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XVIII

Käte war nun mit dem Sohn allein. Nun hatte sie ihn ganz für sich. Das, was sie früher in eifersüchtigem Ringen erstrebt hatte, nun war es ihr gegeben. Nicht einmal die Natur draußen, die mit so lockenden Augen in die Fenster sah, konnte ihn an sich ziehen. Es erstaunte sie – ja, nun verstimmte es sie fast – daß er nicht mehr Anteil zeigte. Sie fuhren durch die Schweiz – er sah sie zum ersten Mal – aber das, was sie beim ersten Anblick zu Tränen anbetender Bewunderung gerührt hatte, diese hohen Berge, deren Gipfel sich in Schnee und Wolken verloren, zwangen ihm kaum einen Blick ab. Dann und wann sah er wohl einmal zum Coupéfenster hinaus, aber meist lehnte er in seiner Ecke, las oder träumte mit offenen Augen vor sich hin.

»Bist du müde?«

»Nein,« sagte er; bloß ›nein‹, aber ohne die schroffe Kürze, die ihm sonst eigen gewesen war. Es war keine unliebenswürdige Ablehnung mehr in seinem Ton.

Mit besorgten Augen sah Käte den Sohn an: die Reise griff ihn doch wohl an? Es war gut, daß sie mit ihm war! Sie kam sich unentbehrlich vor, und das Gefühl innerer Genugtuung ließ sie die Anstrengungen der weiten Reise gar nicht empfinden.

In Mailand, wo sie einen Tag rasteten, wollte Wolfgang nicht viel vom Dom wissen. »Ja, großartig,« sagte er, als sie sich am Wunderbau begeisterte. Aber auf die Plattform, von der man heute bei dem hellen Wetter eine kolossale Rundsicht haben würde dis hin zu den fernen Alpen, wollte er nicht mit ihr hinauf. »Geh du allein, Laß mich hier!«

Es kam ihr anfänglich komisch vor, daß sie, die alte Frau, hinaufsteigen sollte, während er, der junge Mann, unten blieb. Zuletzt konnte sie der Lust, die sie drängte, das früher schon einmal Genossene, Herrliche wieder neu aufleben zu sehen, doch nicht widerstehen. Sie löste sich die Karte zum Hinaufsteigen, und er klappte sich einen der Feldstühle auseinander, die zum Gebrauch in der weiten Leere des Riesendomes stehen und ließ sich, den Rücken an eine Marmorsäule gelehnt, nieder.

Ah, hier ruhte sich's gut! Nach dem Markt draußen mit seinem Gelärm und dem Geschwirr von Tönen und bunten Farben, umfing ihn hier die weihrauchdurchwürzte Dämmerung. Es störte ihn nicht, daß Türen auf- und zuklappten, daß Leute aus- und einzogen in Scharen. Daß hier ein Fremdenführer mit blecherner Stimme seinen Fremden die eingelernte Belehrung herleierte, ganz laut, nicht achtend, daß er dabei fast über die Füße derer stolperte, die auf niedrigen Bänkchen vor einem sitzenden Priester, flüsternd ihre Sünden bekannten. Daß dort einer die Messe zelebrierte – die Meßner knicksten und klingelten – während hier eine Köchin, das an den Beinen zusammengebundene Geflügel neben sich, mit einer Gevatterin schwatzte.

Das alles störte ihn nicht, er bemerkte es gar nicht. Die köstliche Dämmerung umfing seine Sinne, er wurde so schläfrig, so selig müde. Vor seinen verschwimmenden Blicken lächelten alle Heiligen, süße Marien und pausbackige Engelchen, die Amoretten glichen. Es wurde ihm wohlig hier. Der Mailänder Dom, dies Wunder der Welt, verlor seine befremdende Großartigkeit; die weiten Mauern rückten zusammen wurden eng und traulich und umfaßten doch die Welt. Eine friedvolle Welt, in der Sünder niederknieen und als Reine auferstehen. Eine ungeheure Sehnsucht erfaßte Wolfgang, auch hier niederzuknieen. Ah, da war sie wieder, die Sehnsucht seiner Knabenjahre! Wie hatte er dazumal die Kirche, in die ihn das Mädchen Cilla geführt hatte, geliebt! Er liebte sie noch, er liebte sie wieder, er liebte sie heute mit noch sehnsüchtigerer Liebe als dazumal. Hier war er zu Haus, hier hatte er das warme Gefühl der Zugehörigkeit.

