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41

Der Wahnsinnsschrei eines Mannes in Todesfurcht klingt furchtbar. Mikes Nerven waren zäh, aber er mußte seine letzte Kraft zusammennehmen, um seine Selbstbeherrschung diesmal zu bewahren. Seine gefesselten Hände krampften sich zusammen.

»Ich warne Sie«, sagte er.

Der alte Mann drehte sich lächelnd nach seinem zweiten Gefangenen um, aber er antwortete nicht. Er hob den halb bewußtlosen Gregory so leicht auf, als ob er ein Kind wäre, und trug ihn zu der schrecklichen Maschine, wo er ihn mit dem Gesicht nach unten auf die bewegliche Plattform legte. Er beeilte sich keineswegs, Mike sah, daß er sich Zeit ließ. Diese Beschäftigung schien ihm ein unbeschreibliches Vergnügen zu verursachen. Dann trat er vor die Maschine und öffnete die Lunette. Man hörte, wie ein Haken einschnappte. Sie blieb geöffnet stehen.

»Das ist meine Erfindung«, sagte er.

Mike schaute einen Augenblick an dem schrecklichen Henker vorbei nach dem hinteren Ende der Höhle. Er sah dort eine Erscheinung, die ihm das Blut in die Wangen trieb. Zuerst glaubte er, daß er träume und die unglaubliche Nervenanspannung Halluzinationen bei ihm auslöse.

Helen!

Sie stand dort in dem grellen Licht und war so mit Erde bedeckt, daß es schien, als trüge sie ein graues Kleid.

»Wenn Sie sich bewegen, schieße ich!« rief das Mädchen.

Mike hob sich auf seine Knie, und es gelang ihm, sich schwankend aufzurichten. Longvale hörte die Stimme.

»Mein verehrtes Fräulein«, sagte er äußerst liebenswürdig, »welch ein Wink des Schicksals!

Langsam ging er auf sie zu, ohne auf die ausgestreckte Pistole zu achten.

»Schießen Sie!« rief Mike mit heiserer Stimme. »Um Himmels willen, schießen Sie!«

Sie zögerte eine Sekunde, dann drückte sie ab. Aber der Schuß ging nicht los. Mit Erde verklebt, funktionierte der feine Mechanismus nicht mehr.

Sie wandte sich zur Flucht, aber Longvales Arm umschlang sie schon, und mit der Hand zog er ihren Kopf an seine Brust.

»Meine Schöne«, sagte er, »nun wird die Witwe zum Witwer, und Sie werden seine erste Braut!«

Sie war völlig gelähmt und konnte keinen Widerstand mehr leisten. Eine ihr ganz unbekannte Schlaffheit überkam sie; obgleich sie bei vollem Bewußtsein war, konnte sie sich nicht nach eigenem Willen bewegen oder sprechen. Mike versuchte wie wahnsinnig, seine Hände zu befreien. Er wünschte, daß sie ohnmächtig werden würde, damit ihr der Anblick des Schrecklichen, das jetzt geschehen würde, erspart bliebe.

»Wer kommt nun zuerst dran?« murmelte der alte Mann. Er fuhr mit der Hand über den kahlen Kopf. »Es wäre das beste, wenn Mylady den Anfang machte und voranginge, damit ihr die Todesschrecken erspart blieben – und trotzdem...«

»Nein, Sie sollen die erste sein«, sagte er zu Helen, schnallte den halb bewußtlosen Gregory los und legte ihn auf den Boden.

Mike sah, wie Longvale den Kopf hob und horchte. Es kamen dumpfe Töne von oben, als ob Leute im Haus wären. Wieder änderte er seine Absicht, beugte sich nieder und stellte Gregory Penne auf die Füße. Mike überlegte sich, warum er ihn so lange hielt, so starr aufgerichtet dastand und ihn dann plötzlich zu Boden warf. Aber dann wunderte er sich nicht länger. Eine Gestalt kam über den Boden der Höhle, ein großer haariger Körper erschien, dessen wütende Augen auf den alten Mann gerichtet waren.

