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26

Jack sah nach seiner Uhr.

»Ich vermute, daß sie schon zu Bett gegangen ist, aber es käme auf einen Versuch an. Würden Sie sie gern noch sprechen?«

Mike zögerte. Stella Mendoza war eine Freundin Gregory Pennes, und er war nicht geneigt, sich ohne weiteres zu der Ansicht zu bekennen, den Baron für den Mörder zu halten.

»Ja, ich glaube, es ist gut, wenn wir sie noch aufsuchen. Nach allem, was vorgefallen ist, weiß Penne doch, daß er verdächtigt wird.«

Jack Knebworth wartete zehn Minuten lang am Apparat, bevor eine Antwort vom Hause Stellas kam.

»Knebworth ist am Apparat, Miss Mendoza«, sagte er. »Ist es möglich, Sie heute abend noch zu sehen? Mr. Brixan möchte Sie sprechen.«

»Zu dieser Zeit?« sagte sie schläfrig und erstaunt. »Ich war schon zu Bett. Kann es nicht morgen sein?«

»Nein, er muß Sie unbedingt heute abend noch sehen. Ich will mitkommen, wenn Sie nichts dagegen haben.«

»Was ist denn los?« fragte sie schnell. »Handelt es sich um – Gregory?«

Jack sprach leise mit Mike, der neben ihm stand. Dieser nickte.

»Ja, es handelt sich um Gregory.«

»Wollen Sie dann, bitte, kommen. Ich werde mich sofort anziehen.«

Als sie ankamen, hatte sich Stella angekleidet. Sie war zu neugierig geworden, als daß sie sich noch über die späte Stunde beschwert hätte.

»Worum handelt es sich?«

»Mr. Foß ist tot.«

»Tot?« Sie sah Mike entsetzt an. »Wie kam das? Ich habe ihn gestern noch gesehen.«

»Er ist ermordet worden«, sagte Mike ruhig. »Sein Kopf wurde in der Nähe von Chobham Common gefunden.«

Sie wäre umgesunken, wenn nicht Mikes Arm sie gehalten hätte. Es dauerte einige Zeit, bevor sie sich so weit erholt hatte, daß sie die Fragen, die er ihr stellte, beantworten konnte.

»Nein, ich habe Mr. Foß nur ein paar Sekunden lang gesehen, bevor er Griff Towers verließ. Nachher nicht wieder.«

»Sagte er, daß er später wiederkommen wollte?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Sagte Sir Gregory zu Ihnen, daß Foß wiederkommen würde?«

»Nein, er erklärte, daß er froh wäre, ihn endlich los zu sein. Auch erwähnte er, daß er ihm fünfzig Pfund bis zur nächsten Woche geliehen habe. Das ist so richtig Gregorys Art. Er wird immer Dinge weitererzählen, selbst wenn ihn die Leute gebeten haben, sie für sich zu behalten. Er ist sehr stolz auf seinen Reichtum und prahlt gern damit, daß er anderen Leuten hilft.«

»Hatten Sie sich nicht heute mit ihm zum Essen verabredet?« fragte Mike und beobachtete sie scharf.

Sie biß sich auf die Lippe.

»Sie haben wohl unsere Unterhaltung gehört, als ich fortging? Nein, ich wollte nicht zum Essen zu ihm kommen. Das war nur eine List, um einen eventuellen Lauscher zu täuschen, der draußen umherschlich. Wir wußten, daß jemand an diesem Abend im Haus war. Waren Sie das?«

Mike nickte.

»So – dann bin ich beruhigt.« Sie seufzte tief auf. »Die paar Minuten in dem dunklen Raum waren fürchterlich für mich. Ich dachte, es wäre ...« Sie zögerte.

»Bhag!« ergänzte Mike, und sie nickte.