–› Qui vivis et regnas in saecula saeculorum‹ – – hocherhoben strahlte die goldene Monstranz, tief neigten sich die Beter, seliger Wohlklang schwebte unterm hochgewölbten Kuppeldach, immer schöner, schöner – leise, leiser. Die Lider fielen ihm zu.

Und er sah Cilla. So frisch, so schön wie das Leben selber. O, wie wunderschön! So hatte sie sonst doch nicht ausgesehen?! Er war sich bewußt, daß er träumte, aber er war nicht imstande, den Traum abzuschütteln. Und sie kam ihm ganz nah – o, so nah! Und sie machte das Zeichen des Kreuzes über ihm – leise tönte Orgelmusik – horch, was sprach sie, was flüsterte sie über ihm?! Er wollte nach ihrer Hand greifen, sie befragen, da hörte er eine andre Stimme:

»Wolfgang, schläfst du?«

Kätes Hand hatte sich leise auf seine Hände gelegt, die er gefaltet auf den Knieen hielt. »Ich bin wohl lange oben geblieben? Du hast dich gelangweilt?«

»O nein, nein!« Er sagte es mit Enthusiasmus.

Sie gingen zusammen zum Dom hinaus, aus dem die Orgel hinter ihnen hertönte bis auf den Markt. Käte war ganz begeistert von der genossenen Fernsicht und merkte darüber nicht den heimlichen Glanz, der in Wolfgangs Augen war. Er war still und schien mit allem einverstanden.


Seine Art fing die Mutter fast an zu beängstigen. Das, was sie früher beglückt haben würde – ach, wie hatte sie sich in früheren Jahren nach einem gefügigeren Kinde gesehnt! – stimmte sie jetzt wehmütig. War er am Ende doch kränker, als sie alle ahnten?

Sie waren jetzt an der Küste angelangt, in Sestri. Das waren noch dieselben Pinien, unter denen sie vor achtzehn Jahren als jüngere Frau gesessen und gemalt hatte. Aber ein andres Hotel war seitdem entstanden, ein ganz deutsches: deutscher Wirt, deutsche Bedienung, deutsche Küche, deutsche Gesellschaft, aller Komfort, so, wie Deutsche ihn lieben. Käte hatte sich ganz zurückhalten wollen, nur für Wolfgang leben; nun war es ihr aber doch Bedürfnis, dann und wann mit diesem oder jenem zu plaudern, denn wenn sie auch mit Wolfgang zusammen war, allein fühlte sie sich doch. Was dachte er? Daß er etwas dachte, zeigten ihr seine Stirn und seine Augen; aber er sprach seine Gedanken nicht aus. War er verstimmt – heiter? Fröhlich – traurig? Reute ihn manches und grübelte er darüber nach – oder langweilte er sich hier?! Das alles wußte sie nicht.

Mit einem gewissen Eigensinn zog er sich von allen übrigen zurück. Vergebens ermunterte Käte ihn, mit jungen Mädchen, die einen Partner suchten, Tennis zu spielen; wenn er's nicht übertrieb, durfte er das immerhin schon wagen. Auch zu Segelfahrten wurde er aufgefordert, aber der Sport schien ihm gleichgiltig geworden zu sein.

Meist lag Wolfgang vorn auf der Mole, an deren felsiger Spitze sich das blaue Meer rastlos zu weißem Schaum zerpeitscht, sah hinüber nach der Küste der Ponente, die in rotviolettem Dufte schwimmt, oder blickte zurück nach den nackten Gipfeln der Apenninen, in deren Halbkreis sich die weißen und roten Häuser von Sestri schmiegen.

