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19

Mike Brixan hatte sich einen schweren Koffer aus der Stadt schicken lassen, der wertvolle Kleidungsstücke enthielt. Eine halbe Stunde lang beschäftigte er sich mit dem Inhalt, dann meldete ihm der Boy des Hotels, daß das Motorrad da sei, das für ihn bestellt worden war. Mit einem Rucksack auf dem Rücken bestieg er das Rad und hatte die Stadt bald hinter sich. Er machte einen Umweg durch die gewundenen Straßen von Sussex, ehe er Dower House erreichte, wo er seine Maschine versteckte.

Es war elf Uhr, als er über die Felder ging, die zu der Hinterpforte führten. Auf dem ganzen Weg lauschte er auf den sanftfüßigen Bhag. Die Hintertür war zu und verschlossen darauf war er vorbereitet. Er nahm seinen Rucksack ab, nahm ein Bündel Stäbe heraus und schraubte drei zusammen. Oben befestigte er einen dicken, stumpfen Haken, dann legte er die übrigen Stäbe zurück. Er hob den Haken bis zur Kante der hohen Mauer, prüfte die Festigkeit – und in wenigen Sekunden war er auf seiner Leiter hochgeklettert und sprang auf die andere Seite hinab.

Er folgte dem Weg, den er früher schon einmal genommen hatte, und hielt sich im Gebüsch. Scharf spähte er links und rechts nach dem gefährlichen Diener Pennes aus. Als er zu dem Ende der Hecke kam, öffnete sich die Tür der Vorhalle, und zwei Männer traten heraus. Der eine war Penne, den schlanken Mann an seiner Seite erkannte er im Augenblick nicht, bis er dessen Stimme hörte. Es war Mr. Sampson Longvale!

»Ich glaube, daß sie durchkommt. Die Wunden sind nicht sehr schlimm. Es sieht fast so aus, als ob sie von einer ungeheuren Klaue gepackt worden wäre«, sagte Longvale. »Ich hoffe, daß meine Hilfe von Nutzen war, Sir Gregory, obwohl ja, wie ich Ihnen schon erzählte, meine medizinische Tätigkeit fast fünfzig Jahre zurückliegt.«

Der alte Longvale war also Arzt! So sehr überraschte Mike diese Neuigkeit nicht. In dem wohlwollenden Verhalten und in der freundlichen Art dieses Mannes lag etwas, das selbst einen weniger guten Psychologen als Mike Brixan an einen solchen Beruf hätte denken lassen.

»Mein Wagen wird Sie zurückbringen«, hörte er Sir Gregory sagen.

»Nein, ich danke Ihnen, ich möchte zu Fuß gehen. Es ist ja nicht weit. Gute Nacht, Sir Gregory.«

Der Baron brummte gute Nacht und ging in die schwach erleuchtete Halle zurück. Mike hörte das Rasseln der Ketten, mit denen Penne die Tür sicherte.

Es war keine Zeit zu verlieren. Fast noch ehe Mr. Longvale in der Dunkelheit verschwunden war, hatte Mike seinen Rucksack wieder geöffnet und seiner Leiter drei neue Stäbe hinzugefügt. Von jedem Stab sprang ein kurzer, leichter Stahlarm vor. Es war der Typ der Hakenleiter, wie sie von Feuerwehrleuten benützt wird. Mike war während seiner bewegten Laufbahn oft auf diese Weise in unzugängliche Häuser eingedrungen. Er hatte die Entfernung gut geschätzt, denn als er den Stab hob und den Haken an dem Brett des kleinen Fensters anbrachte, hing die Leiter nur wenige Zoll über dem Boden. Er prüfte die Festigkeit durch einen kräftigen Ruck an dem Haken, dann kletterte er hinauf, und in wenigen Sekunden spähte er durch das Fenster. Es war leicht zu öffnen – der Verschluß war von verblüffender Einfachheit. Im nächsten Augenblick stand er auf den Stufen einer dunklen und engen Treppe.