»Ja. Sie vermuten doch nicht, daß Gregory Mr. Foß getötet hat?«

»Ich habe im allgemeinen jeden und keinen im Verdacht«, sagte Mike. »Haben Sie Bhag gesehen?«

»Nein, gestern abend nicht, früher natürlich. Ich bekomme eine Gänsehaut, wenn ich nur an ihn denke. Ich habe noch kein Tier gesehen, das soviel menschlichen Verstand hat. Manchmal, wenn Gregory ein wenig zuviel getrunken hatte, holte er den Affen heraus und ließ ihn allerhand Kunststücke machen. Wissen Sie, daß Bhag alle Schwertgriffe der Malaien ausführen kann? Gregory hat ihm das Fechten beigebracht. Er hatte ein hölzernes Schwert, das extra für ihn angefertigt war. Es hat mich immer erschreckt, wenn ich sah, daß er mit seinem Säbel hantierte.«

Mike sah sie mit großen Augen an.

»Also konnte Bhag wirklich fechten? Penne erzählte mir das, aber ich dachte, daß er übertrieben hätte.«

»Sicher konnte er das, Gregory hat ihm noch viel mehr beigebracht.«

»Wie stehen Sie zu Penne?« fragte Mike leichthin.

Sie wurde rot.

»Er war mein Freund«, sagte sie verlegen. »Ein sehr guter Freund – in finanziellen Dingen, meine ich. Früher hatte er mich einmal sehr gern. Wir waren – sehr gute Freunde.«

Mike nickte. »Ist das noch so?«

»Nein«, antwortete sie kurz. »Ich habe mit Gregory Schluß gemacht und will Chichester morgen verlassen. Ein Agent ist beauftragt, mein Haus zu vermieten. – Der arme Mr. Foß«, sagte sie, und Tränen standen in ihren Augen. »Der arme Mensch! Gregory hat das nicht getan, Mr. Brixan, darauf kann ich schwören. Vieles, was von Gregory erzählt wird, ist nicht wahr. Er ist ein Feigling, und obgleich er schon viel gefährliche Dinge ausführte, hat er doch immer Leute, die die schmutzige Arbeit für ihn tun.«

»Was verstehen Sie unter gefährlichen Dingen?«

Sie zögerte. Aber er wurde dringlicher.

»Er hat mir erzählt, daß er öfter in den Dschungel gezogen ist und Dörfer überfallen hat, um hübsche Mädchen zu rauben. Es soll einen Stamm geben, der besonders hübsche Frauen hat. Vielleicht hat er mir das auch alles nur vorgelogen, aber ich glaube doch, daß er in diesem Punkt die Wahrheit sprach. Er sagte mir, daß er gerade vor einem Jahr, als er in Borneo war, ein Mädchen von einem wilden Stamm im Inneren des Landes gestohlen habe. Kein Europäer würde von dort allein lebendig zurückkommen.«

»Machten diese Geständnisse denn gar keinen Eindruck auf Sie?« fragte Mike und sah sie scharf an.

Sie zuckte die Schultern.

»Das war so seine Art«, war alles, was sie antwortete, und hieraus konnte Mike die weitesten Schlüsse ziehen, daß er ihr »guter Freund« war.

Sie gingen zu Jack Knebworths Haus zurück.

»Die Geschichte, die Penne berichtet, scheint mit dem vollkommen übereinzustimmen, was die Mendoza sagt. Es besteht jetzt kein Zweifel mehr, daß die Frau in dem obersten Turmzimmer das Mädchen war, das er gestohlen hat. Ebenso sicher ist, daß der braune Mann ihr Gatte war. Wenn sie von Griff Towers entkommen sind, wird es keine großen Schwierigkeiten machen, sie aufzufinden. Ich werde noch diese Nacht alle Polizeistationen im Umkreis von fünfundzwanzig Kilometer darüber informieren, und morgen früh werden wir wohl Nachricht bekommen.«

»Es ist ja schon Morgen«, sagte Jack, als er nach Osten sah, wo der Himmel bereits heller wurde. »Kommen Sie doch noch zu mir. Ich werde Kaffee machen. Die Nachricht von Foß' Tod hat mich sehr erregt. Ich hatte mir für heute eigentlich viel vorgenommen, aber vermutlich müssen wir die Arbeit um einen Tag verschieben. Die Schauspieler und die anderen Angestellten der Gesellschaft werden durch diese Nachricht auch nicht bei der Sache sein. Alle kennen Foß, obgleich er nicht sehr beliebt bei ihnen war. Es fehlt nur noch, daß Helen nervös wird – um das Unglück voll zu machen. Aber eben kommt mir ein Gedanke, Brixan, warum ziehen Sie nicht ganz zu mir? Ich bin Junggeselle, Sie haben einen Telefonanschluß und sind hier vollkommen unbeobachtet und können viel ungestörter arbeiten als im Hotel.

