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28

Mike war bedrückt. Er nahm die Geschichte mit der Limousine viel schwerer als das junge Mädchen, und besonders der Versuch, Helen in den Wagen zu locken, hatte ihn nervös werden lassen. Die Ereignisse der letzten Tage hatten es notwendig gemacht, den Detektiv, der ihr Haus bewachte, abzurufen. Bei dem Ernst der Lage entschied er sich aber, durch einen Ortspolizisten die Überwachung wieder aufnehmen zu lassen.

Nachdem er Helen in seinem Auto nach Hause gebracht hatte, fuhr er zur Polizeistation und bat um einen Mann. Aber es war zu spät, um den Inspektor selbst zu sprechen. Der Beamte, der die Aufsicht führte, wollte die Verantwortung nicht auf sich nehmen, den Befehl zu erteilen, und erst als Mike sich anschickte, an den Inspektor zu telefonieren, gab er widerwillig nach und entsandte einen uniformierten Polizisten, der in der Straße, in der Helen wohnte, auf und ab patrouillieren sollte.

Als Mike nach Hause kam, unterzog er die beiden Gegenstände, die Helen gefunden hatte, einer genauen Untersuchung. Butylchlorid war ein sehr schweres Gift ...

Er prüfte das Gelenk der Handschelle noch einmal. Unheimliche Kraft hatte dazu gehört, das Verbindungsglied herauszubrechen. Dieses Geheimnis konnte er nicht enträtseln, und nachdem er sich lange vergeblich den Kopf darüber zerbrochen hatte, gab er es auf.

Bevor er sich zur Ruhe legte, erhielt er noch einen Anruf von Inspektor Lyle, der Griff Towers überwachte. Es hatte sich nichts Neues ereignet, und das Leben ging dort anscheinend seinen gewohnten Gang. Sir Gregory hatte den Inspektor ins Haus gebeten und ihm mitgeteilt, daß Bhag immer noch vermißt wurde.

»Diese Nacht müssen Sie noch dort bleiben«, sagte Mike. »Morgen werden wir den Posten aufheben. Scotland Yard ist der Ansicht, daß Sir Gregory nichts mit dem Tod von Foß zu tun hat.«

Ein Brummen auf der anderen Seite des Telefons drückte die Unzufriedenheit mit dieser Ansicht aus.

»Und ich behaupte, daß er trotzdem etwas damit zu tun hat«, sagte er. »Ich habe einen blutbefleckten, steifen Filzhut in den Feldern außerhalb der Mauer gefunden. Innen steht die Firma gedruckt: Chi Li Stores, Tjandi.«

Das war allerdings eine Neuigkeit.

»Schicken Sie ihn mir morgen früh her«, sagte Mike nach längerer Überlegung.

Gleich nach dem Frühstück am nächsten Morgen kam der Hut und wurde besichtigt. Knebworth, der das meiste von Mike gehört hatte, betrachtete das Fundstück neugierig.

»Wenn der Eingeborene Lawleys Hut trug, als er bei Mr. Longvale ankam, wo um alles in der Welt hat dann der Wechsel stattgefunden – es hätte doch nur zwischen Griff Towers und dem Haus des alten Herrn passieren können, es sei denn –«

»Es sei denn – was?« fragte Mike. Er hatte große Achtung vor Knebworths scharfem Verstand.

»Es sei denn,, daß der Wechsel im Hause von Sir Gregory stattfand. Sie sehen, daß keine Schnitte in dem Hut sind, obgleich er mit Blut befleckt ist. Da stimmt etwas nicht.«

»Es ist sehr sonderbar«, gab Mike zu. »Und trotzdem ist die Erklärung sehr einfach, wenn meine Theorie stimmt.« Er erzählte Knebworth nicht, welche Theorie er sich gebildet hatte.

Dann begleitete er Jack zum Atelier und sah den großen Autobus abfahren. Zu gerne wäre er aus irgendeinem Grund mitgekommen. Bei dieser lustigen, sorglosen Gesellschaft hätte er seine Unruhe und Sorge für einige Zeit vergessen.

Wie gewöhnlich jeden Morgen ließ er sich mit London verbinden, aber auch dort war nichts Neues vorgefallen. Es gab also wirklich keinen Grund, sich abhalten zu lassen. Sobald er sich entschieden hatte, stieg er in seinen Wagen und folgte der fröhlichen Schar.

