis etwa fünf Kilometer östlich von Scheideck befördert.

In der Nacht vom 9./10. Juli führte Wegener den Rest der von ihm für diese Reise angeworbenen Grönländer mit ihren Hunden und einigen Schlitten durch den Bruch, nicht ohne daß ein Hund in langwieriger Arbeit aus einer sich verengenden Spalte herausgeholt werden mußte. Unterwegs halfen wir den Propellerschlitten und legten ein Stück des Pferdewegs nach Jons Angabe um. Ziemlich weit oberhalb des Bruches ging es auf einem von Loewe erkundeten Weg quer über den Gletscher nach Scheideck. Während Wegener es übernahm, den Bedarf der Grönländer an Kamikkern, Isländern, Unterhosen und Handschuhen zu besorgen, machten wir, Loewe, ich und die Grönländer, einige Lastfahrten vom Depot oberhalb des Bruches. Nachdem Loewe und ich auf Skiern bis zum vorjährigen »Lager am Bach« erkundet hatten, schoben wir das Loewesche Depot von fünf Kilometer östlich Scheideck bis km 25 vor, etwa dem vorjährigen Depot B entsprechend, das später auch von einem unserer Grönländer in einiger Entfernung, fast ganz im Winterschnee vergraben, gesichtet wurde.

Scheideck, 14. Juli vormittags. Wegener kommt, um uns zu verabschieden. Er hat große Mengen Kamikker, Hellefisch Seehundfleisch gekauft, die bereits nachts mit den Pferden durch den Bruch gebracht worden sind. Er berichtet, daß er den ernstlich erkrankten Jon nach Umanak ins Krankenhaus bringen müsse. Weiken werde am Tage heraufkommen, sein Gepäck erst in der nächsten Nacht. – Wir fühlen, daß es ein bedeutsamer Augenblick ist und daß von dem Ausgang dieser Reise viel für unsere weiteren Arbeiten abhängt. Wegener hat Bedenken gegen mein Alleinbleiben bei km 400, kann sich aber angesichts des Personalmangels der Notwendigkeit nicht verschließen, da wir nicht sicher sind, daß bei km 400 aufgestellte Registrierapparate ohne Bedienung einwandfrei arbeiten würden. Ich gehe mit Wegener meine gesamte Ausrüstungsliste durch und gebe ihm eine Abschrift, in der besonders angegeben ist, welche Gegenstände auf jeden Fall mit den folgenden Reisen hereinkommen müssen. – Nachts holen wir das letzte Gepäck vom Gletscher herauf, auch Weiken kommt. Das Befinden von Johann Abrahamsen, der wegen rheumatischer Schmerzen im Knie nicht mitgehen wollte, hat sich durch Tapsicumpflaster gebessert. Es ist wichtig, daß er als ältester, besonders geachteter und offenbar sehr zuverlässiger Grönländer mitkommt. Kurz vor der Abreise kommen noch Sorge und Holzapfel zum Abschiednehmen. Sorge hat uns zwei kleine Kisten mit Obst besorgt.