Wenn die Fischerboote mit schlaffen Segeln wie müde Vögel in den Hafen glitten, stand er auf und schlenderte langsam zum Anlegeplatz ihnen entgegen. Die Hände in den Hosentaschen stand er dann dabei und sah zu, was sie an Fischen ausluden. Viel Beute war es nicht. Dann zog er die Hände aus den Hosentaschen und gab den Fischern, was er an Geld bei sich hatte.

Wenn die Mutter gewußt hätte, was der Sohn dachte! Wenn sie geahnt hätte, daß seine Seele dahinflog mit müden Flügeln wie eine treibende Möwe über uferlosem Meer!

Wolfgang hatte Heimweh. Hier gefiel es ihm nicht. Hier war es viel zu weich, viel zu schön; das langweilte ihn. Nur die Pinien, die streng duftenden, gefielen ihm; die waren doch besser als die Kiefern im Grunewald. Aber Heimweh nach dem Grunewald hatte er eigentlich auch nicht. Es war eben immer dasselbe, ob hier, ob da, ihn quälte immer die Sehnsucht. Wonach – wohin?! Darüber grübelte er. Aber der Mutter hätte er es nicht sagen mögen, denn jetzt sah er's, daß sie sich um ihn mühte. Und öfters, als er es sonst je in seinem Leben getan hatte, fand er jetzt ein herzliches Wort.

Also endlich, endlich doch! Käte sah ihn oft verstohlen von der Seite an: war das noch derselbe, der sich als Knabe trotzig gegen sie gestemmt, ihre Liebe abgewehrt hatte, all ihre große Liebe?! Dieser hier, dessen Anblick im Mailänder Dom sie so seltsam gerührt hatte, war das noch derselbe, der auf der Schwelle gelegen hatte, betrunken – pfui, so betrunken! Derselbe noch, der so gesunken war, so tief, daß er – ach, gar nicht mehr daran denken!

Käte wollte vergessen; ehrlich mühte sie sich darum. Neulich, als sie ihn im Dom gefunden hatte, an einer Säule sitzend, die Hände gefaltet, die Lider träumerisch geschlossen, da war er ihr so jung vorgekommen, noch rührend jung; seine Stirn war glatt gewesen, alles darauf wie weggewischt. Und sie mußte denken: ob man nicht doch zuviel von ihm verlangt hatte? War man ihm auch immer ganz gerecht geworden? Hatte man ihn so verstanden, wie man ihn hätte verstehen müssen?! In ihrer Seele stiegen Zweifel auf. Sie hatte sich immer für eine gute Mutter gehalten; seit jenem Tag im Dom war es ihr, als hätte sie etwas verfehlt. Was, konnte sie selber nicht sagen. Aber in die Genugtuung, daß der Sohn nun doch zu ihr kam, mischte sich Wehmut und ein reichlich Teil selbstquälerischen Schmerzes. Ah, nun war er ja gut, nun war er wenigstens annähernd so, wie sie sich ihn gewünscht hatte – weicher, lenksamer – aber nun – ach, was hatte sie nun?!

›Wolfgang macht mir doch Sorge,‹ schrieb sie an ihren Mann. ›Es ist so schön hier, aber er sieht es nicht. Mir ist oft bange!‹

Als Schlieben ihr angeboten hatte, auch mitzureisen – er hatte das getan, weil er wünschte, seiner Frau manches abzunehmen – hatte Käte fast ängstlich abgewehrt: nein, nein, es war durchaus nicht nötig! Sie wollte viel lieber mit Wolfgang allein sein, sie hielt es für ihn und für sich so viel ersprießlicher. Nun dachte sie doch viel an ihren Mann und schrieb ihm fast alle Tage. Und wenn es auch nur ein paar Zeilen auf einer Postkarte waren, sie fühlte das Bedürfnis, ein Wort mit ihm zu tauschen. Er, ja er würde es hier so schön finden, wie sie es schön fand! Wie sie es einst vereint schön gefunden hatten! Hier diesen Pfad über die Klippen waren sie einst zusammen geklettert, er hatte ihr die Hand gereicht, sie geführt, damit ihr nicht schwindelte, und mit einem Gefühl wonnigen Grausens hatte sie tief unter sich das blaue gläserne Meer gesehen und hoch über sich den grauen Felsenfirst mit den tiefgrünen Pinien, die das Blau des Himmels küßten. War sie denn in diesen achtzehn Jahren so alt geworden, daß sie sich diesen Pfad nicht mehr getraute zu gehen? Sie hatte es versucht, aber vergeblich, ein jäher Schwindel hatte sie erfaßt. Die Hand war eben nicht da, die sie so fest, so sicher gestützt hatte. Ach ja, damals waren es bessere Zeiten gewesen, glücklichere!