Schon eine Viertelstunde, bevor er an Ort und Stelle war, sah er den alten Turm. Es war eine alte, verfallene Ruine, die den Eindruck einer ungewöhnlich hohen Schafhürde machte. Als er ankam, war der Autobus bereits von der Straße abgebogen und seitlich auf eine Wiese gefahren.

Die Schauspieler beendeten eben ihre Toilette und waren mit Schminken und Pudern gerade fertig geworden. Helen war im Augenblick nicht zu sehen. Sie kleidete sich in einem kleinen Zelt um. Jack Knebworth und der Operateur sprachen lebhaft über Tageslicht, Scheinwerfer und den Stand der Kamera.

Mike war zu vernünftig, um jetzt zu stören. Er ging zu dem Turm und beschaute sich das verschiedenartige Mauerwerk, das Generationen auf die ursprünglichen Fundamente getürmt hatten. Er verstand nicht viel von Mauerwerk, aber er konnte erkennen, bis zu welcher Höhe die Römer gebaut hatten. Er glaubte, dann auch noch den Teil zu unterscheiden, der in der Sachsenzeit aufgeführt worden war.

Einer der Hilfsarbeiter stellte eine Leiter auf, die Roselle gebrauchen sollte. Die Geschichte, die gefilmt wurde, handelte von einem Mädchen, das zuerst Choristin war und später die Frau eines hohen Adeligen wurde, der sich mit Archäologie befaßte. Der arme junge Mann, den sie in ihrer Jugend geliebt hatte – Mike vermutete mit Recht, daß Reggie Conolly diese traurige Rolle zu spielen hatte –, war immer zur Hand, um ihr zu helfen. Auch jetzt, wo sie in einem Verlies der Zitadelle eingeschlossen war, befreite er sie.

Der eigentliche Turm war in Arundel aufgenommen worden, in dem alten Griff Tower sollte nur gezeigt werden, wie das Mädchen an einem Tau aus ihrem Gefängnis entkam.

»Es ist verteufelt schwer, da herunterzukommen«, sagte Reggie düster. »Wenn auch im Innern der weißen Leinentücher ein festes Tau angebracht ist, damit die Geschichte nicht reißen kann, so ist doch Miss Leamington entsetzlich schwer. Versuchen Sie es doch selbst einmal, sie aufzuheben, Mr. Knebworth. Ich möchte gerne wissen, ob Sie sich dabei amüsieren würden!«

Mike stand dabei. Er hätte am liebsten diese Aufforderung gleich in die Tat umgesetzt.

»Was von mir in dieser Rolle verlangt wird, ist denn doch zu viel«, wehrte sich Reggie. »Ich bin kein Höhlenmensch, ich habe Knebworth auch gesagt, daß das keine Rolle für mich ist! Warum muß dann ausgerechnet hiervon eine Großaufnahme gemacht werden? Man könnte doch irgendeine Puppe dazu nehmen. Das würde auch genügen. Oder das einfachste wäre, wenn Miss Leamington allein herunterkletterte.«

»Das ist doch ganz einfach«, sagte Knebworth, der herbeigekommen war und die letzten Sätze gehört hatte. »Miss Leamington wird sich am Tau halten, so daß Sie nicht ihr ganzes Gewicht zu tragen haben. Sie brauchen nur sehr mutig und hübsch auszusehen.«

»Das ist alles gut und schön«, grollte Reggie. »Aber in meinem Kontrakt steht nichts davon, daß ich Taue hinauf- und hinunterklettern muß. Jeder von uns hat seine Zuneigungen und seine Abneigungen – aber derartige Dinge hasse ich.«

»Versuchen Sie es«, sagte Jack kurz.

Ein Requisitenarbeiter hing das Tau an einem Nagel auf, den er an der Innenseite des Turmes eingeschlagen hatte. Das obere Ende der Mauer kam nicht mit auf die Aufnahme. Die eigentliche Flucht war in Arundel schon festgehalten. Hier sollte nur die Großaufnahme gemacht werden. Die erste Probe hätte beinahe mit einem Unglücksfall geendet. Mit einem Schrei ließ Connolly seine Last fallen, und Helen wäre abgestürzt, wenn sie sich nicht selbst schnell am Tau gehalten hätte.