Am 15. Juli gehen wir mit zwölf Schlitten auf die Reise. Loewe und ich haben die kleinen, aber guten Jakobshavner Gespanne. Weiken fährt auf dem Schlitten des Katecheten aus Uvkusigsat zunächst als Passagier, bis dieser umkehrt, und erhält Unterricht im Hundekutschieren. Unsere Grönländer Johann Abrahamsen, Hans Andreasen, Bernard Olsen, diese drei aus Ikerasak; Johann Davidson, unser Begleiter von 1929, aus Wegeners Buch bekannt; Detlev und Jonathan Frederiksen, Karl und Johann Villumsen und Martin Schade aus Uvkusigsat. Prächtiges Wetter mit frischem Ostsüdost. Der Schnee ist überall weich, die Schlitten sinken zwar ein, aber die Hundepfoten werden geschont. Wir schlagen unser Lager auf bei Depot B', 25 Kilometer von Scheideck. Hier ist zum ersten Male unsere Ausrüstung an einem Platz zusammen. »Nachts das übliche Hundekonzert, um 5 Uhr früh großes Durcheinander«, d. h. Losreißen von Gespannen, Beißerei, Hunde bleiben mit ihren Zugleinen in den Zeltpardunen hängen. – Der folgende Tag ist der Zusammenstellung unserer gesamten Ausrüstung gewidmet. Die Grönländer sind gegen die bevorstehende Reise überaus bedenklich, und wir müssen sorgfältig alle psychologischen Momente betonen, die ihnen Mut und Zutrauen verleihen können. Zum Glück haben wir den Katecheten als Dolmetscher, der intelligent und hilfsbereit die schwierige Aufgabe übernimmt, den Grönländern unsern Reiseplan, den Zweck der Station bei km 400, die Hilfsmittel für die Reise, insbesondere die Proviantverteilung und die Markierung der Strecke aus unserm gebrochenen Dänisch in ihre Sprache zu übertragen. Alle Grönländer sind der Meinung, daß die vorgesehene und draußen zurechtgelegte Last viel zu groß ist. Was sollen wir tun? Zwingen können wir ja die Grönländer nicht, und welche Blamage, wenn ich, der ich mich zu dieser ersten und schwierigsten Reise gedrängt habe, unverrichteter Sache zurückkehren müßte! Schweren Herzens lasse ich hier drei Kisten mit Ausrüstung stehen und vermindere diesen Teil unserer Last dadurch von 950 auf 810 Kilogramm, den Proviant für die Station »Eismitte« von 350 auf 250 Kilogramm. Wir behalten somit, nachdem alle Kisten und sonstigen Bestandteile der Schlittenlasten gewogen wurden, ein Gesamtgewicht von 3300 statt 3600 Kilogramm, d. h. 300 Kilogramm je Schlitten oder 37 Kilogramm je Hund. Auch diese Last hielten die Grönländer in Anbetracht des tiefen weichen Schnees für zu hoch, waren aber zu einem Versuch bereit, als der Katechet ihnen mit Hilfe meiner Tabellen verdolmetscht hatte, daß die ganze Last den einzelnen Schlitten genau entsprechend der Zahl der Hunde zugeteilt werden würde und daß sich infolge des Verbrauchs an Hunde- und Menschenproviant jeden zweiten Tag das Gewicht jedes Schlittens um 13 Kilogramm vermindern werde. Durch diese recht langwierigen Arbeiten und Verhandlungen kamen wir erst 17 Uhr zum Aufbruch. Nebel; leichter, dann zunehmender Regen, mit Schneeflocken untermischt. Um 23.35 Uhr haben wir in schlimmem Klebschnee 20 Kilometer zurückgelegt und schlagen Zelt. Nachts starker Regen, der bis zum nächsten Mittag anhält. Alles ist naß, das Wasser ist natürlich auch in die Kisten eingedrungen, die hiergegen nicht geschützt werden konnten. Die Instrumente, Registrierstreifen und andere empfindliche Sachen mögen gut aussehen. Aber es fehlt die Zeit, um jetzt nachzusehen, das Wetter ist auch kaum geeignet dazu. Fabelhaft die Sichtverhältnisse: Von hier aus können wir das Depot B' im Glase sehen. Es ist auch von Scheideck aus sehr früh sichtbar und liegt dadurch viel günstiger als unser letztjähriges Depot B. Von hier aus gehen der Katechet und Bernard Olsen auf einem überzähligen Schlitten nach West zurück, mit einem Bericht über die Lage für Wegener. Wir gingen abends, um den nachts ein wenig festeren Schnee auszunutzen, weiter. Schafften wieder nur 20 Kilometer. Schnee tief aufgeweicht von dem gestrigen Regen, während des Marsches zunehmend Tauschnee und Schneetreiben, Temperatur 2 Uhr früh -3 Grad, unsichtig, sogar großenteils Nebel. Es ist sehr schwer, den Kurs zu halten, und die Grönländer bitten mich und Loewe vorauszufahren. Aber auch wir können keinen geraden Kurs halten, und schließlich geht der eine von uns abwechselnd auf Skiern voraus, von dem auf dem zweiten Schlitten sitzenden Kameraden durch Zurufe korrigiert. Menschen und Hunde treten tief in den weichen Brei hinein, sehr schwere Bahn, mehrere Hundegespanne sehr matt. Besonders schwer ist es, nach jedem Halt die Schlitten wieder in Fahrt zu bringen. »Haben wir das schlechte Wetter gepachtet?«

Am nächsten Mittag 14.45 Uhr geht es weiter. Da sich der Unterschied zwischen der Temperatur von Tag und Nacht als so unbeträchtlich herausgestellt hat, wollen wir lieber tags fahren. Wir versuchen, durch Verkürzung der Zeltaufenthalte zur Abmarschzeit am Vormittag zu gelangen, müssen aber feststellen, daß die Schlafenszeit von acht Stunden, die wir uns nur gestatten, für Europäer und Grönländer in gleicher Weise zu kurz ist, um die Kräfte auf der Höhe zu halten. Nach zehn Kilometern wird die Bahn besser. Von 80 bis 85 Kilometer merkbare Steigung, 85-90 Kilometer eben, die großen flachen Bodenwellen, wie wir sie hier schon 1929 fanden. Wir machen bei besserem Wetter 25 Kilometer.

Ein Schreckschuß: Detlev, der einzige meiner Grönländer, der ein paar Worte Dänisch spricht, kommt an mit der Erklärung, er wolle morgen früh nach Kamarujuk zurückfahren, er bekäme hier nicht genug zu essen. Ich wundere mich, daß Johann Davidson, der seit kurzem die Ausgabe des Proviantes an das Grönländerzelt besorgt, seine Kameraden nicht der Anweisung gemäß versorgt hat. Es stellt sich wieder heraus, daß die Grönländer sich merkwürdig schwer in die genaue Proviantverteilung finden. Wir hatten gerade geglaubt, wenn wir diese wichtige Funktion durch Grönländer ausführen ließen, ihnen Vertrauen in die ausreichende Verproviantierung einflößen und sie zu einer gewissen Selbständigkeit hierin bringen zu können. Dabei haben wir von vielen Sachen weit weniger gebraucht, als berechnet war. Schon an den letzten Abenden hatten wir uns über die arg dünne Pemmikansuppe gewundert, die uns Johann kochte. Jetzt zeigte es sich, daß er viel zu wenig verbraucht hatte, und während Loewe künftig die Essenausgabe an das Grönländerzelt überwachte, besorgte ich den abendlichen Pemmikan. Auch bei der Zuteilung des Hundepemmikans, wobei der Inhalt der Drei-Kilogramm-Dosen in je fünf Teile geteilt werden mußte, merkten wir, daß dies den Grönländern schwer wurde, und besorgten die Hauptverteilung auf die einzelnen Gespanne immer selbst.

