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Das Leben setzt sich hauptsächlich aus Kleinigkeiten zusammen. Aber die Dinge von einer höheren Warte aus zu betrachten, ist der Jugend gewöhnlich nicht gegeben. Es hatte Helen Leamington große Überwindung gekostet, einen Herrn zum Tee zu bitten, aber nachdem sie es nun einmal getan hatte, erwartete sie ihn ungeduldig.
Sie besuchte Jack Knebworth in seinem Büro, während Mike gerade im Auto nach London raste.
»Sicher, meine Liebe, Sie können diesen Nachmittag freinehmen. Ich weiß nicht mehr genau, was wir eigentlich vorhatten.«
Er nahm das Programm mit der Zeittafel, aber sie konnte ihm den nötigen Aufschluß geben.
»Sie wollten im Atelier einige Porträtaufnahmen von mir machen lassen«, sagte sie.
»Das hat Zeit, das kann auch an einem anderen Tag geschehen. Nun, haben Sie Zutrauen, daß der Film gut wird?« fragte der Direktor.
»Ich? Nein, leider nicht viel, Mr. Knebworth. Ich bin sehr unruhig darüber. Es ist doch ziemlich unmöglich, daß ich gleich von Anfang an alles richtig mache. Man träumt wohl von Erfolg, aber im Traum ist es leicht, Hindernisse und Gefahren zu überwinden und über Schwierigkeiten hinwegzukommen. Jedesmal, wenn Sie ›Aufnahme!‹ rufen, erschrecke ich und habe ein schlechtes Gewissen. Immer denke ich, du bewegst deine Hände ungeschickt, du wirfst deinen Kopf zu schnell herum.«
»Aber das dauerte doch nicht lange?« fragte er so eindringlich, daß sie lächeln mußte.
»Nein, in dem Moment, in dem ich die Kamera surren höre, fühle ich, daß ich die bin, die ich darstellen soll.«
Er klopfte ihr auf die Schulter.
»Das ist auch das, was Sie fühlen müssen.« Dann fuhr er fort: »Haben Sie nichts von der Mendoza gesehen? Hat sie Sie belästigt, oder ist Foß bei Ihnen gewesen?«
»Ich habe Miss Mendoza seit zwei Tagen nicht gesehen, aber Mr. Foß sah ich noch gestern abend.«
Sie erklärte ihm die näheren Umstände nicht, und Jack Knebworth fragte auch nicht weiter nach. Und so erfuhr er nichts von allem, was Helen gestern abend erlebt hatte. Als sie gestern die Hauptstraße entlanggegangen war, sah sie Lawley Foß an der Ecke der Arundel Road neben einem geschlossenen Auto stehen. Er unterhielt sich mit jemandem, der in dem Wagen saß. Später beobachtete sie, wie ihm eine weiße Hand, die wie eine Frauenhand aussah, einen Gruß zuwinkte. Deutlich erkannte sie an dem kleinen Finger der Hand einen großen Diamant. Die Person selbst aber hatte sie nicht gesehen.
Als Helen nach Hause ging, machte sie bei dem Konditor und dem Blumenhändler halt. Sie kaufte Blumen und Kuchen, um damit den Tisch im Salon der Mrs. Watson zu richten. Erstaunt fragte sie sich, welche Anziehung sie wohl auf diesen weltgewandten Mann ausüben könne. Sie neigte stark zur Selbstkritik und kam sich durch ihre Selbstverkleinerung wie ein etwas farblos junges Mädchen ohne besonderen Charakter vor. Daß sie schön war, wußte sie. Aber Schönheit allein lockt nur oberflächliche Leute an. Wertvolle Menschen verlangen etwas mehr als das. Mike Brixan wollte sicher nicht mit ihr tändeln, er wollte sie wahrscheinlich als Freundin gewinnen.
Der Zeiger der Uhr rückte auf halb fünf, und sie wartete. Um Viertel vor fünf lief sie zur Tür und schaute die Straße entlang. Als es aber fünf Uhr schlug, wurde sie ärgerlich und setzte sich mit philosophischer Ruhe über ihre Einladung hinweg. Sie trank ihren Tee allein, und als sie fertig war, ließ sie abräumen.
Mike hatte es vergessen!
Sie erfand Entschuldigungen für ihn, verwarf sie und suchte doch wieder nach neuen. Erst war sie beleidigt, dann faßte sie die Sache von der humoristischen Seite auf, fühlte sich aber doch verletzt. Schließlich ging sie auf ihr Zimmer, drehte das Licht an, zog ihr Manuskript aus der Tasche und versuchte, die Szenen durchzuarbeiten, die am nächsten Tag gedreht werden sollten. Aber alles lenkte sie von ihrer Arbeit ab. Sie mußte viel an Mike denken, dann an das geschlossene Auto und an Lawley Foß. Sie sah die weiße Hand mit dem Diamantring vor sich, die zum Abschied winkte, als der Wagen davonfuhr. Merkwürdigerweise kam sie in ihren Gedanken immer wieder auf das geschlossene Auto zurück ...