Er hatte eine Taschenlampe mitgenommen und leuchtete damit den Raum ab. Unten sah er eine kleine Tür, die anscheinend in die Halle führte. Er dachte angestrengt nach und erinnerte sich dann, daß sich in einer Ecke der Halle ein Vorhang befand, dem er aber keine Wichtigkeit beigelegt hatte. Er ging hinunter, versuchte, die Tür aufzudrücken, fand sie aber verschlossen. Nun setzte er seine Lampe nieder, nahm ein Lederetui mit Werkzeug aus seiner Tasche und begann an dem Schloß zu arbeiten. In unglaublich kurzer Zeit gab es nach. Als er sich überzeugt hatte, daß die Tür sich öffnen würde, war er zufrieden. Zunächst gab es oben für ihn Arbeit. Er stieg die Stufen wieder empor und kam zu einem schmalen Podest, sah aber keine Tür.

Eine zweite, dritte und vierte Treppe brachte ihn, soweit er vermuten konnte, zu der Spitze des Turmes, und hier fand er einen schmalen Ausgang. Er lauschte, und nach einer Weile hörte er, daß sich jemand im Raum bewegte, der dem Geräusch nach Pantoffeln trug. Gleich darauf schloß eine Tür mit dumpfem Schlag, und er versuchte, die Klinke niederzudrücken. Die Tür war unverschlossen. Er öffnete sie ein wenig, bis er den größeren Teil des Zimmers übersehen konnte.

Es war ein kleiner, luftiger Raum ohne Möbel. Nur in einer Ecke stand ein Bett, auf dem eine Frau lag. Glücklicherweise wandte sie ihm den Rücken zu. Aber ihr schwarzes Haar und die dunkle Haut ihres bloßen Armes, der auf der Decke ruhte, sagten ihm, daß sie keine Europäerin war.

Sie wandte sich um, und er konnte ihr Gesicht betrachten. Er erkannte sie sofort als die Frau wieder, die er in dem Film gesehen hatte. Sie sah schön und jung aus. Ihre Augen waren geschlossen, und sie begann im Schlaf leise zu rufen. Mike war schon halb im Zimmer, als er merkte, daß sich die Klinke der anderen Tür bewegte. Blitzschnell kehrte er zu dem dunklen Treppenabsatz zurück.

Bhag in seiner alten blauen Hose kam herein. In den großen Händen hielt er ein Tablett mit Speisen. Er streckte einen Fuß aus und zog den Tisch zu sich heran. Dann stellte er das Brett an der Seite des Bettes nieder. Das Mädchen öffnete die Augen und fiel mit einem entsetzten Schrei wieder zurück. Bhag, der anscheinend an diese Äußerungen des Widerwillens gewöhnt war, schlurfte aus dem Zimmer.

Mike öffnete die Tür wieder leise und ging durch den Raum, ohne daß ihn das Mädchen bemerkte. Er sah in den Gang – keine sechs Schritte von ihm entfernt kauerte Bhag und schaute ihn an.

Mike schloß die Tür schnell und flog zu der geheimen Treppe zurück. Die Tür zog er hinter sich zu. Er suchte nach einem Schlüssel, aber es war keiner da. Ohne eine Sekunde länger zu warten, lief er die Treppe hinab. Er wollte auf alle Fälle einen Zusammenstoß vermeiden, der seine Anwesenheit in diesem Haus verraten konnte.

Er machte nicht den Versuch, aus dem Fenster zu entkommen, sondern ging die Treppe hinunter und trat dann in die Halle ein. Diese Tür konnte er schließen, oben und unten waren zwei große Riegel. Er schob den Vorhang zurück und wartete eine Weile – gleich darauf hörte er ein Schlurfen auf der Treppe. Nun sicherte er vor allem seinen Rückzug. Geräuschlos riegelte er die Haupttür auf, zog die Kette weg und drehte den Schlüssel um. Dann schlich er sich vorsichtig auf den Gang und wandte sich Sir Gregorys Zimmer zu.

Es bestand die Gefahr, daß einer der Eingeborenen ihn sehen konnte, aber das mußte er riskieren. Er hatte bei seinen früheren Besuchen beobachtet, daß sich kurz vor der Bibliothek eine Tür befand, die in eine Art Vorzimmer führen mußte. Sie war nicht verschlossen, und er trat in vollkommene Dunkelheit. Er tastete sich an der Wand entlang und fand eine Reihe von Schaltern. Den ersten drehte er an, und zwei Wandarme leuchteten auf, die genügend Licht verbreiteten, um ihm einen Überblick über den Raum zu geben.