»Noch einmal versuchen!« rief Jack wütend. »Denken Sie doch daran, daß Sie eine Männerrolle spielen! Jackie Googan hätte seine Sache besser gemacht als Sie!«

Die Szene wurde noch einmal mit größerem Erfolg wiederholt, und als nach der dritten Probe Reggie ganz erschöpft war, rief Knebworth plötzlich: Kamera! und die Aufnahme begann.

Soviel Schattenseiten Connolly auch haben mochte, und wie schwer es auch war, mit ihm fertig zu werden, zweifellos war er ein Künstler. Obwohl diese ungewöhnliche Anstrengung ihn sehr mitgenommen hatte, schwebte ein holdes Lächeln auf seinen Lippen, und er schaute das Mädchen liebreich an, während die Kamera auf einer beweglichen Plattform sich langsam nach unten bewegte, um mit dem abwärts gleitenden Liebespaar gleichen Schritt zu halten. Jetzt waren sie auf dem Erdboden angekommen, und Connolly schaute Helen noch mit einem letzten, sprechenden Blick an.

»Das genügt«, sagte Jack.

Reggie ließ sich erschöpft niedersinken.

»Alle Wetter!« stöhnte er, indem er seine schmerzenden Armmuskeln betastete. »So etwas mache ich nie wieder, ich habe genug von der Rolle, Mr. Knebworth. Es war furchtbar! Ich dachte, ich würde sterben.«

»Nun, Sie sind aber nicht gestorben«, sagte Jack gutmütig lächelnd. »Ruhen Sie sich aus, dann wollen wir die Flucht filmen.«

Der Standpunkt der Kamera wurde etwa zwanzig bis dreißig Meter seitlich verlegt, und während Reggie Connolly sich auf dem Rasen ausruhte, ging Helen zu Mike.

»Ich bin sehr froh, daß die Aufnahme vorbei ist«, sagte sie erleichtert. »Mir tut der arme Connolly leid. Während der Aufnahme hat er so geschimpft, daß ich beinahe laut lachen mußte. Dann hätten wir die Sache noch einmal aufnehmen können.«

Ihr eigener Arm war braun und blau gestoßen, und das Tau hatte ihr die Haut am Handgelenk abgeschürft. Mike hatte plötzlich den verrückten Wunsch, diese kleine Wunde zu küssen, aber er beherrschte sich.

»Wie habe ich mich benommen? Sah ich einigermaßen annehmbar aus? Ich fühlte mich wie ein Bündel Stroh.«

»Sie sahen wundervoll aus«, sagte er begeistert. Sie blickte ihn von unten herauf schelmisch an, aber dann senkte sie die Augen.

»Wahrscheinlich sind Sie voreingenommen«, sagte sie und gab sich Mühe, unbeteiligt zu erscheinen.

»Das ist möglich«, sagte Mike. »Was gibt es innerhalb des Gemäuers zu sehen?« fragte er.

»Innerhalb des Turmes? Nichts außer einer Menge Felsen und wildem Gestrüpp und einem wundervollen Zwergbaum. Es war ganz hübsch.«

Er lachte. »Eben haben Sie doch gesagt, daß Sie froh wären, daß es vorüber ist. Ich vermute, daß Sie von der Aufnahme sprachen und nicht vom Inneren des Turmes.«

Sie nickte schalkhaft und zwinkerte mit den Augen.

»Mr. Knebworth hat gesagt, daß er die Sache noch einmal bei Nacht aufnehmen wird, wenn er mit der Tagaufnahme nicht zufrieden ist. Der arme Mr. Connolly! Dann wird er wohl seine Rolle im Stich lassen.«

In dem Augenblick hörte man die Stimme von Jack Knebworth.

»Nehmen Sie die Leiter nicht weg, Collins!« rief er. »Legen Sie sie ins Gras hinter dem Turm. Es ist möglich, daß wir heute abend wieder hierher kommen. Lassen Sie alles hier, was durch das Wetter nicht leidet. Sie können es morgen früh abholen.«

Helen sah enttäuscht aus.

»Ich fürchte, daß er seinen Vorsatz ausführt«, sagte sie. »Mir macht es nicht viel aus, aber die Nervosität Connollys macht mich auch unsicher. Ich wünschte, Sie spielten die Rolle.«

»Das wäre ganz nach meinem Sinn«, sagte Mike mit solcher Begeisterung, daß sie rot wurde.