Käte vergaß ganz, daß sie damals etwas so heiß begehrt hatte, daß sie dadurch sich und ihm manche Stunde getrübt, jeden Genuß vergällt hatte. Jetzt sah sie über den Sohn weg, der neben ihr schlenderte, sah mit weichem Blick, in dem noch ein Strahl verlorener Jugend aufglänzte, in die Ferne – ihr guter Mann, er war so allein! Ob er an sie dachte, wie sie an ihn?!

Am Abend, als Wolfgang sich in sein Zimmer zurückgezogen hatte – was er da trieb, ob er noch aufsaß, las, schrieb oder sich schon niedergelegt hatte, wußte sie nicht – schrieb sie ihrem Mann.

Es war nicht die Länge und Ausführlichkeit des Briefes, die Schlieben so erfreuten – damals aus Franzensbad hatte sie ihm auch lange und ausführliche Briefe geschrieben – er las etwas zwischen den Zeilen. Das war ein unausgesprochener Wunsch, ein Verlangen, eine Sehnsucht nach ihm. Und er beschloß, nun doch noch nach dem Süden zu reisen: man hatte am Ende so lange Jahre miteinander gelebt, daß es wohl zu verstehen war, fühlte der eine Teil ohne den andern sich vereinsamt!

Mit tatkräftigem Eifer wickelte Schlieben seine laufenden Geschäfte ab. In acht Tagen spätestens hoffte er reisefertig zu sein. Aber nichts schreiben, ja nichts vorher schreiben, das sollte einmal eine Überraschung werden!

* * *

Die Mittagssonne in Sestri brannte heiß, aber die Zeit gegen Sonnenuntergang war noch, trotz aller leuchtenden Kraft, angenehm und erquickend. Da strömte jedes Kräutchen Wohlgeruch aus. So viel Balsam, so viel Köstlichkeit in dieser strömenden Duftfülle! Käte fühlte ihr Herz überfließen: Gott sei Dank, noch war sie nicht ganz zermürbt, noch nicht ganz verbraucht, noch besaß sie die Fähigkeit, Schönes zu empfinden! Wenn Paul jetzt hier wäre!

Ganz vorn, hoch oben am äußersten Vorsprung der Küste, umbrandet vom weißen Schaum des sehnsüchtigen Meeres, das gern hinauf möchte zu den Zypressen und Pinien, zu den Steineichen und Erdbeerbäumen, zu den vielen duftenden Rosen liegt der Garten eines reichen Marchese. Hier saßen Mutter und Sohn. Stumm sahen sie nach der Riesensonne, die rot, tief purpurn, dicht über dem Meere hing, das da strahlte in glanzvollem Widerschein, still-andächtig, erwartungsfeierlich in der heiligen Empfängnis des Lichts. Es war eine jener Stunden, jener wunderbaren seltenen Stunden, in denen auch das Stumme beredt wird, das Verschwiegene sich offenbart, in der die Steine schreien.

Käte schrak förmlich zusammen, als sie schaute und schaute: o, da war sie ja, dieselbe riesige rote Sonne, die sie einst hatte versinken sehen in den Wellen des wilden Venns!

Ach, daß ihr dieser Gedanke auch jetzt kommen mußte und sie quälen! Mit scheuer Besorgnis wendete sie rasch ihre Augen zu Wolfgang – wenn der's ahnte?! Aber er saß ganz gleichgiltig auf einem Stein, hatte die Beine übereinandergeschlagen, die Augen halb geschlossen. Von was träumte er?! Sie mußte ihn aufstören.