Der Vorschlag gefiel dem Detektiv, und er schlief schon diese Nacht in Jack Knebworths Haus. Zuvor hatte er aber noch ein eingehendes Telefongespräch mit Scotland Yard.

In der Frühe des nächsten Morgens war er bereits wieder in Griff Towers, und bei Tageslicht konnte er seine Untersuchungen genau durchführen. Aber es kam nichts Besonderes mehr zum Vorschein. Er befand sich in einer eigentümlichen Lage. Scotland Yard hatte besonders betont, daß Gregory Penne aus einer guten Familie stamme. Er war reich und angesehen, bekleidete das Ehrenamt eines Friedensrichters, und da seine Extravaganzen bisher nicht gegen das Gesetz verstoßen hatten, »können Sie einen Mann nicht henken, weil er ein Sonderling ist«, hatte ihm der Chefinspektor am Telefon gesagt.

Die Tatsache, daß Bhag ebenso wie der braune Mann mit seiner Frau verschwunden war, erregte Mikes Verdacht.

»Er ist die ganze Nacht nicht zurückgekommen«, sagte Sir Gregory. »Ich habe nichts von ihm gesehen. Es ist nicht das erstemal, daß er auf eigene Faust längere Zeit fortbleibt. Er findet dann einen Unterschlupf, wo man es nicht vermuten sollte. Auch jetzt hat er sich sicher irgendwo versteckt. Aber das macht nichts, er kommt bestimmt wieder.«

Als Mike durch Chichester fuhr, sah er jemanden und bremste seinen Wagen mit aller Gewalt. Es war ein Wunder, daß seine Reifen nicht platzten. Im Nu war er aus dem Wagen gesprungen und stand vor Helen.

»Es kommt mir vor, als ob ich Sie zehntausend Jahre nicht gesehen hätte«, sagte er scherzend. Zu jeder anderen Zeit hätte seine Bemerkung Helen zum Lächeln gebracht.

»Ich fürchte, Sie müssen mich entschuldigen, ich habe keine Zeit. Ich bin auf dem Weg zum Atelier«, sagte sie ein wenig kühl. »Ich versprach Mr. Knebworth, daß ich heute morgen frühzeitig kommen würde. Gestern nachmittag bat ich ihn, mir freizugeben.«

»Hat er das getan?« fragte Mike unschuldig.

»Ich hatte jemanden zum Tee eingeladen.«

Plötzlich erinnerte sich Mike und war wie vom Blitz erschlagen.

»Ist das möglich!« sagte er betroffen. »Ich bin wirklich ein unmöglicher Mensch!«

Sie wollte weitergehen, aber er hielt sie zurück.

»Ich wollte Sie wirklich nicht kränken oder verletzen, Helen«, sagte er leise. »Es hat sich eine neue Tragödie abgespielt, die Ihnen meine Vergeßlichkeit erklären wird!«

Sie stand still und schaute ihn an.

»Eine neue Tragödie?«

»Mr. Foß ist ermordet worden«, sagte er.

Sie wurde leichenblaß.

»Wann?« Ihre Stimme war ruhig, aber tonlos.

»In der letzten Nacht.«

»Es war nach neun!« sagte sie.

Er zog überrascht die Augenbrauen in die Höhe.