Jack Knebworth trat zu ihnen.

»Haben Sie oben auf der Mauer etwas liegenlassen, Helen?« fragte er und zeigte auf den Turm.

»Nein, Mr. Knebworth«, sagte sie erstaunt.

»Sehen Sie nur, was hat das zu bedeuten?«

Er zeigte auf ein Etwas, das sich über der höchsten Stelle des Turmes erhob. »Es bewegt sich!« rief er bestürzt.

Während er sprach, zeigte sich langsam ein Kopf, ein Paar übermäßig starke, haarige Schultern folgten, dann schob sich ein Bein über die Mauer – es war Bhag!

Sein buschiger Pelz war grauweiß von Staub, und sein Gesicht sah mit diesem Puder ganz grotesk aus. Mike schaute scharf hin. Als das Tier beide Hände ausstreckte, sah er, daß jedes seiner Handgelenke von einer zerbrochenen Fessel umschlossen war.

Mit einem Schrei klammerte sich Helen an Mikes Arm.

»Was ist das?« fragte sie. »Ist das nicht das Ungetüm, das in mein Zimmer kam?«

Mike machte sich vorsichtig von ihr los und lief zum Turm. Bhag sprang und fiel auf den Boden. Er richtete sich einen Augenblick auf, wandte sein wütendes Gesicht Mike zu, nahm Witterung, und mit einem seltsamen, zwitschernden Geräusch lief er auf Händen und Füßen quer durch die Felder und verschwand dann hinter dem nahen Hügel.

Mike eilte ihm nach. Aber als er den großen Affen wieder zu Gesicht bekam, hatte der schon einen Vorsprung von etwa fünfhundert Metern. Bhag lief, so schnell er konnte, und hielt sich immer in der Nähe der Hecken, die die Felder abteilten. Es hatte keinen Zweck, ihn zu verfolgen, und der Detektiv ging langsam zu der erstaunten Gesellschaft zurück.

»Es ist nur ein Orang-Utan, der Sir Gregory gehört. Er ist vollkommen harmlos«, sagte er. »Er wurde seit drei Tagen vermißt.«

»Er muß sich im Turm verborgen haben«, sagte Knebworth.

Mike nickte.

»Ich bin sehr froh, daß er nicht gerade in dem Moment herauskam, als ich die Aufnahme machte«, sagte der Direktor, indem er die Stirn runzelte. »Haben Sie denn nichts gesehen, Helen, als Sie da oben waren?«

Mike sah, daß sie blaß war. Ihre Hand zitterte.

»Jetzt haben wir auch die Aufklärung für das abgebrochene Glied der Handschelle«, sagte Knebworth plötzlich.

»Haben Sie das bemerkt?« fragte Mike schnell. »Das erklärt wohl das Bruchstück, das Helen gefunden hat, aber noch lange nicht die Flasche mit Butylchlorid.«

Er hielt bei diesen Worten Helens Arm, und sie fühlte an dem Druck seiner Hand, daß er erregt war.

»Fürchten Sie sich?«

»Ja, ich fürchte mich sehr«, gestand sie. »Wie schrecklich sah das Vieh aus! War es Bhag?«

Er nickte. »Das war Bhag. Ich vermute, daß er sich in dem Turm verborgen gehalten hat ... Haben Sie wirklich nichts gesehen, als Sie oben auf dem Rand der Mauer saßen?«

»Ich bin froh, daß ich ihn nicht gesehen habe, sonst wäre ich wahrscheinlich hinuntergefallen. Es sind sehr viele Sträucher da, unter denen er sich wahrscheinlich versteckt hatte.«

Mike wollte nun selbst das Innere besichtigen. Die Leiter wurde wieder an den Turm gestellt. Er kletterte bis zum Rand der Mauer und schaute hinunter. Am Grunde der Steinmauer fiel der Boden merkwürdig ab. Er erinnerte ihn an die Granattrichter, die er während des Krieges in Frankreich gesehen hatte. Den eigentlichen Boden des Turmes konnte man nicht erkennen, da er von dichtem Weißdorngebüsch überdeckt war, das besonders in der Mitte sehr dicht stand. Er sah noch einige Felsblöcke und die zerzausten Äste eines alten Baumes.