»Ist das nicht herrlich, großartig, erhaben?!«

»O ja!«

»Sie sinkt – sieh, wie sie sinkt!« Käte war aufgesprungen vom efeuumrankten Pinienstumpf, sie streckte den Finger aus, warm angestrahlt, ganz Begeisterung für dieses purpurne Meer, dieses glanzvolle Licht, das da in solcher Schönheit zu sterben ging. Die Augen wurden ihr naß; sie waren geblendet. Als sie wieder sah, fiel es ihr auf, daß Wolfgang sehr blaß war.

»Frierst du?« Eine plötzliche Kühle wehte vom Meer herauf.

»Nein! Aber ich –« er blickte sie, die dunklen Augen plötzlich groß aufmachend, fest an – »ich möchte was von meiner Mutter wissen. Jetzt kannst du reden – ich höre!«

»Von deiner – deiner –« sie stotterte, das kam ihr zu unerwartet. O weh, die Sonne, die Sonne des Venns! Jetzt hätte sie lieber geschwiegen, sie hatte auf einmal den früheren Mut nicht mehr.

Aber er drängte sie. »Erzähle!« Es lag etwas Gebieterisches in seinem Ton. »Wie heißt sie – wo wohnt sie – lebt sie noch?!«

Mit angstvollen Blicken sah Käte um sich. ›Lebt sie noch?‹ – darauf konnte sie nicht einmal antworten! Aber ja, ja, sicherlich – gewiß – die lebte ja ewig!

Und sie erzählte ihm alles. Erzählte ihm, wie sie ihn aus dem Venn fortgeschafft hatten, mit ihm geflohen waren wie mit einem Raub.

Sie wurde blaß und rot dabei und wieder blaß – o, wie würde er aufbrausen, sich leidenschaftlich erregen! Und ihr zürnen. Hatten sie sich doch nie mehr um seine Mutter gekümmert, seit sie das Venn verlassen hatten, nie mehr! Sie wußte ihm nichts weiter mehr zu erzählen.

Er fragte auch nicht mehr. Er brauste aber auch nicht auf, wie sie gefürchtet hatte; sie hätte es nicht nötig gehabt, sich, als er nun eine Weile stumm blieb, zu verteidigen, sich förmlich zu entschuldigen. Er sah sie freundlich an und sagte nur: »Du hast es gut gemeint, das glaube ich wohl!« –

Als sie vom Park die Treppenstufen zum Ort hinunterstiegen, bot er ihr den Arm. Scheinbar führte er sie, aber sie hatte doch die Empfindung, als sei er es, der der Stütze bedürfe; er ging schwankend. –

Hinter dem Garten des Marchese liegt der Kirchhof von Sestri. Die weißen Marmormonumente leuchteten durch das Abendgrau; gerade über die Parkmauer weg ragten noch die weißen Flügel eines Riesenengels. Käte blickte zurück: wehte es ihnen nicht von dorther nach wie eine Ahnung – oder war es eine Hoffnung?! Sie wußte nicht, ob Wolfgang so empfand wie sie, ob er überhaupt etwas empfand, aber sie drückte seinen Arm fester, und er erwiderte leise diesen Druck. –

In der Nacht nach jenem Abend im Garten der Villa Piuma hörte sie ihn unruhig in seinem Zimmer auf und nieder gehen. Eigentlich hatte sie sich vorgenommen, ihn sich selber zu überlassen – hatte sie sich doch früher allzuviel um ihn gekümmert – aber sie bedachte, daß er noch Patient sei und daß die innere Erregung, in die ihn ihre Erzählung versetzt haben mochte, ihm schaden könnte. Sie wollte bei ihm eintreten, aber seine Tür war verschlossen. Erst auf wiederholtes Klopfen, und als sie ihn inständig bat, ihr zu öffnen, schloß er auf.

»Was willst du?« Es war wieder etwas von dem alten, abweisenden Klang in seiner Stimme.

Aber sie ließ sich nicht abschrecken. »Ich dachte, es wäre dir doch vielleicht lieb, noch – nun, noch darüber zu reden,« sagte sie weich.