»Wie kommen Sie darauf?«

»Weil ich um neun Uhr« – sie sprach langsam – »die Hand des Mannes sah, der ihn ermordete!«

»Am vorletzten Abend«, fuhr sie fort, »ging ich aus, um etwas Wolle zu kaufen, die ich brauchte. Es war kurz bevor die Läden geschlossen wurden ... In der Stadt traf ich Mr. Foß und sprach mit ihm. Er war sehr nervös und unruhig. Er machte mir wieder denselben Vorschlag wie damals, als er mich besuchte. Sein Benehmen war so sonderbar, daß ich ihn fragte, ob ihn etwas bedrücke. Er sagte nein, aber er hätte eine Ahnung, daß sich etwas Furchtbares ereignen würde. Er fragte mich, ob ich schon länger in Chichester lebte und etwas über die Höhlen wüßte.«

»Die Höhlen?« fragte Mike schnell.

Sie nickte.

»Ich war sehr überrascht, ich hatte noch nie davon gehört. Er erzählte mir, daß sie in einer alten Chronik von Chichester erwähnt seien. Er hatte in den Führern nachgeschlagen, ohne irgend etwas darüber zu finden. Anscheinend gab es zu dieser oder einer anderen Zeit in der Nähe von Chellerton Höhlen, aber durch eine schwere Erdsenkung wurden sie verschüttet. Er war so verstört und sprach so abgerissen, daß ich annehmen mußte, er sei betrunken. Ich war froh, als ich mich verabschieden konnte. Ich ging zu meinem Geschäft und traf dort eine Statistin, die ich kannte. Sie fragte mich, ob ich mit ihr nach Hause gehen wollte. Ich hatte gar keine Lust dazu, konnte es aber nicht gut ablehnen, und so begleitete ich sie eben. Sobald ich konnte, machte ich mich los und ging geradewegs nach Hause.

Es war neun Uhr geworden, und die Straßen waren schon leer. Die Beleuchtung in Chichester ist nicht besonders gut. Aber ich konnte doch Mr. Foß erkennen. Er stand an der Ecke der Arundel Road und wartete auf jemanden. Ich hielt an, weil mir nichts daran lag, ihm noch einmal zu begegnen. Aber gerade, als ich mich umdrehen wollte, fuhr ein Auto in die Straße und hielt bei Mr. Foß.«

»Was war es für ein Wagen?« fragte Mike.

»Es war eine Limousine ... Als sie um die Ecke bog, gingen ihre Scheinwerfer aus, was mich sehr überraschte. Mr. Foß wartete wohl nur darauf, denn er ging hinüber, lehnte sich zum Fenster und sprach mit jemandem in dem Wagen. Ich weiß nicht, warum – aber ich wurde plötzlich neugierig und wollte sehen, wer in dem Wagen saß und ging darauf zu. Ich war bloß noch vier oder fünf Schritte entfernt, als Mr. Foß zurücktrat und das Auto anfuhr. Der Fahrer streckte seine Hand aus dem Fenster, als ob er zum Abschied winken wollte, und als der Wagen an mir vorbeifuhr, winkte er noch. Das Innere war ganz dunkel.«

»War etwas Besonderes an der Hand?«

»Nein. Sie war nur etwas klein und frauenhaft weiß. An dem kleinen Finger saß ein großer Diamantring. Sein Feuer war außergewöhnlich schön, und ich wunderte mich, daß ein Mann solchen Schmuck trug. Sie mögen denken, daß ich einfältig bin, aber der Anblick dieser Hand jagte mir ein schreckliches Angstgefühl ein – ich weiß jetzt noch nicht, warum. Es war etwas Unnatürliches und Sonderbares an ihr. Als ich mich umblickte, entfernte sich Mr. Foß schnell in der anderen Richtung, und ich machte keinen Versuch, ihn einzuholen.«

»Sie sahen keine Nummer an dem Wagen?«

»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich war nicht so neugierig.«

»Sie sahen auch die Silhouette des Mannes im Wagen nicht?«

»Nein, ich sah nichts. Sein Arm war erhoben.«

»Wie groß war der Diamant Ihrer Meinung nach?«

Sie zog die Lippen gedankenvoll zusammen.