Schließlich legte sie das Manuskript hin und stand auf. Sie schaute unschlüssig zu ihrem Bett hinüber. Es war erst neun, und sie fühlte sich noch nicht müde. Chichester bot wenig Zerstreuungen zur Abendzeit. Es gab zwei Kinos, aber sie war jetzt nicht in Stimmung, sich einen Film anzusehen. Sie setzte aber doch ihren Hut auf und ging nach unten. Als sie an der Küche vorbeikam, sagte sie zu ihrer Wirtin:
»Ich gehe jetzt noch eine Viertelstunde spazieren.«
Das Haus, in dem sie wohnte, lag in einer kleinen Villenstraße, die nicht sehr hell erleuchtet war. Es gab manche dunkle Stellen, zu denen das Licht der Laternen nur spärlich drang. An einem solchen Ort wartete ein Auto. Sie sah schwache Umrisse, bevor sie es richtig erkennen konnte und wunderte sich, daß das Schlußlicht nicht brannte. Als sie näher kam, erkannte sie denselben Wagen, den sie in der vorigen Nacht gesehen, und mit dessen Insassen Foß gesprochen hatte.
Ins Wageninnere konnte sie nicht sehen. Die Vorhänge waren an der Straßenseite heruntergezogen. Sie glaubte schon, der Wagen sei leer, aber plötzlich hörte sie eine Stimme flüstern:
»Fräulein – kommen Sie mit mir ...?« Wieder kam die weiße Hand durch den Spalt des halbgeschlossenen Fensters, und ein großer Diamant blitzte auf. In einer Anwandlung von unerklärlicher Furcht eilte sie weiter.
Sie hörte, wie der Motor ansprang. Der Wagen folgte ihr. Sie lief, so schnell sie konnte. An der Ecke der Straße sah sie einen Mann stehen. Es war ein Polizist, und sie lief zu ihm hin.
»Was ist Ihnen denn passiert, mein Fräulein?«
Als sie sprach, fuhr der Wagen an ihr vorbei, bog um die Ecke und kam außer Sicht.
»Ein Mann aus jenem Wagen hat mich angesprochen«, sagte sie atemlos.
Der Polizist schaute dem Wagen nach. Vergebens. Er war fort.
»Er hatte keine Schlußlichter«, sagte er dann verdutzt. »Ich hätte sonst seine Nummer feststellen können. Hat er Sie belästigt?«
Sie schüttelte den Kopf, da sie sich ihrer Furcht schämte.
»Ich bin etwas nervös«, lächelte sie, »ich werde wieder nach Hause gehen.«
Sie machte kehrt und eilte zu ihrer Wohnung.
Wenn man Diva war, hatte man eben auch Unannehmlichkeiten – selbst bei der bescheidenen Filmgesellschaft von Jack Knebworth. Man wurde nervös dabei.
Sie schlief ein und träumte, daß der Mann in dem Auto Mike Brixan war und sie einlud, zu ihm zu kommen, um mit ihm Tee zu trinken.
Es war schon nach Mitternacht, als Mike Jack Knebworth anläutete und ihm die letzte Neuigkeit durchgab.
»Foß?« rief er entsetzt. »Sie meinen das doch nicht etwa wirklich, Brixan? Soll ich zu Ihnen kommen?«
»Ich werde Sie aufsuchen«, sagte Mike. »Ich muß noch verschiedenes von Ihnen über Foß erfahren, und es wird weniger Aufsehen erregen, als wenn Sie mich hier im Hotel besuchen.«
Jack Knebworth hatte ein Haus in der Arundel Road gemietet und wartete am Gartentor, um seinen Besucher einzulassen.
Mike erzählte ihm von der Entdeckung des Kopfes, und er glaubte Jack Knebworth so weit einweihen zu dürfen, daß er ihm über seinen Besuch bei Sir Gregory Penne ausführlich berichtete.
»Das übersteigt doch alles«, sagte Jack mit heiserer Stimme. »Der arme Foß! Glauben Sie, daß Penne es getan hat? Ich könnte mir nicht denken, warum. Man schneidet doch nicht jemandem den Kopf ab, der nur Geld leihen will.«
»Meine Ansicht hat sich etwas gewandelt«, sagte Mike. »Sie erinnern sich doch noch an das Blatt, das ich in dem Manuskript von Miss Leamington fand. Ich deutete Ihnen damals an, daß es vom Kopfjäger geschrieben sein müßte.«
Jack nickte.
»Ich bin dessen jetzt ganz sicher«, fuhr Mike fort, »besonders seitdem ich in Ihrem Büro gesehen habe, daß die Eintragung des betreffenden Manuskriptes vernichtet wurde. Foß wußte genau, wer der Autor war, und ich nehme sicher an, daß er den verzweifelten Entschluß faßte, den Schreiber zu denunzieren. Wenn das der Fall ist, und Sir Gregory war der Verfasser des Manuskripts – aber in diesem Punkt bin ich noch sehr unsicher –, dann ist es ja ganz klar, warum er aus dem Wege geräumt werden mußte. Eine Person könnte uns helfen, und das ist –«
»Stella Mendoza«, sagte Jack, und die Blicke der beiden Männer trafen sich verständnisvoll.