»Was soll ich tun?!« Er rief's, rang die Hände und ging wieder mit großen Schritten rastlos im Zimmer auf und ab. »Wenn mir nur einer sagen wollte, was ich jetzt tun soll! Aber das weiß ja keiner! Kann ja auch keiner wissen! Was soll ich tun – was soll ich tun?!«

Bestürzt stand Käte: ach, nun machte er sich solche Gedanken! Sie sah es, er hatte geweint. In sorgendem Mitgefühl hing sie sich an ihn. Was sie lange, ewig lange nicht getan hatte, sie küßte ihn. Und von seinem ›Was soll ich tun?‹ wie von einem gerechten Vorwurf im innersten Herzen erschüttert, bat sie zerknirscht: »Quäle dich nicht! Gräme dich nicht! Wenn du willst, reisen wir hin – wir suchen sie – wir finden sie gewiß!«

Aber er schüttelte den Kopf in heftiger Verneinung und stöhnte: »Das ist ja nun zu spät – viel zu spät! Was soll ich jetzt noch da? Dafür und hierfür« – er machte eine ablehnende Handbewegung – »für alles untauglich! Mutter, Mutter!« Käte mit beiden Armen umschlingend, fiel er schwer vor ihr nieder und preßte das Gesicht in ihr Kleid.

Sie fühlte sein Schluchzen am Zucken seines Körpers, am Krampfen seiner heißen Hände, die ihre Taille umklammerten.

»Wenn ich nur wüßte – meine Mutter – Mutter – ach Mutter, was soll ich tun?!«

Jetzt weinte er laut heraus, und sie weinte mit ihm in mitleidsvoller Teilnahme. Wenn doch nur Paul hier wäre! Sie selber fand kein tröstendes Wort, sie fühlte sich selber so getroffen, sie glaubte an keine Tröstung mehr. Vor ihr stand eingegraben in großen Lettern, wie Inschriften stehen über Kirchhofstüren, die eine peinvolle, qualvolle Frage: ›Wie soll das enden?!‹

* * *

Käte überlegte sich: sollte sie an ihren Mann schreiben: ›Komm!‹ –? Wolfgang war entschieden wieder nicht wohl. Er klagte nicht, er sagte nur, er könne nachts nicht schlafen, und das mache ihn so müde. Nun wußte sie nicht, war es seelisches Leiden, das ihm den Schlaf nahm, oder körperliches. Sie war in einer großen inneren Unruhe, aber sie verschob das Schreiben an ihren Mann doch noch. Warum sollte sie ihn herjagen, ihn die weite Reise machen lassen? Hier war doch nichts zu helfen! Daß sie ihn für sich, für sich selber herwünschte, das war ihr noch nicht klar. Sie unterließ sogar ein paar Tage das Schreiben an ihn ganz.

Wolfgang lag viel auf dem Ruhebett in seinem Zimmer, bei geschlossenen Läden; er las nicht einmal. Sie kam oft zu ihm herein, um ihm Gesellschaft zu leisten – er durfte sich nicht vereinsamt fühlen! – aber es schien ihr fast so, als bliebe er ebensogern allein.

Wenn sie nun über ihr Buch hinweg im Halbdunkel des Zimmers verstohlen nach ihm schaute, konnte sie doch wiederum gar nicht denken, daß er so krank sei. Es war wohl mehr die Unlust an sich selber, eine Schlaffheit des Wollens, die ihn auch körperlich so apathisch machte. Wenn sie ihn nur aufrütteln könnte! Sie schlug ihm alles mögliche vor: Wagenfahrten die Küste entlang, zu all den herrlich gelegenen Nachbarorten; Touren hinauf ins Gebirge – es war ja unbeschreiblich schön, den höchsten Gipfeln der Apenninen so nah, hinabzublicken in die gesegneten Weintäler der cinque terre – Fahrten auf dem Golf, bei denen unterm regelmäßigen Ruderschlag geübter Schiffer das Schiffchen so sanft trägt, daß man kaum die Entfernung vom Lande merkt und doch bald weit draußen auf hoher See schwimmt, auf diesem himmlisch-blauen klaren Meer, dessen Hauch die Seele befreit. Wollte er nicht fischen – es gab ja so entzückende bunte Fischchen hier, die Signorinen und Trillien, die dumm-gefräßig auf jeden Köder beißen –, wollte er nicht auf Fischadler schießen? Sie quälte ihn förmlich.