»Er kam so schnell an mir vorüber, daß ich Ihnen nichts Genaues darüber sagen kann, Mr. Brixan. Es mag sein, daß ich mich irre, aber ich glaube, daß er ungefähr so groß wie meine Fingerspitze war. Ich konnte keinerlei Einzelheiten erkennen, obwohl ich den Wagen vorige Nacht wieder sah.«

Sie erzählte ihm nun, was sich in der letzten Nacht ereignet hatte, und er hörte gespannt zu.

»Der Mann sprach zu Ihnen – haben Sie seine Stimme erkannt?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Nein, er flüsterte nur. Ich sah sein Gesicht nicht, aber ich glaube, daß er eine Mütze trug. Der Polizist sagte, daß er die Nummer des Wagens hätte aufschreiben wollen.«

»So, sagte er das?« bemerkte Mike sarkastisch. »Nun gut, dann hat wenigstens er eine Hoffnung.«

Eine Minute schwieg er in Gedanken, dann sagte er: »Ich möchte Sie zum Atelier begleiten, wenn Sie nichts dagegen haben.«

Er ließ sie in ihr Ankleidezimmer gehen, wo sie erfuhr, daß heute nicht gearbeitet wurde. Er selbst suchte Jack auf.

»Sie kennen doch alle Leute in dieser Gegend«, sagte er. »Ist Ihnen jemand bekannt, der eine große Limousine fährt und einen Diamantring am kleinen Finger der rechten Hand trägt?«

»Die einzige, die diese Schwäche hatte, war Stella Mendoza.«

Mike pfiff.

»An die hätte ich niemals gedacht«, murmelte er. »Und Helen beschrieb die Hand als klein und frauenhaft.«

»Die Hand der Mendoza ist nicht klein, aber sie könnte bei einem Mann natürlich so aussehen«, sagte Jack nachdenklich. »Und ihr Wagen ist keine Limousine. Aber das bedeutet ja nichts ... Ich habe gerade Anweisung gegeben, daß heute gearbeitet werden soll. Wenn wir die Leute herumstehen lassen, kommen sie ganz außer Fassung.«

»Das dachte ich auch, ich wagte nur nicht, diesen Vorschlag zu machen«, sagte Mike lächelnd.

Ein Telegramm rief Mike am Mittag nach London, wo er eine Konferenz mit den obersten Fünf von Scotland Yard hatte. Das Resultat der zweistündigen Unterredung war der Beschluß, daß Sir Gregory Penne in Freiheit bleiben, aber beobachtet werden sollte.

»Wir glauben die Geschichte mit dem Mädchen von Borneo«, sagte der Chef ruhig. »Und alle Tatsachen stimmen zusammen. Ich habe nicht den geringsten Zweifel, daß Penne der Verbrecher ist. Aber wir müssen sehr vorsichtig vorgehen. In Ihrem Ministerium, Captain Brixan, können Sie sicher einiges riskieren. Aber die Polizei in diesem Land darf wegen Mordes keine Verhaftung vornehmen, wenn sie nicht ganz gewiß ist, daß eine Verurteilung folgen kann. Es mag etwas an Ihrer Theorie sein, und ich bin der letzte, der sie herabsetzen will, aber Sie müssen erst noch Paralleluntersuchungen anstellen.«

Mike fuhr am selben Tag nach Sussex. Er befand sich ungefähr vier Kilometer nördlich Chichester und war in größter Eile, als er eine Gestalt gewahrte, die mit ausgebreiteten Armen in der Mitte der Straße stand. Er fuhr langsamer. Es war Mr. Sampson Longvale, wie er zu seiner Verwunderung sah. Fast bevor der Wagen anhielt, sprang Mr. Longvale mit außerordentlicher Geschicklichkeit auf das Trittbrett.

»Ich habe die letzten zwei Stunden auf Sie gewartet, Mr. Brixan«, sagte er. »Haben Sie etwas dagegen, daß ich mich zu Ihnen setze?«

»Kommen Sie herein!« sagte Mike freundlich.