Am 19. passieren wir km 100. Wir markieren seit dem Aufbruch von Scheideck die ganze Strecke in der vorgesehenen Weise: Schneemänner mit großen Wegzeichen alle fünf Kilometer, dazwischen alle 500 Meter schwarze Fähnchen aus leichtem Tuch an ein Meter hohen dünnen Stäben, die meist durch Johann Davidson, dessen Schlitten eins der beiden Meßräder (Hodometer) führt, während der Fahrt in den Schnee gesteckt werden. Die großen Wegzeichen bestehen aus einem etwa 50 Zentimeter hohen Tuchstreifen, der durch vier leichte Stäbe als vierkantiges würfelähnliches Gebilde auf den Schneemännern befestigt und dessen Innenraum zur größeren Standfestigkeit mit Schnee ausgefüllt wird. So brachte die Notwendigkeit der Streckenbezeichnung nicht nur eine Mehrbelastung von 120 Kilogramm an Fahnen und Zeichen, sondern auch einen Aufenthalt nach je fünf Fahrtkilometern zum Aufbau der Schneemänner und großen Zeichen.

Der Schnee war heute wieder miserabel. Bei jedem Stillstand backten die Schlittenkufen fest, so daß die Schlitten nur mit vereinten Kräften mehrerer Menschen wieder in Gang gesetzt werden konnten. Kam der Schlitten nicht gleich los und mußte man ihn mehrmals anheben und rütteln, so gruben sich die Kufen fußtief in den grundlosen Schnee, in dem weder die Hunde noch wir festen Stand bekamen. Bei den ersten startenden Schlitten waren ja Leute genug zum Helfen. Aber je mehr Schlitten schon fuhren, um so weniger Helfer waren da, und für den letzten war es eine furchtbare Quälerei. Wir sorgten schon immer dafür, daß möglichst die besten Grönländer am Schluß blieben, obwohl das völlig gegen den Kodex des Hundekutschierens geht. Aber trotzdem hatten wir oft erheblichen Aufenthalt, bis alle Schlitten fuhren, und an diesem Tag mußten wir einmal einen Grönländer 1½ Kilometer zurückschicken, um dem letzten, nicht in Gang gekommenen Schlitten zu helfen.

siehe Bildunterschrift

Aufnahme Georgi. Auf dem Wege nach »Eismitte«.

Man hat gesagt, wir seien auf dem Inlandeis nach der Methode der Grönländer gereist, die allgemein bekannt sei, so daß diese Reisen gar nicht einer besonderen Schilderung bedürften. Das ist ganz irrig. Die Grönländer reisen von sich aus nur auf dem Meereis und auf bekannten Wegen gelegentlich über Land von Fjord zu Fjord. Sie stützen sich dabei auf die ihnen bekannten Ansiedlungen ihrer Landsleute. Die Grönländer, d. h. die Bewohner von Dänisch-Nordgrönland, sind niemals auf dem Inlandeis gereist, sondern fürchten dieses instinktmäßig. Unserer Expedition gelang es zuerst, durch eine sehr vorsichtige Behandlung der Eingeborenen diese Scheu zu überwinden. Aber das erforderte auch während unserer Reise, der ersten, bei der mehrere Grönländer ins Innere mitgegangen sind, eine unablässige Wachsamkeit. Wir hatten schon die Grönländer, die mit nach km 400 weitergehen wollten, von den bei km 200 planmäßig umkehrenden getrennt und wohnten mit ihnen zusammen, behandelten sie in jeder Beziehung genau wie unsere europäischen Kameraden und unterhielten uns soviel wie möglich mit ihnen, der Sprachschwierigkeiten ungeachtet, um einer Entmutigung durch ihre Landsleute entgegenzuwirken. Und doch trat bei km 200, wo wir am 22. Juli eintrafen, beinahe noch die im stillen gefürchtete Katastrophe ein: sämtliche Grönländer weigerten sich, weiter hineinzureisen, sondern erklärten, am folgenden Tag zur Küste zurückreisen zu wollen. Die Lage war verzweifelt. Wir drei allein sind nicht imstande, eine genügende Last nach »Eismitte« zu schaffen. Aber es glückt, nach vielstündigen Verhandlungen unsere km-400-Grönländer umzustimmen; wir ergänzen ihre Kleidung durch Stücke aus unsern eigenen Kleidersäcken, lassen die Skikufen der Nansenschlitten am Ruhetag wachsen und stellen die Thermometerhütte mit den Stationsthermometern und Registrierinstrumenten auf. Am 24. Trennung: Loewe kehrt mit vier Grönländern nach West zurück, ich ziehe mit Weiken, aus dem inzwischen ein sehr guter Hundekutscher geworden ist, und vier Grönländern, Johann Abrahamsen, Hans Andreasen genannt Hansi, Johann Davidson und Karl Villumsen, weiter nach km 400. Freilich mußte ich meinen Grönländern, die offensichtlich trotz ihres aus Anstand der Gesinnung heraus gefaßten Entschlusses zum Weitergehen ihre schweren Bedenken nicht loswurden, so weit nachgeben, daß noch einmal die Lasten verringert wurden. Der Reiseproviant durfte nicht gekürzt werden, so mußte dies auf Kosten der Nutzlast für km 400 geschehen. Aber was bedeutete das gegenüber der Alternative, unverrichteter Sache von hier aus umkehren zu müssen? Wir einigten uns leicht über die Regelung der Gewichtsfrage. So konnten wir wenigstens reisen und erst einmal die Station »Eismitte« einrichten. Menschen und Hunde waren schon recht schlapp, wir spürten die schwere Bahn und auch den Einfluß der Seehöhe von 2500 Meter.

