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Captain Mike Brixan litt manchmal an gelinden abergläubischen Anwandlungen. Wenn er des Morgens durch die Felder ging und eine junge Krähe vor ihm aufflog, hatte er die bestimmte Überzeugung, daß er an diesem Tage noch eine zweite sehen würde.
Als er nun auf der Durchreise in Aachen an der Bahnhofsbuchhandlung vorbeiging, fiel ihm der Titel eines Buches auf, und er kaufte den Roman »Statistin in Hollywood«. Das Wort »Statistin« übte eine fast magische Wirkung auf ihn aus. Die Geschichte handelte, wie er gleich darauf feststellte, von einer unbedeutenden Filmschauspielerin. Aber schon hatte er die dunkle Ahnung, daß dieses Wort für ihn eine schicksalsschwere Bedeutung haben würde.
Der Roman interessierte ihn gar nicht. Er las einige Seiten des Buches, aber der schwülstige Stil ärgerte ihn so, daß er seine Zuflucht zu dem belgischen Kursbuch nahm. Wenn ihn auch der Titel fasziniert hatte, so reichte sein Interesse doch nicht aus, um die ganze sensationelle Laufbahn der Heldin von den bescheidensten Anfängen bis zu Berühmtheit, Ansehen und Reichtum zu verfolgen.
Das Wort »Statistin« hatte sich Mike Brixan aufgedrängt, und es war ihm, als ob ihm in den nächsten Tagen unbedingt eine Statistin begegnen würde.
Er war nicht nur bei seinen Freunden als der tüchtigste Agent des Nachrichtendienstes im Auswärtigen Amt bekannt. Obwohl er in seinem Beruf vollständig aufging, interessierte er sich für Kriminalfälle. Er spielte gut Golf, aber ebenso gern las er Berichte über aufsehenerregende Verbrechen. Seine dienstliche Beschäftigung bestand hauptsächlich darin, daß er merkwürdige Leute, die vom Kontinent herüberkamen, in obskuren Kneipen traf und mit ihnen lange und geheimnisvolle Unterredungen hatte. Zu diesem Zweck trat er in den verschiedensten Verkleidungen und Rollen auf. So blieb er in Kontakt mit den geheimen unterirdischen Strömungen, die nur zu oft das Schifflein der Diplomatie unerwünschten Zielen zutrieben. Zweimal war er als Tourist, der sich nur für schöne Landschaften und Sehenswürdigkeiten zu interessieren schien, durch ganz Europa gestreift. Viele hundert Meilen fuhr er mit einem Paddelboot durch die Stromschnellen der Donau. In den kleinsten Schenken am Ufer übernachtete er, um die Stimmung der Bevölkerung kennenzulernen. Wenn es solche Aufgaben zu lösen galt, war er ganz bei der Sache.
Gerade jetzt rief man ihn von Berlin ab, als der wichtige Vertrag zwischen zwei Mächten kurz vor dem Abschluß stand. Er ärgerte sich gewaltig darüber, denn es war ihm unter Aufwand nicht geringer Geldsummen gelungen, eine Abschrift der wesentlichen Punkte des Vertrages zu beschaffen.
»Wenn ich noch vierundzwanzig Stunden auf meinem Posten geblieben wäre, hätte ich die fotografischen Aufnahmen der Originaldokumente bekommen«, erklärte er seinem Vorgesetzten, Major George Staines, als er sich am nächsten Morgen in Whitehall zum Dienstantritt meldete.
»Schade«, antwortete dieser etwas ironisch. »Aber wir hatten gerade eine vertrauliche Aussprache mit dem Ministerpräsidenten der betreffenden Macht, der uns den Text des Vertrages mitzuteilen versprach. Übrigens hat die ganze Sache mit hoher Politik nichts zu tun, sondern betraf nur die Handelsbeziehungen zu einem anderen Staat. – Mike, kannten Sie Elmer?«
Der Detektiv setzte sich auf die Tischkante, während er eine Zigarette rauchte.