»Sie sind auf dem Weg nach Chichester, ich weiß. Wollen Sie bitte nach Dower House kommen? Ich habe Ihnen etwas Wichtiges mitzuteilen.«

Der Platz, an dem er den Wagen gestoppt hatte, lag gerade dem Ende der Straße gegenüber, die nach Dower House und zu der Besitzung Mr. Gregorys führte. Der alte Herr erzählte ihm, daß er von Chichester zurückgegangen sei und auf seinen Wagen gewartet habe.

»Ich erfuhr jetzt erst, Mr. Brixan, daß Sie Staatsbeamter sind«, sagte er mit einem würdevollen Kopfnicken. »Ich brauche Ihnen kaum zu sagen, wie hoch ich einen Menschen schätze, der der Sache der Gerechtigkeit dient.«

»Mr. Knebworth verriet Ihnen das wohl?« fragte Mike lächelnd.

»Ja, er sagte es mir«, stimmte Longvale bei. »Ich ging zu ihm, um Sie zu suchen, da ich das Gefühl hatte, daß Sie eine gewichtige Stellung im Leben einnehmen. Ich gestehe, daß ich zuerst annahm, Sie wären einer jener eitlen jungen Leute, die weiter nichts zu tun haben, als sich zu amüsieren. Ich habe mich sehr gefreut, zu erfahren, daß das ein Irrtum war. Es ist wirklich sehr befriedigend,« – Mike lächelte innerlich über den Wortschwall des alten Herrn – »weil ich Rat in einer bestimmten Sache brauche, den mir ein Rechtsanwalt nicht geben kann. Meine Lage ist ganz eigenartig, beinahe verwirrend. Ich bin ein Mann, der vor der Öffentlichkeit zurückschreckt, und bin fremder Einmischung in meine Angelegenheiten sehr abgeneigt.«

Sie hielten vor Dower House. Mr. Longvale stieg aus und öffnete das Tor. Als Mike durchgegangen war, schloß er es wieder. Anstatt direkt in sein Wohnzimmer zu gehen, stieg er die Treppe hinauf und bat Mike, mitzukommen. Er hielt vor dem Zimmer an, in dem Helen in jener Nacht ein so fürchterliches Erlebnis hatte.

»Ich möchte, daß Sie die Leute betrachten«, sagte Mr. Longvale ernst, »und mir sagen, ob ich in Übereinstimmung mit dem Gesetz gehandelt habe.«

Er öffnete die Tür, und Mike sah, daß jetzt zwei Betten in dem Raum standen. In dem einen lag, dick verbunden und anscheinend bewußtlos, der braune Fremde. In dem anderen schlief die Frau, die Mike in dem Turm gesehen hatte! Auch sie schien schwer verwundet. Ihr Arm war verbunden und geschient.

Mike holte tief Atem.

»Damit ist ein Rätsel gelöst«, sagte er. »Wo haben Sie diese Menschen gefunden?« fragte er.

Bei dem Klang seiner Stimme öffnete die Frau die Augen und blickte furchtsam zu ihm hinüber.

»Du bist verwundet worden?« fragte Mike auf holländisch. Aber sie gab keine Antwort. Sie wurde so aufgeregt bei seinem Anblick, daß Mike froh war, als er aus dem Zimmer kam. Erst unten im Wohnzimmer erzählte Mr. Longvale die Geschichte.

»Ich sah sie die letzte Nacht ungefähr um halb elf. Sie schwankten auf der Straße, und ich dachte, die wären betrunken. Aber glücklicherweise sprach die Frau, und da ich noch niemals eine Stimme vergessen habe, selbst wenn sie in einer mir fremden Sprache redete, erkannte ich sofort, daß es meine Patientin war, und ging auf sie zu. Dann sah ich auch, in welchem Zustand ihr Begleiter war. Als sie mich erkannte, begann sie aufgeregt zu sprechen. Ich konnte sie nicht verstehen, obwohl ich ahnte, was sie wollte. Der Mann war dem Zusammenbruch nahe. Ich brachte ihn mit Hilfe seiner Frau in dieses Haus und in das Zimmer, wo er nun liegt. Zum Glück hatte ich mir in der Erwartung, wieder zu ihr gerufen zu werden, einige Instrumente und Medikamente angeschafft, und konnte so den Mann pflegen.«

»Ist er schwer verletzt?« fragte Mike.