So reisten wir weiter mit sechs Schlitten, insgesamt 1620 Kilogramm Last, darunter 600 Kilogramm Ausrüstung und 150 Kilogramm Proviant und Brennstoff für »Eismitte«. Auf jeden Schlitten kamen 270 Kilogramm, auf jeden Hund 32½ Kilogramm. Die Bahn wird besser, je weiter wir hineinkommen, obwohl wir noch nicht die das Reisen so sehr erleichternde Harschschicht des Sommers vorfinden. Und am 30. Juli abends, 15 Tage nach Verlassen von Scheideck, am siebenten Tag nach Abreise von km 200, erreichten wir km 400. Die Reise war schwer, weil wir niemals unserer Grönländer ganz sicher waren, schon allein wegen der Unmöglichkeit, uns über seelische Regungen genügend zu verständigen, abgesehen von den überwiegend wenig günstigen Schneeverhältnissen. Aber die Station war nun an dem von Wegener festgesetzten Punkte angelangt, und als für die Zukunft Wichtigstes: Die Strecke war markiert und damit das Zutrauen der Grönländer auch für weitere Reisen gesichert.

siehe Bildunterschrift

Aufnahme Georgi. Bei km 200 wird eine Wetterhütte aufgestellt.

Mit Hilfe von Weiken und den vier Grönländern, die ganz glücklich über die auf so ungefährliche Weise erreichten 400 Kilometer waren, wurde am Ruhetag die Thermometerhütte zusammengebaut und auf einem ein Meter hohen Sockel aus Firnblöcken vorläufig aufgestellt, ebenso das unbeschädigt hergebrachte Quecksilberbarometer in Betrieb gesetzt. Am Mittag des 1. August trat Weiken mit den vier Grönländern und mit einem ausführlichen Bericht für Wegener die Rückreise zur Westküste an, bei ruhigem, heiterem Wetter, das bereits eine Strahlungsmessung ermöglichte. Ich blieb allein bei km 400. Im Zelt tagsüber prachtvoll warm. Abends Nebelbildung mit weißem Regenbogen. Am folgenden Tag wunderbare Zirruswolken in langen, scheinbar nach dem Horizont konvergierenden Streifen, den sogenannten Polarbanden. Es wird eine Aufgrabung begonnen, um eine unterirdische Kammer herzustellen, in der das unersetzliche Barometer gegen Temperaturwechsel und Beschädigungen geschützt aufgestellt werden soll. Dies soll später zugleich der unterirdische Eingang zum Winterhaus werden, das ja in der von Wegener erdachten Form eines ineinandergehängten dreifachen Zeltes mit Luftisolation ebenfalls bis zum Dach in den Firn eingegraben werden soll. Außerdem werden während der Aufgrabung die Temperaturen des Firns bis zwei Meter Tiefe gemessen. Dazwischen werden weiter Instrumente ausgepackt und in Betrieb genommen. Abends sinkt die Temperatur sehr rasch, und prompt bleibt die Uhr des Thermohygrographen, des Registrierinstruments für Lufttemperatur und -feuchtigkeit, stehen. Dabei haben wir die besten überhaupt heute hergestellten Uhren mitgenommen, sie sind von Herrn Friedrichs bei der Meteorologischen Versuchsanstalt der Seewarte besonders untersucht worden, haben freilich nun schon eine lange Reise hinter sich. Wieder in Gang gesetzt, bleibt die Uhr 22 Uhr erneut stehen bei etwa -23 Grad, neu in Gang gebracht, steht sie nach einiger Zeit wieder. Man kennt ja schon aus Wegeners Überwinterung in Borg diese Schwierigkeit, die in »Eismitte« auch zunächst vielen Kummer bereitete, bis größere Erfahrung die Tücke des Objekts zu meistern lehrte.

Die größte Enttäuschung bereitet das Wetter. Es ist schon am dritten Tage umgeschlagen, und bis zum 18. August, als Loewe mit der zweiten Schlittenreise ankommt, habe ich nur vier durchweg heitere Tage gehabt, und zehn Tage mit Schneefall. Das ist gegen alle Erwartung. Denn die Station »Eismitte« sollte doch gerade die »glaziale Antizyklone« erforschen, die, wie aus zahlreichen andern Beobachtungen, so auch von Wegener aus seiner Durchquerung mit Oberst J. P. Koch abgeleitet und eingehend diskutiert war. Natürlich rechneten wir nicht mit dauerndem Hochdruckwetter, denn alle bisherigen Durchquerungen hatten auch zeitweise im inneren Gebiet des Inlandeises schlechtes Wetter vorgefunden, und Wegener selbst hatte als erster die Zugstraßen der Depressionen über das Inlandeis untersucht. Aber das Tiefdruckwetter sollte nur vorübergehend das gute Wetter unterbrechen, anstatt daß es nun eher umgekehrt zu sein schien: überwiegend Tiefdruckwetter, nur vereinzelt durch schönes Wetter unterbrochen!