Es war Bhag! Sein zottiges Fell war mit Blut verklebt, sein Gesicht staubbedeckt. Genauso hatte ihn Mike damals aus dem Turm kommen sehen. Er hielt inne, beschnüffelte den stöhnenden Mann auf dem Boden und streichelte ihn mit seiner dicken Tatze zärtlich. Plötzlich sprang er ohne irgendeine Vorbereitung auf Longvale zu und streckte den alten Mann mit einem Schlag zu Boden. Er versuchte vergeblich, sich gegen das Tier zu wehren. Einen Augenblick stand Bhag über ihm, sah auf ihn hinab und bewegte seinen Mund, als ob er zu ihm sprechen wollte. Dann packte er ihn und legte ihn auf das bewegliche Brett. Er neigte die Plattform und schob sie nach vorn.

Mike starrte entsetzt hin. Der riesige Affe hatte eine Hinrichtung gesehen! Er war ja in der Nacht aus der Höhle entkommen, in der Foß ermordet wurde. Sein halbmenschliches Gedächtnis hatte die Einzelheiten genau behalten. Mike konnte beobachten, wie Bhags Verstand arbeitete, um sich den Vorgang wieder zu vergegenwärtigen.

Bhag tastete an dem Holzgestell herum und berührte die Feder, die die Lunette festhielt. Mit einem Schlag fiel sie auf den Hals des Kopfjägers. In diesem Augenblick hörte Mike oben ein Geräusch. Er blickte hinauf und sah, wie die Falltür geöffnet wurde. Bhag hörte es auch, aber er war von seiner Beschäftigung so in Anspruch genommen, daß er sich nicht stören ließ. Longvale war wieder zum Bewußtsein gekommen und versuchte mit äußerster Anstrengung, seinen Kopf aus der Lunette zu befreien. Er begann verworren zu sprechen, aber plötzlich schien er das Tragische seines Schicksals zu begreifen. Er wehrte sich nicht mehr und lag ruhig da. Man sah, wie sich seine beiden Hände krampfhaft um den Rand der Plattform klammerten, auf der er lag.

Inspektor Lyle sah von oben, wie die Klinge blitzartig hinunterzuckte und hörte ein unbeschreibliches Knacken. Das war selbst für seine starken Nerven fast zuviel.

Von unten kam eine Stimme herauf: »Kommen Sie schnell herunter, Inspektor! Im Büfett finden Sie ein Tau, lassen Sie sich daran herunter, aber bringen Sie eine Pistole mit.«

Eine Minute später war der Detektiv unten.

»Von dem Affen droht keine Gefahr«, sagte Mike zu ihm.

Bhag hatte sich über seinen bewußtlosen Herrn gebeugt wie eine Mutter über ihr Kind.

»Bringen Sie zuerst Miss Leamington fort«, sagte Mike mit leiser Stimme, als der Detektiv ihm die Handfesseln löste. Das Mädchen lag stumm und bewußtlos neben der Guillotine. Glücklicherweise hatte sie nichts von der Tragödie gesehen, die sich soeben in ihrer Gegenwart abgespielt hatte. Ein zweiter Detektiv war an dem Tau heruntergerutscht. Der alte Jack Knebworth war der dritte, der in die Höhle hinabkletterte.

Mike ging zu dem Baron, nahm ihm die Handfesseln ab und legte ihn auf den Rücken. Ein Blick auf ihn sagte ihm genug. Sir Gregory war in einem verzweifelten, wenn auch nicht hoffnungslosen Zustand. Bhag merkte, daß Mike es nicht schlecht mit seinem Herrn meinte, und verhielt sich ruhig. Brixan erinnerte sich daran, wie er den großen Affen zum erstenmal kennengelernt hatte und wie er alle Befehle Gregorys ausführte.

»Hebe ihn auf«, sagte er zu Bhag und sprach in genau derselben Art wie damals Gregory.

Ohne Zögern beugte sich Bhag herab und nahm den bewußtlosen Mann vom Boden auf. Mike zeigte ihm den Weg zur Treppe und führte ihn die Stufen hinauf.