»Er hat sehr viel Blut verloren, und obwohl keine Arterien verletzt oder Knochen gebrochen zu sein scheinen, sehen die Wunden recht bös aus. Nun kam mir der Gedanke«, fuhr er in seiner umständlichen Art fort, »daß dieser Eingeborene die Wunden nur als Folge irgendeiner schlechten Handlung empfangen haben kann. Ich dachte, es sei das beste, die Polizei zu benachrichtigen, daß die beiden unter meiner Obhut sind. Ich besuchte aber zuerst meinen besonderen Freund, Mr. Knebworth, und erzählte ihm meine Lage. Er sprach mir dann von Ihnen, und ich beschloß, Ihre Rückkehr abzuwarten, ehe ich weitere Schritte unternahm.«

»Sie haben ein Geheimnis gelöst, das mich quälte und haben zufälligerweise eine Sache bestätigt, die ich sehr skeptisch betrachtete«, sagte Mike. »Ich denke, es wäre sehr gut, die Polizei zu informieren – ich werde die Zentrale benachrichtigen und Ihnen einen Krankenwagen schicken, der die beiden Leute ins Krankenhaus bringt. Ist der Mann transportfähig?«

»Ich glaube, ja«, nickte der alte Herr. »Er liegt jetzt in tiefem Schlaf und scheint bewußtlos zu sein, aber das ist nicht der Fall. Die Leute können gerne hier bleiben, obwohl ich keine Bequemlichkeiten habe und mich allein versorgen muß, und es mich daher eher belästigt, denn ich bin nicht an solche Anstrengungen gewöhnt. Glücklicherweise kann die Frau viel für ihn tun.«

»Hatte er ein Schwert, als er ankam?«

Mr. Longvale biß sich ungeduldig auf die Lippen.

»Wie konnte ich das vergessen! Ja, hier ist es.«

Er wandte sich zu einer altertümlichen Kommode, zog ein Schubfach auf und nahm das Schwert heraus, das Mike über dem Kamin in Griff Towers gesehen hatte. Es war fleckenlos und war auch so, als Mr. Longvale es aus den Händen des braunen Mannes nahm. Er erwartete auch nicht, es anders zu sehen, denn für den Krieger des Ostens ist sein Schwert wie ein Kind, und wahrscheinlich war es die erste Sorge des Mannes, es zu reinigen.

Mike verabschiedete sich, fragte dann aber noch plötzlich:

»Würde es Sie sehr bemühen, mir ein Glas Wasser zu bringen, Mr. Longvale? Meine Kehle ist ganz ausgetrocknet.«

Mit einer Entschuldigung eilte der alte Herr weg und ließ Mike allein in dem Raum.

An einem Haken hing der lange Überrock des Herrn von Dower House und daneben ein gekräuselter Biberpelz und ein sehr alter Filzhut, den Mike herabnahm, als Longvale ihm den Rücken gewandt hatte. Die Bitte um ein Glas Wasser war keine Kriegslist, denn er war wirklich durstig. Aber Wißbegierde gehörte nun einmal zu seinem Beruf.

Der alte Herr kehrte schnell zurück und fand Mike bei der Untersuchung des Hutes.

»Woher stammt er?« fragte der Detektiv.

»Der Eingeborene trug ihn, als er kam«, sagte Mr. Longvale.

»Ich möchte ihn mitnehmen, wenn Sie nichts dagegen haben«, sagte Mike nach langem Schweigen.

»Aber mit dem größten Vergnügen. Unser Freund oben wird für lange Zeit keinen Hut brauchen«, meinte er mit einem seltsamen Lächeln.

Mike ging zu seinem Wagen zurück, legte den Hut sorgfältig neben sich und fuhr nach Chichester. Den ganzen Weg über war er verwundert. Denn in dem Hut sah er die Initialen »L. F.« Wie kam der Hut von Lawley Foß auf den Kopf des braunen Mannes aus Borneo?


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