Die Tage verlaufen sehr einförmig: von 21 Uhr abends bis 8 Uhr morgens ist es draußen kalt, zwischen 20 und 30 Grad, und windig. Auch im Zelt ist es kaum wärmer, weil ich Petroleum für den Winter spare. Vorläufig genügt nachts noch der Renntierschlafsack. Um 7.40 Uhr ist die erste Beobachtung fällig. Seit dem 1. August werden die drei üblichen »Terminablesungen« als das Gerippe der ganzen Beobachtungstätigkeit streng durchgeführt. Dann Frühstück, und inzwischen ist die Temperatur im Zelt so weit gestiegen, daß ich mich feineren Arbeiten, dem Instandsetzen der Uhrwerke, photographischen Verschlüsse, Windmesser usw. widmen kann. Denn fast jedes Instrument muß irgendwelche Abänderungen erfahren, um unter den hiesigen ungewöhnlichen Verhältnissen einwandfrei zu arbeiten. Auch geben die Grabarbeiten willkommene körperliche Betätigung, denn nun wird ein größerer unterirdischer Raum ausgegraben, in dem die Ballone für aerologische Messungen gefüllt werden sollen. Gelegentlich wird ein kleiner Skiausflug eingelegt, aber ich habe dauernd so viel zu arbeiten, daß ich mir dieses Vergnügen selten gönnen darf. Es ist ja sehr wichtig, daß alle beabsichtigten Messungen möglichst rasch ins Werk gesetzt werden, um noch die sommerliche Witterung zu erfassen. Bei den Ausgrabungen merkt man stark die 3000 Meter Meereshöhe. Der Firn wird in große Blöcke zerteilt, und diese werden aus der Eingangstreppe nach oben getragen und zum Bau einer Mauer als Schutz gegen Schneefegen, später eines Beobachtungsturms, verwendet. Man muß nach jedem nach oben geschafften Block sich hinsetzen und verschnaufen. Die verschiedenen Baustadien, ebenso besondere Wolkenbildungen werden photographiert. Später werden die Aufnahmen im Zelt entwickelt, eine mühevolle Angelegenheit, da ich keine Dunkelkammer habe und es in der Tageszeit, in der man genug Wärme für diese Arbeit hat, in allen Winkeln des aus hellem Segeltuch gefertigten Zeltes strahlend hell ist. Immer wieder lasse ich mich durch die milde Wärme am Nachmittag dazu verleiten, irgendwelche Arbeiten zu lange auszudehnen. Aber der Temperatursturz zwischen 19 und 21 Uhr ist gewaltig, im Zelt wird es sogleich eiskalt, in aller Eile wird ein Liter kochend heißer Pemmikansuppe gegessen, und man flieht rasch in den Schlafsack. Schon am 8. August heißt es wieder: »Alle Registrieruhren stehen still.« Im Zelt frühmorgens -20 Grad.

siehe Bildunterschrift

Aufnahme Georgi. Station »Eismitte«. Die unterirdischen Räume für das Barometer und das Füllen der Pilotballone werden ausgegraben.

Auch die Windmessungen haben begonnen. Pilotballone aus Gummi werden mit je etwa einem Kubikmeter Wasserstoffgas aufgeblasen und frei fliegen gelassen. Ihr Weg wird mit einem Theodoliten verfolgt, aus dessen Winkelablesungen nachher Windrichtung und -stärke in allen von dem Ballon durchmessenen Höhenschichten berechnet werden. Wenn nur die Gaserzeugung und Füllung einfacher wären! In einem besonders für uns konstruierten Apparat läßt man Wasser auf Kalziumhydrid tropfen, wobei sich Wasserstoff bildet. Das Gas ist aber sehr heiß und mit Wasserdampf gesättigt, der Ballon würde zerstört werden. Es muß zuvor abgekühlt und getrocknet werden, und das geht ganz gut, solange die Gasentwicklung langsam genug verläuft, wobei die Füllung selbst etwa fünf Stunden dauert. Während dieser Zeit muß man ununterbrochen auf dem Posten sein. Bald hat sich an irgendeiner Stelle der Verbindungsschläuche ein Eispfropfen gebildet, so daß das Gas sich den Weg ins Freie bahnt. Oder der Ballon bekommt Löcher, die rasch verklebt werden müssen, alles bei 10 bis 20 Grad Kälte. Die Fingerkuppen weisen tiefe Risse bis ins Fleisch auf, die durch den benzinhaltigen Klebstoff geätzt und erweitert werden. Aber es glückt, schon am 10. August den ersten Ballon zu füllen; am 9. September wird zum erstenmal die Seehöhe 12 600 Meter erreicht. Beabsichtigt war, mit einem etwas größeren Ballon von drei Kubikmeter Inhalt und angehängtem leichtem Registriergerät Fesselaufstiege zu machen.

siehe Bildunterschrift

Aufnahme Georgi. Füllung eines Pilotballons in »Eismitte«.

17. August: »Unten im Eiskeller hängt seit über einer Woche ein Drei-Kubikmeter-Ballon, den ich nicht weiter füllen konnte, weil der Ballonkeller nicht groß genug ist. Ich habe nämlich beim Ausgraben nicht berücksichtigt, daß der Luftdruck hier nur zwei Drittel seines Wertes am Meeresspiegel hat. Infolgedessen ist der Inhalt des Ballons von bestimmter Tragkraft eineinhalbmal so groß, als er in Meereshöhe sein würde. Um das hier sehr kostbare Wasserstoffgas nicht preiszugeben – der Ballon mußte entleert werden, um das weitere Ausgraben des Füllraumes zu ermöglichen –, versuchte ich, mit ihm einige kleinere Ballone für die gewöhnlichen Pilotaufstiege zu füllen. Aber das Gas im Ballon hat nicht Druck genug. So muß ich den großen Ballon mit allerlei Gegenständen beschweren, um das Gas in den kleineren hinüberzudrücken, und setze mich schließlich selbst oben auf ihn. Wie oft ich, das Gleichgewicht verlierend, in die verschiedenen Ecken des Raumes herabgeflogen bin, kann ich nicht zählen. Schließlich ist der kleine Ballon in stundenlanger Akrobatenarbeit fast gefüllt – da preßt sich der große, unter meinem Gewicht ausweichende Ballon zur Seite gegen ein scharfkantiges Brett und reißt ein großes Stück auf. Der Rest des Inhalts entwich sogleich, der fast gefüllte Pilotballon platzte infolge der Erschütterung, und ich hatte so viel von dem mit allerlei Verunreinigungen beschwerten Gas eingeatmet, daß ich wie ein Gasvergifteter taumelte und mich noch tagelang sehr übel befand.«