»Haben Sie mich deswegen von Berlin geholt, damit ich Ihnen diese Frage beantworten soll?« sagte er ärgerlich. »Haben Sie mich deswegen aus meinem Café ›Unter den Linden‹ weggeholt, damit ich mich mit Ihnen über Elmer unterhalte? Er ist doch Sekretär im Regierungsdienst?«
Major Staines nickte.
»Er war es«, sagte er. »Er war in der Oberrechnungskammer angestellt. Vor drei Wochen verschwand er plötzlich. Man kontrollierte seine Bücher, und es stellte sich heraus, daß er systematisch größere Summen unterschlagen hatte.«
Mike Brixan verzog sein Gesicht. »Tut mir leid, das zu hören«, meinte er. »Er schien doch ein ganz ruhiger und ehrlicher Mensch zu sein. Aber Sie wollen doch damit nicht etwa sagen, daß das mein neuer Auftrag sein soll? Solche Aufgaben gehören Scotland Yard.«
»Ich will auch gar nicht, daß Sie ihm nachspüren sollen«, sagte Staines langsam, »weil – nun gut, man hat ihn schon gefunden.«
Er sagte dies mit einem düsteren, bedeutungsvollen Unterton. Bevor er das kleine Papier aus seiner Mappe nehmen konnte, wußte Mike Brixan schon, was kommen würde.
»Der Kopfjäger hat doch nicht seine Hand im Spiel?« fragte er interessiert. Selbst er im Ausland hatte von den grausigen Taten dieses Mannes gehört.
Staines nickte. »Lesen Sie.«
Er reichte seinem Untergebenen ein Blatt, das mit Maschine geschrieben war, über den Tisch.
»Sie werden in der Hecke an der Eisenbahnunterführung bei Esher eine Kiste finden. Der Kopfjäger.«
»Der Kopfjäger«, wiederholte Mike mechanisch und pfiff leise.
»Wir haben natürlich sofort nachsuchen lassen und fanden die Kiste, darin lag der scharf vom Rumpf getrennte Kopf des unglücklichen Elmer«, sagte Staines. »Das ist nun der zwölfte Kopf innerhalb von sieben Jahren. Und jedesmal handelt es sich – allerdings mit Ausnahme zweier Fälle – um Leute, die sich der Gerichtsbarkeit entzogen hatten. – Selbst wenn die Vertragsfrage noch nicht geklärt wäre, Mike, hätte ich Sie zurückgerufen.«
»Aber das ist doch gar nicht meine Sache – das geht doch nur die Polizei an«, sagte der junge Beamte etwas aufsässig.
»Sie dienen der Regierung doch in Wirklichkeit als Detektiv«, unterbrach ihn sein Chef, »und der Sekretär des Außenministeriums wünscht, daß Sie diesen Fall aufklären. Ich möchte noch hinzufügen, daß dies außerdem der Wunsch des Innenministers ist, dem Scotland Yard untersteht. Bis jetzt wurde der Tod Francis Elmers und die grauenvolle Entdeckung seines Kopfes zur Veröffentlichung durch die Presse noch nicht freigegeben. In der letzten Zeit gab es an und für sich schon so viel Unruhe und Angriffe gegen die Regierung, daß die Polizei diese Sache vorläufig geheimhalten muß. Man hielt die Leichenschau ab – ich vermute, daß die Mitglieder der Kommission besonders ausgesucht wurden. Aber es würde Hochverrat sein, darüber in der Öffentlichkeit etwas zu sagen. Letzten Endes ist dann auch das übliche Gutachten erstattet worden. Leider kann ich Ihnen nur wenig Informationen geben. Das einzige, was uns weiterhelfen kann, ist die Tatsache, daß Elmer vor einer Woche in Chichester von seiner Nichte gesehen worden sein soll. Das junge Mädchen heißt Helen Leamington und ist bei der Knebworth-Filmgesellschaft beschäftigt, die ihre Ateliers in Chichester hat. Der alte Knebworth kam aus Amerika und ist ein famoser Kerl. Sie ist so eine Art Statistin –«
Mike atmete schwer.