Es war ein kleiner Salon, der anscheinend nicht benützt wurde, denn die Möbel waren mit Überzügen bedeckt, und der Kamin stand leer. Von hier aus konnte man durch eine Tür in der Nähe des Fensters zu der Bibliothek kommen. Er drehte das Licht wieder aus, verschloß die Tür von innen und prüfte die Fensterläden. Sie waren durch Eisenstangen gesichert und nicht wie die in der Bibliothek verschlossen. Er stieß sie zurück, zog das Rouleau in die Höhe und öffnete vorsichtig zwei Flügel. Nun hatte er eine zweite Möglichkeit zu entkommen.

Er kniete nieder und spähte durch das Schlüsselloch. In der Bibliothek brannte Licht; es sprach jemand. Eine Frau! Er drückte die Klinke nieder und öffnete die Tür ein wenig, so daß er ins Zimmer sehen konnte.

Gregory Penne stand in seiner Lieblingshaltung am Kamin, den Rücken dem Feuer zugewandt. Vor sich hatte er ein Tablett mit verschiedenen Drinks, ohne die ihm das Leben anscheinend unerträglich war. An der anderen Seite des Kamins saß Stella Mendoza auf einem niedrigen Sitz. Sie trug einen Pelzmantel, denn die Nacht war kühl. Um ihren Hals funkelten so viele Edelsteine, wie Mike sie niemals zuvor an einer Frau gesehen hatte.

Das Thema der Unterhaltung schien nicht sehr angenehm zu sein, denn Gregory blickte finster drein, und Stella schien auch nicht sehr glücklich.

»Ich habe dich allein gelassen, weil ich dich eben allein lassen mußte«, grollte er als Antwort auf ihre Beschwerde. »Eine meiner Dienerinnen ist krank, und ich habe den Arzt geholt. Und wenn ich dageblieben wäre, würde es dasselbe sein. Es hat keinen Zweck, Kind«, sagte er scharf. »Das Huhn legt keine goldenen Eier mehr wie früher – dieses Huhn auf keinen Fall. Es war töricht von dir, dich mit Knebworth zu überwerfen.«

Sie sagte etwas, was Mike nicht hören konnte.

»Deine eigene Gesellschaft – das wäre schön!« sagte er sarkastisch. »Es wäre schön für mich, der ich die Rechnungen bezahlen müßte, und noch schöner für dich, die das Geld ausgeben könnte! Nein, Stella, da spiele ich nicht mit. Ich bin sehr gut zu dir gewesen, und du hast nicht das Recht, von mir zu erwarten, daß ich Bankrott mache, um dir eine Laune zu erfüllen!«

»Das ist keine Laune!« sagte sie heftig. »Das ist zwingende Notwendigkeit. Wenn du mich nicht von Atelier zu Atelier herumlaufen lassen willst, um mir ein Engagement zu suchen ... Willst du das etwa?« fragte sie in vorwurfsvollem Ton.

»Ich will dich nicht zur Arbeit zwingen, und ich wüßte auch gar nicht, warum du arbeiten müßtest. Du hast genug, um davon zu leben. Immerhin, du hast keinen Grund, auf Knebworth wütend zu sein. Wenn er nicht gewesen wäre, hättest du mich nicht kennengelernt, und wenn du mich nicht kennengelernt hättest, wärest du um viele Tausende ärmer. Das einzige ist, dir ist die Sache zu langweilig geworden, und du brauchst eine Veränderung!«

Tiefe Stille trat ein. Ihr Kopf sank, und Mike konnte ihr Gesicht nicht mehr sehen. Aber als sie sprach, hörte er an ihrem grollenden Unterton, in welcher Stimmung sie war.