18. August 1930. Wie schon seit vielen Tagen spähe ich bei jedem Gang ins Freie nach Westen, wo die Kameraden bald erscheinen müssen. Und heute mittag sah ich am Westhorizont ganz weit entfernt irgend etwas Außergewöhnliches. Im Glas erwies es sich als eine Schlittenreise, und 1½ Stunden später ist Loewe mit seinen fünf Grönländern da, und wir begrüßen uns sehr herzlich. Er hat eine glänzende Reise hinter sich und bringt an 1000 Kilogramm Nutzlast mit, auch etwas Briefpost. Die Reise ist zum Glück in eine ruhige Wetterperiode gefallen. Wir unterhalten uns, lassen den Petroleumofen länger brennen und halten mit den Grönländern ein großes »Kaffemik«. Wegener schickt mir einen Brief, worin er mich sehr ermuntert, meinen früheren Plan einer aerologischen Überwinterung an der grönländischen Ostküste nach Rückkehr von der Expedition weiterzubetreiben, und mir seine Hilfe dabei verspricht. Loewe und ich schlafen zusammen in meinem Zelt. Nachts gehen einige Hunde spazieren, meine Proviantkisten stehen offen neben dem Zelt und werden wohl bald aufgespürt sein. Ich gehe ein paar Male hinaus, um Hunde wieder anzubinden. Schließlich erwische ich eine starke Hündin, die durch ihr Hin- und Herlaufen die andern Gespanne wild macht und zum Ausreißen veranlaßt. Sie erschrickt und versucht zu beißen. Es entsteht ein heftiger Kampf, bei dem ich Sieger bleibe und den Hund unter mich zwinge. Aber nun wird das zugehörige Gespann rebellisch und versucht, der Baas voran, seiner Hündin zu Hilfe zu kommen. Die Lage wird kritisch, denn ich kann den Griff am Halse des Tieres nicht schnell genug lockern, ohne vorher die Zähne in Händen oder Armen zu haben. Ich brülle laut nach Hilfe, aber die Grönländer schlafen unerreichbar. Nur Loewe wird schließlich wach, stürzt, ebenso wie ich im Unterzeug, heraus und hält die tobende Meute so lange im Schach, bis ich mich von der Hündin habe losmachen können. Aber wir mußten sie leider laufen lassen, und das kostete mich meinen Vorrat an Seehundleder und getrocknetem Hellefisch. In dieser Nacht sank bei frischem böigem Wind das Thermometer bis auf -35 Grad.

Am folgenden Tag, dem 19. August, reist gegen Mittag Loewe mit seinen fünf Grönländern ab. Ich photographiere, winke mit der Flagge und verfolge die Schlitten im Fernrohr. Wieder am Zelt, sehe ich da Loewes Schlafsack liegen! Ich versuche, ihn durch ein großes Rauchfeuer zum Zurückkommen zu veranlassen. Aber man erzeuge einmal Rauch, der in der hellen Sonne weit genug zu sehen ist! Holzwolle, Petroleum, Papier, schließlich noch einige Liter des kostbaren Benzins werden verbrannt, ich stehe daneben und winke mit einer Wolldecke – umsonst. Das Fernglas zeigt, daß die Kameraden bei dem fünf Kilometer entfernten Schneemann haltgemacht hatten und nun weiterziehen. Nun bleibt nur noch übrig, auf Skiern hinterherzulaufen und den Schlafsack, wenn ich die Kolonne nicht erreiche, bei einem Schneemann, 10 oder 15 Kilometer von »Eismitte«, zu deponieren, damit Loewe, der das Fehlen sicher beim Zeltschlagen merkt, noch in der Nacht den so wichtigen Ausrüstungsgegenstand erhalten kann. Eben bin ich reisefertig, da kommt ein einzelner Hundeschlitten zurück: Rasmus Villumsen hatte sich, als Loewe zufällig seinen Verlust bemerkte, bereit gefunden, sogleich zurückzufahren. Er erhält noch für sich und die Kameraden ein paar Keks und kommt mit Mühe, da die Hunde offenbar lieber hierbleiben würden, auf der nach Westen führenden Spur wieder in Gang.

Schon zwei Tage später setzt starker Schneesturm mit reichlichem Niederschlag ein, überall hohe Schneewehen, Apparate eingeschneit und im Innern mit Schnee angefüllt, der große Ballonkeller voll Schnee geweht! Seufzer im Tagebuch: »Wo bleibt die Antizyklone?« Am folgenden Tag erst kann mühsam in dem lockeren Schnee der Gang zu dem Barometer wieder freigemacht werden. In tagelanger Arbeit wird später auch der Ballonkeller wieder ausgegraben und zum Schutz gegen Schneefegen eine zwei Meter hohe Mauer darumgebaut. Das hat wieder zur Folge, daß die Thermometerhütte nicht mehr gut ventiliert ist und weiter abliegend neu aufgebaut werden muß.

Am 5. September reißt der Fesselballon während des Aufstiegs in einer von unten nicht wahrnehmbaren Windschicht ab. Im Fernrohr beobachte ich das Platzen. In dieser Richtung stecke ich Flaggen aus, deren Reihe ich dann, auf Skiern nach Nordwest laufend, durch Einvisieren bis zehn Kilometer von der Station aus verlängere. So glückt es, durch einen zehnstündigen Marsch den unentbehrlichen Registrierapparat 15 Kilometer von der Station entfernt aufzufinden. Aber die Schwierigkeit dieser Suche, abgesehen von der Gefahr, bei aufkommendem Schlechtwetter den Rückweg nicht wiederzufinden, erwies sich bei der unerwartet starken Schneewehenmodellierung der Oberfläche als so groß, daß von der Ausführung der ursprünglich beabsichtigten Aufstiege mit großen, frei hochgelassenen Ballonen mit Registrierapparaten, den sogenannten Registrierballonen, abgesehen werden mußte. Daraufhin wurden verschiedene Vorrichtungen gebaut, die bei Fesselaufstiegen ein etwaiges Abreißen auf den Ballon selbst beschränken und den Registrierapparat mit einem Fallschirm heil zur Erde herabbringen sollten. Inzwischen war ein etwa drei Meter hoher Turm mit Brustwehr errichtet worden, auf dem der Ballontheodolit seinen Platz erhielt. Das Ganze sah jetzt einer Ritterburg sehr ähnlich, die Kameraden meinten sogar, einer Gralsburg, und adressierten scherzhaft einen Brief an mich in Anspielung auf die darunterliegenden unterirdischen Räumlichkeiten: »Gralsburg, im Keller links.«