Sicherlich gab es hier reichlich Gelegenheit, sich zu verbergen. Wahrscheinlich hatte sich Bhag die ganze Zeit hier versteckt und von seinen Anstrengungen und schweren Verwundungen ausgeruht. Mike hatte etwas gesehen, was von keinem der anderen beobachtet wurde – der Affe hatte mehrere Wunden, und die eine Ohrmuschel war glatt auseinandergehauen.

Er stieg die Leiter wieder hinunter und ging zu Knebworth.

»Ich denke, unsere Arbeit ist für heute beendet«, sagte Jack unwirsch. »Ich fürchte, daß die Damen ziemlich erschrocken sind. Es wird wohl eine lange Zeit dauern, bis ich die Mädchen wieder hierher zu einer Nachtaufnahme bekomme.«

Mike brachte den Direktor in seinem Wagen zur Wohnung zurück. Während des ganzen Weges dachte er an Bhags merkwürdiges Aussehen. Jemand hatte dem Affen Handschellen angelegt. Er vermutete das damals schon, als Helen ihm das abgebrochene Stück der Fessel gab. Kein menschliches Wesen konnte eine solche Handschelle zerbrechen. Bhag war entflohen, aber wohin und wie? Und warum war er nicht nach Griff Towers zu seinem Herrn zurückgekehrt?

Als er den Direktor abgesetzt hatte, fuhr er geradewegs nach Griff Towers. Er fand den Baron auf dem Rasen beim Golfspiel. Penne war noch ganz verbunden, aber er hatte sich schon gut erholt.

»Jawohl, Bhag ist zurück – er ist vor einer halben Stunde wiedergekommen. Der Himmel mag wissen, wo er solange war. Ich habe schon oft gewünscht, daß der Kerl sprechen könnte, aber noch nie so eindringlich wie gerade jetzt. Jemand hatte ihm eiserne Handschellen angelegt. Gerade im Moment habe ich sie ihm abgenommen.«

»Kann ich sie sehen?«

»Wußten Sie das?«

»Ich habe ihn vorhin gesehen. Er kam aus dem alten Turm da auf dem Hügel.« Mike zeigte in die Richtung.

»Das ist merkwürdig – was zum Teufel hat er denn dort gemacht?«

Sir Gregory legte gedankenvoll seine Hand ans Kinn.

»Früher ist er auch schon öfters fort gewesen, aber meistens entfernte er sich nicht weiter als drei Kilometer. Es steht genügend Gebüsch in der Gegend, in dem er sich verstecken kann. Hierher kommen wenig fremde Leute. Einmal hat ihn ein Wilddieb gesehen, und der dumme Kerl hat nach ihm geschossen. Er konnte von Glück sagen, daß er mit dem Leben davonkam – hat man die Leiche von Foß gefunden?«

Der Baron hatte das Spiel wieder aufgenommen und schaute auf den Ball, der zu seinen Füßen lag.

»Nein«, sagte Mike ruhig.

»Glauben Sie, daß sie gefunden wird?«

»Ich wäre nicht erstaunt, wenn es so wäre.«

Sir Gregory hatte die Hände auf den Golfschläger gelegt und schaute nach dem Wald hinüber.

»Wie ist das Gesetz in diesem Lande? Angenommen, ein Mann tötete unglücklicherweise einen Diener, der versucht hatte, ihn mit dem Messer zu stechen?«

»Er würde angeklagt werden«, sagte Mike, »und der Spruch der Geschworenen würde lauten: Totschlag in Notwehr. Man würde ihn dann freilassen.«

»Aber angenommen, er hätte die Sache nicht angezeigt – angenommen, er – nun, wollen wir einmal sagen, er hätte die Leiche verborgen – hätte sie begraben – und hätte alles auf sich beruhen lassen?«

»Das ändert natürlich die Sache ... Er würde sich dadurch einer ziemlichen Gefahr aussetzen«, sagte Mike. »Besonders« – dabei sah er den Baron scharf an – »wenn eine Freundin, mit der er sich nachher entzweite, zufälligerweise Zeugin der Tat war.«

Gregory Penne blickte schnell zu dem Detektiv hinüber und wurde puterrot.

