Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

11

Das unheimliche Wesen gab ein vögelähnliches, sanftes Zwitschern von sich, als ob es mit ihr sprechen wollte. Als sie näher hinschaute, erblickte sie seine weißen Zähne in der Dunkelheit. Es zog nicht an ihrer Hand, es umspannte sie nur fest. Mit einer Hand hielt es sich an den Efeuranken, an denen es emporgeklettert war. Wieder fing das Wesen an zu zwitschern, und jetzt zog es an ihrem Arm. Sie versuchte, ihn zurückzuziehen, aber ebensogut hätte sie versuchen können, einen Maschinenkolben anzuhalten. Plötzlich schwang sich ein großes haariges Bein über das Fensterbrett, und jetzt kam auch die zweite Hand und bedeckte ihr Gesicht, so daß ihr Schrei erstickte. Und doch hatte ihn jemand gehört. Von unten herauf kam ein blitzartiger Feuerschein und der betäubende Knall eines Pistolenschusses. Ein Geschoß pfiff durch die Luft und schlug zwischen den Efeuranken in die Mauer ein. Sofort ließ der große Affe sie los, sprang auf den Boden und verschwand. Halb ohnmächtig fiel sie auf das Fensterbrett, sie war unfähig, sich zu bewegen.

Unten löste sich aus dem Schatten des Lorbeergebüsches eine Gestalt, und sie erkannte den mitternächtlichen Schützen. Es war Mike Brixan.

»Sind Sie verletzt?« fragte er leise.

Sie konnte nur den Kopf schütteln, die Sprache versagte ihr.

»Habe ich ihn getroffen?«

Unter Aufbietung all ihrer Kräfte versuchte sie zu sprechen.

»Nein, ich glaube nicht«, flüsterte sie heiser. »Er ließ sich hinunterfallen.«

Mike leuchtete mit seiner elektrischen Taschenlampe den Boden ab.

»Ich kann keine Blutspuren finden. Er war sehr schwer zu treffen – ich war besorgt, Sie zu verletzen.«

Ein Fenster wurde aufgerissen, und man hörte Knebworths Stimme rufen.

»Was bedeutet diese Schießerei? Sind Sie es, Brixan?«

»Ja, ich bin es. Kommen Sie herunter in den Garten, ich werde Ihnen alles erklären.«

Mr. Longvale schien durch den Lärm nicht aufgewacht zu sein, ebenso keiner der Filmleute. Als Knebworth in den Garten kam, fand er nur Mike Brixan.

Mit ein paar Worten erzählte Mike alles, was geschehen war.

»Der Affe gehört unserem Freund Penne. Ich habe ihn heute morgen selbst gesehen.«

»Was halten Sie davon? Sind Sie der Ansicht, daß er hier umherstreifte und dabei das offene Fenster sah?«

Mike schüttelte den Köpf.

»Nein«, sagte er ruhig. »Er kam mit einer ganz bestimmten Absicht hierher. Er wollte Ihre Diva entführen. Das klingt zwar hochdramatisch und scheint fast unmöglich zu sein, aber ich bin zu dem Schluß gekommen, daß dieser Affe nahezu menschlichen Verstand hat.«

»Aber er kannte Helen doch gar nicht – hatte sie nie gesehen!«

»Er hatte aber ihre Witterung«, sagte Mike. »Sie hat in Griff Towers heute ein Paar Handschuhe verloren, und es ist sehr wahrscheinlich, daß sie der edle Gregory Penne gestohlen hat, um Bhag eine unfehlbare Witterung zu geben.«

»Das kann ich nicht glauben, das ist unmöglich. Aber ich gebe gern zu«, sagte Jack Knebworth gedankenvoll, »daß diese großen Affen Erstaunliches leisten können. Haben Sie ihn angeschossen?«

»Nein, ich habe ihn nicht getroffen, aber ich kann Ihnen versichern, daß dieses Tier früher einmal einen Schuß abbekam, denn sonst wäre es ohne weiteres auf mich losgegangen und wäre jetzt sicher tot.« – »Wie kamen Sie eigentlich hierher?«

»Ich war hier auf Wache«, sagte der andere gleichgültig. »Ein Detektiv, der es ernst meint, muß so viele Dinge beobachten, daß er nicht schlafen kann wie gewöhnliche Menschen. Ich hatte auch nie die Absicht, den Garten zu verlassen, weil ich Bhag nämlich erwartete – wer ist da?«

Die Tür öffnete sich, und eine schlanke Gestalt, in einen Morgenrock gehüllt, trat heraus.