Am 13. September traf die dritte Schlittenreise in »Eismitte« ein, Sorge, Wölcken und Jülg mit sieben Grönländern und etwa 1500 Kilogramm Proviant, Petroleum und Ausrüstung für die Station. Schon drei Stunden vorher entdeckte ich sie am Westhorizont, durch Luftspiegelung seltsam verzerrt, so daß ich über die Zahl der Schlitten lange im unklaren blieb. Nun ist das Alleinsein zu Ende! Wir sitzen im Zelt zusammen und erzählen uns gegenseitig. Wie schon auf S. 69 berichtet, hatten bei km 12 die Propellerschlitten die Hundeschlittenkolonne eingeholt und wollten, mit Wegener an Bord, wenig später ebenfalls nach dem Innern starten. Wie Sorge aussagte, war Wegener unter dem Eindruck der glänzenden Fahrt Scheideck her recht zuversichtlich gestimmt, und so war es etwas beunruhigend für uns, daß die Motorschlitten in der Zwischenzeit nicht die Hundeschlitten überholt hatten. Nicht daß wir Grund hatten, uns um die Überwinterung, für die noch manches fehlte, zu sorgen. Denn Sorge brachte Nachricht von Wegener mit, daß, falls wider Erwarten die Motorschlitten nicht planmäßig arbeiten sollten, eine oder bei Bedarf auch mehrere Hundeschlittenreisen das Fehlende nach »Eismitte« bringen würden. Wir hatten vor allem noch nicht genug Petroleum hier, auch fehlte das Winterhaus, abgesehen von wissenschaftlicher Ausrüstung. So hatte ich keine Drachen samt Drachendraht und Sorge noch keinen Sprengstoff für die im Frühjahr vorgesehenen Eisdickenmessungen. Wir hatten nicht den geringsten Zweifel, daß es möglich sein würde, diesen Bedarf rechtzeitig zu erhalten. Hatte doch Wegener selbst damit gerechnet, daß es wahrscheinlich Anfang November werden würde, bis die letzte Schlittenreise von »Eismitte« zur Weststation zurückkehren würde. So stellten wir noch einmal eine Liste des dringendsten Bedarfes für die Überwinterung auf, um Wegener einen brauchbaren Anhalt zu bieten, falls etwa nur noch eine einzige Schlittenreise mit etwa zehn Schlitten hereinkommen sollte. An erster Stelle stand Petroleum. Wir glaubten den von Wegener vorgesehenen Bedarf von 46 Petroleumkannen (»Dunken«) zu 40 Liter im äußersten Notfall auf 27 Dunke vermindern zu können. Diese 680 Kilogramm zusammen mit den 500 Kilogramm Zelthaus würden etwa die Schlittenlast einer vierten Reise von zehn Hundeschlitten ausmachen, wir könnten dann aber keinen wissenschaftlichen Nachschub, Radioausrüstung usw. mehr erwarten. Da entschlossen wir, Sorge und ich, uns schweren Herzens dazu, in diesem äußersten Fall auf unser mit soviel Liebe ausgedachtes und ausgeführtes Winterhaus zu verzichten. Meine Grabarbeiten hatten ergeben, daß der Firn in zwei bis drei Meter Tiefe bereits eine recht große Heftigkeit hatte. Wir wollten also einen ziemlich großen Raum ausgraben, in dem wir, tief unter der Oberfläche, unser Sommerzelt aufzustellen dachten. Aus diese Weise hatten wir 500 Kilogramm Nutzlast der zu erwartenden Schlittenreise für wissenschaftlichen Bedarf aller Art freigemacht, und diesen Plan samt einer Bedarfsliste sandten wir Wegener durch die am nächsten Mittag zurückkehrenden Kameraden. Diese würden etwa am 20. September bei Wegener ankommen, so daß die nächste und möglicherweise letzte Hundeschlittenreise auch unter den jetzt infolge der längeren Nächte ungünstigeren Verhältnissen (die Mitternachtssonne war schon am 30. Juli zu Ende) bis Mitte Oktober erwartet werden durfte. Fast überflüssigerweise, aber doch dem Umstand Rechnung tragend, daß wir nach Abreise der Kameraden keine Verbindung mit Wegener haben würden – der tragbare Kurzwellensender sollte erst bei der letzten Reise des Herbstes gleichzeitig mit der vorgesehenen Übersiedlung von Kraus nach »Eismitte« hierherkommen –, erwogen wir, was wir tun würden, falls durch höhere Gewalt keine der heute, am 14. September, noch in Aussicht stehenden Reisen uns erreichen sollte; wir rechneten aus und benachrichten Wegener davon, daß wir in diesem Falle am 20. Oktober die Rückreise nach Westen mit Handschlitten antreten müßten. Denn, wie angesichts des späteren Verlaufes betont werden muß: Wir verfügten ohne eine weitere Nachschubreise erst über reichlich ein Drittel der damals, nach den uns bekannten Verhältnissen, als äußerstes Mindestmaß für die Überwinterung erforderlichen Petroleummenge, weniger als ein Fünftel der ursprünglich berechneten Menge.