»Statistin! Ich wußte doch, daß dieses verteufelte Wort mir wieder begegnen würde. Nun gut, was soll ich unternehmen?«
»Besuchen Sie zuerst einmal die junge Dame. Hier ist ihre Adresse.«
»War Elmer eigentlich verheiratet?« fragte Mike, während er den Papierstreifen in seine Tasche steckte.
Der andere nickte.
»Ja, aber seine Frau weiß über die Angelegenheit nichts. Sie ist übrigens die einzige, die von seinem Tod unterrichtet wurde. Sie hatte ihren Mann seit einem Monat nicht mehr gesehen. Anscheinend lebten die beiden in den letzten Jahren mehr oder weniger getrennt. Für sie war sein Tod in gewissem Sinne eine Wohltat, da er zu ihren Gunsten hoch versichert war.«
Mike nahm das Papier wieder aus der Tasche und las die grauenvolle Nachricht des Kopfjägers noch einmal.
»Wie erklären Sie sich diese Sache?« fragte er seinen Vorgesetzten interessiert.
»Man könnte denken, daß es sich um einen Wahnsinnigen handelt, der sich berufen fühlt, Verbrecher zu bestrafen. Und diese Annahme würde auch stimmen, wenn nicht die beiden Ausnahmen wären, die diese Hypothese über den Haufen werfen.«
Staines lehnte sich in seinen Stuhl und zog die Stirn kraus. »Nehmen Sie den Fall von Willitt. Man fand seinen Kopf vor zwei Jahren in Clapham Common. Willitt war ein Mann in guten Verhältnissen, ein Beispiel von Ehrenhaftigkeit, überall beliebt, und nach seinem Tod wurde bekannt, daß er große Guthaben auf der Bank hatte. Die zweite Ausnahme macht Crewling, der eines der ersten Opfer des Kopfjägers wurde. Er war ein über jeden Zweifel erhabener Charakter; allerdings stellte sich heraus, daß er einige Wochen vor seinem Tod seelisch nicht mehr im Gleichgewicht war.
Die Briefe des Kopfjägers sind offensichtlich alle mit derselben Maschine geschrieben. Jedesmal haben sie das halbverwischte ›u‹, dann achten Sie bitte auf die schwachen ›g‹ und die außergewöhnliche Linienführung. Wir haben natürlich diese Umstände genau untersuchen lassen, und die Sachverständigen sind sich darin einig, daß die Schrift von einer alten, jetzt nicht mehr hergestellten Kost-Maschine herrührt. Wenn Sie den Mann ausfindig machen, der eine solche Maschine benützt, dann haben Sie vermutlich den Mörder gefunden. Aber wahrscheinlich wird man ihm nicht auf diesem Weg beikommen können. Die Polizei hat bereits Fotografien dieser eigentümlichen Schrift veröffentlicht und eine hohe Belohnung ausgesetzt. Und ich glaube nicht, daß der Kopfjäger die Maschine noch zu anderen Zwecken gebraucht als dazu, den Tod seiner Opfer anzuzeigen.«
Mike ging in seine Wohnung. Dieser sonderbare Auftrag hatte ihn etwas aus der Fassung gebracht. Er bewegte sich für gewöhnlich in den Sphären der hohen Politik! Die Finessen der Diplomatie waren seine Spezialität. Diebe, Mörder und Straßenräuber, mit denen sich doch sonst nur die Polizei zu beschäftigen hatte, gehörten nicht zu seinem Wirkungskreis.
»Bill«, sagte er zu seinem kleinen Terrier, der auf einer Decke vor dem ungeheizten Kamin im Wohnzimmer lag, »diese Sache bringt mich noch zu Fall. Aber ob ich nun Erfolg habe oder nicht – ich werde eine Statistin kennenlernen. Ist das nicht großartig?«
Bill wedelte freudig mit dem Schwanz.