»Du brauchst anscheinend auch eine Veränderung. Glaubst du etwa, ich lasse mich so abschieben? Ich könnte Dinge von dir erzählen, die nicht sehr schön aussehen, wenn sie im Druck erscheinen. Dann würdest du auch deine Veränderung haben! Denke daran, Gregory Penne! Ich bin kein Dummkopf. Ich habe hier allerhand Dinge gesehen und gehört, und die Zusammenhänge sind mir ganz klar. Du meinst, ich brauche eine Veränderung. Das glaube ich auch. Ich brauche Freunde, die keine Mörder sind –«

Mit einem Satz sprang er zu ihr hin, und seine fleischige Hand schloß ihr den Mund.

»Du Hexe!« zischte er. In dem Augenblick mußte jemand geklopft haben, denn er drehte sich zur Tür um und sagte etwas in einem Eingeborenen-Dialekt.

Mike konnte die Antwort nicht hören.

»Nun hör mal«, sagte Gregory in ruhigerem Ton zu Stella. »Foß wartet draußen und will mich sprechen. Ich werde diese Angelegenheit später mit dir bereden.«

Er ließ sie los, ging zu seinem Schreibtisch und drehte den Hebel, der die geheime Tür zu Bhags Quartier öffnete.

»Geh da hinein und warte«, sagte er. »Die Unterredung mit Foß wird nicht länger als fünf Minuten dauern.«

Sie schöpfte Verdacht, als sie zu der Tür sah, die sich plötzlich in der Täfelung öffnete.

»Nein«, sagte sie. »Ich werde nach Hause gehen. Morgen können wir über die Sache sprechen. Es tut mir leid, daß ich so heftig wurde, Gregory, aber du kannst einen manchmal auch verrückt machen.«

»Geh da hinein«, sagte er scharf. Er zeigte auf die Zelle. Er biß die Zähne aufeinander, und seine Stirnader schwoll an.

»Ich will nicht«, rief sie entsetzt, und sie wurde bleich.

»Du tierischer Mensch! Glaubst du, ich weiß nicht, was los ist? Das ist Bhags Käfig, du gemeiner Kerl!«

Sein Gesicht sah schrecklich aus. Bosheit und Niedertracht malten sich in seinen Zügen. Atemlos vor Schrecken starrte Stella ihn an und taumelte gegen die Wand. Gregory gewann wieder die Herrschaft über sich.

»Dann geh in den kleinen Salon«, sagte er rauh.

Brixan hatte gerade noch Zeit, sich in eine Ecke zu drücken, als die Tür aufgerissen wurde und sie hereinkam.

»Es ist dunkel hier drinnen«, sagte sie verdrossen.

»Dreh doch das Licht an!«

Die Tür schlug zu. Mike Brixan wußte nicht, was er nun tun sollte. Er konnte ihre Gestalt sehen, wie sie an der Wand entlangtastete, und er ging ihr vorsichtig aus dem Weg. Dabei stolperte er aber über einen Stuhl. »Wer ist da?« schrie sie auf. »Gregory, ruf das Vieh zurück! Gregory!«

Wieder hörte er den gellenden Schrei. Aber schon war er am Fenster, schlüpfte hindurch und sprang auf die Erde. Während er an der Hecke entlanglief, hörte er noch ihre schrillen Schreie. So behende er auch war, es eilte jemand noch schneller hinter ihm her – eine große, unförmige Gestalt, die sich auf Händen und Füßen fortbewegte. Der Detektiv hörte es, schaute sich um und erkannte seinen Verfolger. Von welchem verborgenen Platz aus mochte Bhag plötzlich gekommen sein? Als Mike zur Erde sprang, hatte er keine Zeit, sich umzusehen. Seine Rocktasche war so merkwürdig leicht. Er fühlte mit der Hand, daß die Pistole nicht mehr darin war. Sie mußte ihm beim Sprung entfallen sein.

Er hörte nur, daß Bhag immer noch hinter ihm her war, als er quer übers Feld raste. Er stolperte über Kohlköpfe und trat in tiefe Furchen. Das unheimliche Tier kam immer näher an ihn heran. Die Hintertür lag jetzt vor Mike, aber sie war verschlossen, und selbst die hohe Mauer hätte dem Affen kein Hindernis geboten. Die Wand hielt Mike auf. Atemlos drehte er sich nach seinem Verfolger um. In der Dunkelheit sah er zwei grüne Augen gleich zwei Unglückssternen unheimlich aufblitzen.


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