Nun begann eine wetteifernde Zusammenarbeit: während ich meinen Ballonraum und einen unterirdischen Vorratsraum baute, grub Sorge einen großen Höhlenraum zur Aufstellung seiner seismischen Instrumente für Eisdickenmessungen, gewann Firntemperaturen und -dichten. Bald kamen unerwartet heftige und anhaltende Schneestürme. Wir fühlten: der Winter ist im Anzüge, und Bangen erfaßte uns, wenn wir an die unterwegs befindliche Schlittenreise dachten. Und dann kam die Kälte, am 5. Oktober wurden -40 Grad, am 10. Oktober -50 Grad unterschritten! Und bald war in uns nur der eine Wunsch lebendig: Daß nur bei diesem Wetter keine Schlittenreise unterwegs sein möchte, komme es mit uns beiden auch, wie es wolle. Und dann überdachten wir Tag für Tag unser weiteres Verhalten. Wir beluden einen bei uns befindlichen Handschlitten aus Rohrgeflecht und versuchten damit zu marschieren. Aber die für solche Last zu kurzen Ein gutes Beispiel für die Schwierigkeit der Ausrüstungsfragen: Dieser Schlitten war gegenüber dem bei der Handschlittenreise von 1929 so bewährten Modell auf allgemeinen Wunsch nur in Gestalt einer Aufbiegung des hinteren Kufenendes verändert, und wie wir glaubten, verbessert worden. Aber dadurch wurde die tragende Kufenlänge, zugleich damit die Tragfähigkeit, um etwa ? verringert. und nach der vielfachen Beanspruchung des Sommers stark zerschrammten Kufen machten das Ziehen mühsamer, als wir erwartet hatten. Wir hätten unser einziges paar Skier zu Kufen verwenden und beide auf den uns von 1929 her bekannten Schneereifen hinausmarschieren müssen. Inzwischen untersuchten wir die Verhältnisse in dem von Sorge ausgegrabenen Raum; fanden, daß er einen weitgehenden Schutz gegen Sturm und vorübergehende Kälteperioden bot, daß er, wenigstens bei geringer Ventilation, heizbar und bewohnbar war. Es gelang, aus Kistenblech und photographischen Platten eine notdürftig ausreichende Lampe herzustellen, und wir glaubten schließlich sogar – allzu optimistisch, wie sich später herausstellte – mit unserm geringen Petroleumvorrat von 1¼ Liter täglich eine Heizung und Beleuchtung dieser Firnhöhle bis zum Frühjahr ermöglichen zu können. Wir wußten ja auch, welche entscheidende Bedeutung die Durchführung der Überwinterung für Wegeners großen Plan hatte, und wie schwer ihn die Zurückziehung der Station treffen werde. Das heißt: während wir Mitte September, als die Kameraden der dritten Schlittenreise zurückgingen, eine Überwinterung mit unserer derzeitigen Ausrüstung für undenkbar hielten und halten mußten, hatten die inzwischen gewonnenen, völlig neuen Erfahrungen, wenn auch längst keine Sicherheit, so doch eine gewisse Möglichkeit für die Überwinterung ergeben. Wir hielten es nun für unsere Pflicht der Expedition gegenüber, diese neue Möglichkeit bis zum letzten Ende auszunutzen und die Station dementsprechend nicht am 20. Oktober aufzugeben. Und daß wir darin richtig gehandelt haben, hat uns Wegener bei seiner Ankunft am 30. Oktober selbst freudig bestätigt.

Es ist uns gelegentlich eingewandt worden: Wenn Sie geschrieben hatten, Sie würden am 20. Oktober abmarschieren, so mußten Sie das unter allen Umständen ausführen. Das gilt gewiß unter gewöhnlichen Verhältnissen, beweist aber einen Mangel an Einfühlung in die besondere Lage und in die Verhältnisse bei arktischen Expeditionen überhaupt. Maßgebend für jeden Entschluß und Rechtfertigung seiner notwendigen Änderung ist stets die höchste Richtschnur: der Zweck der Expedition. Wegener wußte, und auch der Verlauf seiner letzten Reise hat es leider gezeigt, daß hier die äußeren Verhältnisse dem Menschen das Gesetz des Handelns vorschreiben und ihn oft genug zu Änderungen seiner Pläne zwingen. Wir wußten auch, daß Wegener die Freiheit selbstgewählten Entschlusses in dem Maße heilig war, daß er jede »Hilfsexpedition« verdammte, bei der zu einer Rettung der aus eigenem Entschluß in Gefahr befindlichen Leute andere Menschenleben aufs Spiel gesetzt werden würden.

So richteten wir uns vom 5. Oktober ab in Sorges Instrumentenraum, der nun doch im Winter durch Fehlen des Sprengstoffes für seinen eigentlichen Zweck nicht mehr benutzt werden konnte, häuslich ein. Auch hier wurde mancher Abstrich an unsern Erwartungen nötig: wir mußten nach kurzer Versuchszeit endgültig auf Benutzung unseres Petroleumofens verzichten, wir mußten zur Entfernung der giftigen Verbrennungsgase des Kochers, der notwendigen Lüftung wegen, Wärme und Behaglichkeit opfern; vor allem war es nicht möglich, unsere Kleidung und Schlafsäcke regelmäßig zu trocknen, das Renntierfell faulte, verlor die Haare und riß wie Zunder. Wie es doch möglich war, unter diesen Umständen zu überwintern, wird Sorge berichten.


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