»Nehmen wir einmal an, sie versuchte Geld von ihm zu erpressen durch die Drohung mit einer polizeilichen Anzeige?«

»Dann würde sie wegen Erpressung ins Gefängnis kommen«, sagte Mike geduldig, »und vielleicht auch wegen Mittäterschaft während oder nach der Tat.«

»Würde sie in solchem Fall wirklich ins Gefängnis kommen?« fragte Gregory interessiert. »Würde sie der Mittäterschaft beschuldigt, wenn sie zusah, wie der Mann erschlagen wurde ...? Wohlgemerkt, es ereignete sich vor Jahren. Es gibt doch ein Gesetz über Verjährungsfristen, nicht wahr?«

»Nicht für Mord«, sagte Mike.

»Mord? Würden Sie denn das Mord nennen?« fragte Gregory Penne sichtlich erregt. »In Notwehr? Das ist doch Unsinn!«

Die Sache wurde Mike nach und nach klar. Stella hatte ihn einmal einen Mörder genannt. Mikes reger Geist begann zu arbeiten. Er konnte den ganzen Vorgang vollständig und sicher rekonstruieren. Ein Diener, wahrscheinlich einer der braunen Leute, der malaiischen Sklaven, war verrückt geworden und lief Amok. Penne hatte ihn getötet – vielleicht in Notwehr – und war jetzt vor den Folgen bange. Er erinnerte sich an Stellas Worte: »Penne prahlt nur immer, eigentlich ist er ein Feigling.« Das war der Kern der Sache.

»Wo haben Sie denn Ihr unglückliches Opfer begraben?« fragte er eisig.

Der Baron schaute ihn entsetzt an.

»Begraben? Was meinen Sie damit?« fragte er aufgebracht. »Ich habe niemand ermordet oder begraben. Ich habe Ihnen nur einen möglichen Fall vorgetragen.«

»Es klang aber doch sehr nach Wirklichkeit und weniger nach Hypothese«, sagte Mike. »Aber ich will Sie mit der Frage nicht in Verlegenheit bringen.«

Tatsächlich interessierte sich Mike sehr für solche Verbrechen, aber im Augenblick handelte es sich um den Kopfjäger, und da mußte er solche Dinge vorläufig außer acht lassen. Er wollte aber später darauf zurückkommen.

Aber da war noch etwas anderes, das er nicht einmal sich selbst eingestand. Sir Gregorys Gemeinheit und seine Verrücktheiten, seine schmutzigen Liebesabenteuer waren doch zu widerwärtig. Er hätte ihn gern an den Galgen gebracht, aber er war seiner Sache noch nicht sicher.

»Es ist doch merkwürdig, wie man zu solchen Fragen kommt«, sagte Penne. »Ein Mensch wie ich, der doch nicht viel zum Denken gezwungen ist, versteift sich auf ein solch abstraktes Problem und kommt nicht davon los. Dann würde sie tatsächlich der Mittäterschaft schuldig sein? Darauf steht Zuchthaus.«

Dieser Gedanke schien ihn sehr zu befriedigen, und er war fast liebenswürdig, als sich Mike nach einer Besichtigung der zerbrochenen Handschellen von ihm verabschiedete. Es waren alte, englische Handfesseln.

»Ist Bhag sehr verletzt?« fragte Mike, als er die Eisen aus der Hand legte.

»Nicht gerade bedeutend, er hat ein oder zwei Wunden abbekommen«, sagte Penne ruhig. Er machte keine Versuche, die Ereignisse der Nacht zu verschweigen. »Der arme Kerl, wollte mir beistehen, aber der Malaie hätte ihn beinahe getötet. Tatsächlich wurde Bhag von ihm niedergeschlagen, aber er war ihm dicht auf den Fersen, der Mordskerl.«

»Was für einen Hut trug der Malaie?«

»Keji? Ich weiß es nicht. Ich nehme an, daß er einen hatte, aber ich bemerkte es nicht. Warum?«

»Ich fragte bloß«, sagte Mike leichthin. »Vielleicht hat er ihn in den Höhlen verloren.«

Er beobachtete Penne scharf, als er dies sagte.

»Höhlen? Davon habe ich noch nie etwas gehört. Was ist damit? Gibt es hier in der Nähe überhaupt Höhlen?« fragte Sir Gregory unschuldig. »Sie wissen unheimlich Bescheid in der Topographie dieses Landes, Brixan. Ich lebe nun schon zwanzig Jahre hier, aber ich verliere noch jedesmal den Weg, wenn ich nach Chichester gehe.«

Das Rätsel der Höhlen beschäftigte Mike mehr als irgendeine andere Seite dieses geheimnisvollen Falles. Er erinnerte sich an Mr. Longvale, der eine ganz genaue Kenntnis der Gegend hatte. Als er zu ihm fuhr, war er nicht zu Hause. Erst einige Zeit später kehrte er in seinem altertümlichen Auto von Chichester zurück. Das Geräusch dieses Wagens hörte man schon lange, bevor er an einer Straßenbiegung in Sicht kam. Mike brachte seinen Wagen zum Stehen, und Longvale tat dasselbe.