»Liebes Fräulein, Sie werden sich fürchterlich erkälten«, warnte Knebworth. »Was ist Ihnen passiert?«

»Ich weiß nicht.« Sie strich über ihr Handgelenk. »Ich hörte plötzlich ein Geräusch und ging zum Fenster. Dann kam dieses schreckliche Wesen und hielt mich fest. Was war eigentlich, Mr. Brixan?«

»Weiter nichts Besonderes, nur ein Affe«, sagte er mit gekünstelter Gleichgültigkeit. »Es tut mir leid, daß Sie so geängstigt wurden, Ich glaube, der Schuß hat Sie am meisten erschreckt.«

»Das dürfen Sie nicht denken, Sie wissen doch ganz genau, daß ich über den Schuß nicht erschrak. Aber es war schrecklich, ganz schrecklich.« Sie bedeckte ihr Gesicht mit den zitternden Händen.

Jack brummte.

»Ich glaube schon, daß sie recht hat. Aber, liebes Fräulein, Sie sind unserem Freund hier zu Dank verpflichtet. Offenbar erwartete er diesen Besuch und blieb deshalb im Garten.«

»Sie erwarteten ihn?« fragte sie starr vor Staunen.

»Mr. Knebworth hat die Rolle, die ich spielte, übertrieben«, sagte Mike. »Und wenn Sie vermuten, daß es die Bescheidenheit eines Helden ist, so sind Sie auf dem falschen Weg. Ich wartete auf diesen Burschen, weil er von Mr. Longvale auf dem Felde gesehen wurde. Sie sahen ihn doch auch, Mr. Knebworth?«

Jack nickte.

»Wir haben ihn tatsächlich alle gesehen«, fuhr Mike fort. »Und da ich nicht wünschte, daß die Karriere eines neu entdeckten Filmstars durch das Erscheinen eines blöden Affen gestört wird, habe ich im Garten Wache gehalten.«

Mit einer plötzlichen Bewegung streckte sie ihre kleine Hand aus, und Mike drückte sie.

»Ich danke Ihnen, Mr. Brixan, ich hatte Sie in falschem Verdacht.«

»Wem passiert das nicht«, sagte Mike und zuckte die Schultern.

Sie ging in ihr Zimmer zurück, und diesmal schloß sie das Fenster fest zu. Aber bevor sie sich zum Schlafen niederlegte, trat sie nochmals ans Fenster, schaute durch die Gardinen und sah einen kleinen, glühenden Punkt. Es war Mikes Zigarre. Dann legte sie sich ruhig wieder zu Bett, um noch möglichst viel zu schlafen, bevor Foß an die Türen klopfen und die ganze Gesellschaft wecken würde.

Der Dramaturg war der erste, der unten im Freien war. Der Garten begann langsam im fahlen Morgendämmerlicht sichtbar zu werden. Er wünschte Mike Brixan ein unfreundliches guten Morgen, Mike erwiderte den Gruß.

»Da ich Sie gerade treffe, Mr. Foß – warum blieben Sie gestern in Griff Towers zurück, um mit Penne zu sprechen?«

»Das geht Sie doch nichts an«, brummte er und wollte vorbeigehen. Mike trat ihm in den Weg.

»Aber etwas geht mich sehr wohl an. Ich möchte Sie nämlich fragen, was diese weiße Marke am Fenster von Miss Leamington zu tun hat?« Dabei zeigte er auf das runde Papier, das Helen in der vorigen Nacht auch bemerkt hatte.

»Darüber weiß ich nichts«, sagte Foß ärgerlich. Aber es drückte sich Furcht in seiner Stimme aus.

»Wenn Sie es nicht wissen, wer soll es dann wissen? Ich habe doch selbst gesehen, wie Sie es gestern anbrachten, kurz bevor es dunkel wurde.«

»Nun gut, wenn Sie es durchaus erfahren wollen – es ist eine Marke, die dem Operateur die Grenze des Gesichtsfeldes angibt.«

Diese Erklärung klang glaubwürdig. Brixan hatte gesehen, wie Jack Knebworth im Garten die Grenzen abgesteckt hatte, um sicher zu sein, daß die Schauspieler auch auf den Filmstreifen kämen. Bei der ersten Gelegenheit, als er Knebworth sah, fragte er ihn wagen der Sache.

»Nein, ich habe niemals Anweisungen gegeben, solche Marken anzuheften. Wo ist sie denn?«

Mike zeigte sie ihm.

»Da oben würde ich niemals ein Markierungszeichen anbringen, gerade mitten im Fenster. Was mag das zu bedeuten haben?«

»Ich glaube, daß Foß eine bestimmte Absicht damit verfolgte. Ich nehme an, daß er es auf Gregorys Wunsch getan hat.«

»Aber warum denn?« fragte Knebworth verblüfft.

»Um das Zimmer Helen Leamingtons für Bhag kenntlich zu machen. Das ist der Grund«, sagte Mike, und er war von dem, was er sagte, vollkommen überzeugt.


 << zurück weiter >>