Das ganze Haus wimmelte von Polizisten, die erstaunt waren, als Bhag mit seiner Last erschien.

»Trage ihn die Treppe hinauf und lege ihn aufs Bett!« befahl Mike.

Knebworth hatte Helen schon in seinem Wagen nach Chichester gebracht. Er wollte nicht, daß sie in dem Haus des Schreckens wieder zum Bewußtsein kommen sollte.

Mike ging zusammen mit Inspektor Lyle noch einmal zur Höhle hinunter und durchsuchte sie kurz. Die menschlichen Körper ohne Kopf erinnerten an furchtbare Tragödien. Sie kamen auch in die große Höhle, deren Boden mit Knochen bedeckt war.

»Hier haben wir die Bestätigung der alten Legende«, sagte er mit heiserer Stimme. »Das sind die Knochen der Ritter und Krieger, die durch den Erdrutsch in der Höhle eingeschlossen wurden. Dort können Sie deutlich die Skelette der Pferde sehen.«

Wie aber kam Helen hierher? Etwas später fand er jedoch ihre Spuren, die ihm zeigten, daß sie in die Höhle hineingeglitten war.

»Dieses Rätsel wäre also auch gelöst«, sagte er. »Griff Tower ist von den Römern offensichtlich gebaut worden, um Menschen und Tiere davor zu bewahren, in die Höhle zu fallen. Zufällig war es auch ein guter Entlüftungsschacht. Ich zweifle keinen Augenblick, daß der Kopfjäger die Höhle nicht nur als Bergungsplatz für seine Opfer verwenden wollte, die er ermordete, sondern sie auch als Ausweg benutzen wollte, wenn er einmal fliehen mußte!«

Als er dann später die Laterne, die Kerze und die Streichhölzer fand, die Helen hatte fallen lassen, wußte er, daß er mit seiner Ansicht recht hatte.

Sie kamen zur Guillotine zurück, auf der noch der Rumpf des Kopfjägers lag. Mike stand lange Zeit schweigend davor und schaute auf die reglose Gestalt auf der Plattform.

»Wie konnte er nur die Leute überreden, zu ihrer eigenen Hinrichtung zu kommen?« fragte der Inspektor.

»Diese Frage muß ein Psychologe beantworten«, erwiderte Mike. »Zweifellos kam er mit vielen in Berührung, die sich mit dem Gedanken des Selbstmordes trugen, vor der Tat aber zurückschreckten. Er handelte für sie. Daß er nachher die Köpfe fortgesandt hatte, entsprang wohl dem Wunsch, den Frauen und Familien seiner Opfer die Versicherungssummen zukommen zu lassen.

Er arbeitete mit außerordentlicher Schlauheit. Die Antworten auf seine Annoncen bestellte er, wie Sie wissen, zu einem Zeitungshändler, wo sie von der alten Frau abgeholt wurden, die sie an eine zweite Adresse sandte. Dort wurden sie in besonders präparierte Kuverts gesteckt und scheinbar nach London adressiert. Ich habe herausgebracht, daß diese Kuverts in einem besonders lichtundurchlässigen Kasten aufbewahrt waren. Der unbekannte Auftraggeber hatte angeordnet, daß sie nicht eher herausgenommen werden durften, als bis man sie zur Post brachte. Eine Stunde, nachdem sie aufgegeben waren, wurde die Adresse unsichtbar, und eine neue erschien an ihrer Stelle auf dem Briefumschlag.«

»Benützte er dazu die sogenannte Zaubertinte?« Mike nickte.

»Das ist ja ein Trick, der häufig von Verbrechern angewandt wird. Die letzte Adresse war natürlich Dower House. – Wir wollen die Lampen ausmachen und nach oben gehen.«

Drei Lampen verlöschten. Lyle sah sich noch einmal um. Ihre beiden Gestalten warfen lange, gespenstische Schatten.

»Wir wollen das unten lassen«, sagte er.

Mike stimmte ihm bei.


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