»Ja, die Maschine macht viel Spektakel«, gab der alte Herr zu und wischte sich seinen kahlen Kopf mit einem buntgeblümten Taschentuch ab. »Ich fange erst an, mir die Errungenschaften der letzten Jahre anzueignen. Persönlich glaube ich nicht, daß ein geräuschloser Wagen mich so befriedigen würde. Man fühlt doch immer, daß etwas geschieht!«

»Sie sollten sich einen Rolls-Royce kaufen«, sagte Mike.

»Ich dachte auch schon daran«, sagte Longvale ernst. »Aber ich liebe nun einmal alte Dinge, das ist meine Eigentümlichkeit.«

Mike fragte ihn nach den Höhlen, und zu seinem größten Erstaunen bestätigte ihm der alte Herr ihr Vorhandensein.

»Ich habe häufig davon gehört. Als ich noch ein Junge, war, erzählte mir mein Vater, daß es hier in der Gegend sehr viele Höhlen gibt und daß der glückliche Entdecker des Eingangs große Mengen von altem Branntwein finden würde. Aber bisher hat niemand, soviel ich weiß, den Zugang entdecken können. Er müßte aber hier in der Gegend liegen.« Dabei zeigte er in die Richtung des Griff Towers. »Aber vor vielen Jahren ...« Dann erzählte er von dem Erdrutsch und von dem Verschwinden zweier Heerhaufen tapferer Ritter und Edelleute. Wahrscheinlich hatte der alte Herr die Geschichte derselben Quelle entnommen wie Mike.

»Die volkstümliche Legende berichtet, daß ein unterirdischer Strom in der Nähe von Seley Bill ins Meer fließt ... Aber Sie wissen ja, Landleute leben in solchen Legenden. Wahrscheinlich ist nichts Wahres daran.«

Inspektor Lyle wartete bereits auf den Detektiv, als er ankam. Er hatte aufsehenerregende Nachrichten für ihn.

»Diese Annonce erschien heute morgen im ›Daily Star‹«, sagte er.

Mike nahm ihm die Zeitung ab. Die Anzeige hatte denselben Wortlaut wie die frühere:

›Sind Ihre geistigen und körperlichen Beschwerden unheilbar? Zögern Sie noch am Rande des Abgrundes? Fehlt Ihnen Mut? Schreiben Sie dem Wohltäter. Fach ...‹

»Antworten werden erst morgen früh eintreffen. Briefe sollen an einen Zeitungsladen in der Lamberth Road umadressiert werden. Major Staines wünscht, daß Sie diese Spur verfolgen.«

Die Spur war in der Tat sehr gut getarnt. Um vier Uhr am nächsten Nachmittag humpelte eine lahme alte Frau in den Laden des Zeitungsagenten in der Lamberth Road. Sie fragte nach Briefen, die an Mr. Vole adressiert seien. Es wurden ihr drei ausgehändigt. Sie zahlte die Gebühr, steckte die Umschläge in eine alte, abgenutzte Handtasche und humpelte wieder auf die Straße, indem sie murmelte und mit sich selbst sprach. Nachdem sie die Lamberth Road hinuntergegangen war, stieg sie in eine Straßenbahn nach Clapham, und in der Nähe des Parks stieg sie aus. Sie ging durch die Straßen der Mittelstandshäuser, bis sie in ein ärmliches, unansehnliches Viertel gelangte.

Die Gegend wurde immer armseliger, und schließlich kam sie zu einem niedrigen Bogengang, dessen Steinpflaster seit langen Jahren nicht ausgebessert worden war. Es war eine Sackgasse, deren Häuser alle gleich gebaut waren. Vor dem letzten hielt sie an, zog einen Schlüssel aus der Tasche und öffnete die Tür. Sie wollte eben wieder schließen, als sie sah, daß ein großer, gutaussehender Herr im Eingang stand, der ihr gefolgt sein mußte.

»Guten Abend, Mütterchen!« sagte er.

Die Alte schaute ihn argwöhnisch an und murmelte etwas. Nur Krankenhausdoktoren und Beamte des Armenhauses, also Leute, die irgend etwas mit Wohltätigkeitsinstituten zu tun hatten, nannten alte Frauen Mütterchen. Manchmal taten es aber auch die Polizisten. Ihr altes, häßliches Gesicht bekam noch mehr Falten bei diesem unangenehmen Gedanken.

»Ich möchte ein wenig mit Ihnen sprechen!«

»Kommen Sie herein!« sagte sie mit schriller Stimme.

Der Fußboden in dem Eingangsflur war an vielen Stellen kaputt und unglaublich schmutzig. Aber er war noch in glänzender Verfassung im Vergleich zu der schrecklichen Unordnung, die in ihrem Wohnzimmer und in der Küche herrschte.

»Woher kommen Sie? Vom Hospital oder von der Polizei?«

»Polizei«, sagte Mike. »Geben Sie mir die drei Briefe, die Sie eben abgeholt haben.«

Zu seiner Überraschung sah die alte Frau erleichtert auf.

»Ach, ist das alles?« sagte sie. »Das tue ich nun schon seit langen Jahren für einen alten Herrn.«

»Wie heißt er?«

»Ich kenne seinen Namen nicht. Die Adresse auf den Briefen ist richtig. Ich sende sie alle an ihn.«

Aus einem Haufen Kram holte sie drei Kuverts hervor, deren Adresse mit Maschine geschrieben war. Mike erkannte die Type sofort wieder. Sie waren an eine Straße in Guildford adressiert.

Mike nahm die Briefe und las zwei davon; der dritte war eine von ihm selbst geschriebene Antwort auf die Annonce. Das jetzt folgende scharfe Verhör brachte ihn aber nicht weiter. Die Frau erhielt monatlich ein Pfund für ihre Bemühungen. Das Geld sandte ihr der Unbekannte jedesmal in einem Brief, in dem er ihr auch mitteilte, wo sie die nächsten abholen sollte.

»Sie war etwas verrückt und machte einen fast idiotischen Eindruck«, sagte Mike mit Abscheu, als er Major Staines berichtete. »Auch die Nachforschungen in der Guildforder Straße haben nichts ergeben. Dort sitzt ein anderer Agent, der die Briefe nach London zurückschickt, wo sie niemals ankommen. Da ist noch ein Haken bei der Sache. In ganz London gibt es diese Adresse nämlich nicht, und ich kann nur vermuten, daß die Briefe unterwegs abgefangen werden. Ich habe die Polizei in Guildford beauftragt, dieser Sache auf den Grund zu gehen.«

Major Staines war sehr verärgert.

»Ich hätte Ihnen diesen Fall doch nicht zur Bearbeitung übergeben sollen«, sagte er. »Ich habe die besten Absichten gehabt, als ich es tat. Scotland Yard macht jetzt Schwierigkeiten und sagt, man hätte den Kopfjäger längst fangen können, wenn sich nicht andere Leute hineingemischt hätten. Sie kennen ja selbst die unglaubliche Eifersucht zwischen den einzelnen Behörden. Und ich brauche Ihnen doch wohl nicht erst zu erzählen, wieviel unangenehme Bemerkungen ich zu hören bekomme, die ich wirklich nicht verdiene.«

Mike sah seinen Vorgesetzten nachdenklich an.

»Ich werde den Kopfjäger verhaften, aber ich bin mehr denn je davon überzeugt, daß wir ihn nicht eher überführen können, als bis wir etwas Näheres – über die Höhlen wissen!«

Staines zog die Stirne kraus.

»Ich verstehe nicht ganz, Mike. Von welchen Höhlen sprechen Sie?«

»In der Nähe von Chichester liegen Höhlen. Foß wußte auch von deren Existenz und brachte sie sogar in Verbindung mit dem Kopfjäger. Geben Sie mir noch vier Tage Zeit, Major, und ich werde über beides Bescheid wissen. Und wenn ich keinen Erfolg habe« – er machte eine Pause – »wenn ich keinen Erfolg habe, können Sie mir guten Morgen sagen, wenn Ihnen mein Kopf aus der nächsten Kiste des Kopfjägers entgegenschaut!«


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