Aber er wich ihr immer aus: er wollte nicht. »Ich bin heute wirklich zu müde!«

Da ließ sie den italienischen Arzt holen. Aber Wolfgang war ungehalten: was sollte ihm der Quacksalber? Er war so unliebenswürdig gegen den alten Mann, daß Käte sich förmlich schämte. Nun ließ sie ihn gewähren. Was sollte sie ihm denn Liebes tun, wenn er sich nicht Liebes tun lassen wollte?! Sie verzweifelte an ihm. Es drückte sie unsagbar nieder, daß auch die Reise hierher verfehlt schien – ja, sie war es, mit jedem Tage sah sie das mehr ein. Der Reiz der Neuheit, der ihn während der ersten Tage angeregt hatte, war verflogen; nun war's wieder wie vordem. Noch schlimmer.

Denn nun schien ihm die Luft nicht mehr zu bekommen. Wenn sie zusammen spazierten, stand er oft still und schöpfte Atem, wie einer, dem das Atmen sauer wird. Es wurde ihr oft ganz ängstlich dabei: »Laß uns umkehren, dir ist wohl nicht gut?!« Aber diese Atembeschwerden gingen doch immer wieder so rasch vorüber, daß sie sich ihrer übertriebenen Fürsorge wegen, mit der sie sich viele Jahre vergällt hatte, schalt.

Aber in einer Nacht bekam er einen neuen Anfall, schlimmer als die andern Anfälle, die er schon zu Hause gehabt hatte.

Es mochte gegen Mitternacht sein, als Käte, die sanft schlief, eingewiegt vom steten Rauschen des Meeres, durch ein Pochen an der Tür, die ihre beiden Zimmer verband, aufgeschreckt wurde. Und durch ein Rufen: »Mutter, ach Mutter!« Jammerte da nicht ein Kind ?! Schlaftrunken richtete sie sich auf – da erkannte sie seine Stimme.

»Wolfgang, ja, was ist dir?« Erschrocken warf sie ihren Morgenrock über, schlüpfte in die Samtschuhe, öffnete – da stand er vor ihrer Tür, im Hemde, auf bloßen Füßen, zitterte und stammelte: »Mir ist – so schlecht!« Sah sie mit angstvollen Augen flehend an und fiel, ehe sie noch zufassen konnte, ihn zu halten, schon um.

In ihrer Angst riß Käte fast die Klingel ab. Portier und Zimmermädchen kamen. »An meinen Mann, an meinen Mann depeschieren: ›Komm!‹ Rasch, sofort!«

Als der erschrockene Wirt auch erschien, legten sie den Kranken wieder auf sein zerwühltes Bett; der Portier stürmte zu Telegraphenamt und Arzt, das Zimmermädchen schluchzte. Der Hotelier eilte selber in seinen Keller, um vom ältesten Kognak, vom besten Champagner zu holen. Der junge Mensch tat ihnen allen so unbeschreiblich leid; er schien in einer tiefen Ohnmacht zu liegen.

Käte weinte nicht, wie die gutmütige Person, das Zimmermädchen, dem ineinemfort die Tränen über die Backen liefen. Sie hatte zu vieles zu beachten, sie hatte ihre Pflicht zu tun bis zum Schluß. Zum Schluß – jetzt wußte sie's. Es bedurfte nicht des Kopfschüttelns des Arztes, nicht seines geheimnisvollen Flüsterns mit dem Hotelier. Medikamente wurden aus der Apotheke gebracht; man bettete den Kopf des Erkrankten tiefer, die Füße höher, man machte Kampfereinspritzungen – das Herz ließ sich nicht mehr anpeitschen.

Käte verließ ihn nicht; sie stand dicht an seinem Bett. Glorreich hob sich eben draußen das goldene, unbesiegliche, ewige Licht aus den Wellen, da lallte er noch einmal etwas. Sie beugte sich dicht über ihn, so dicht, wie sie es einstmals über den schlafenden Knaben getan, da es sie gedrängt hatte, ihm Odem von ihrem Odem einzuhauchen, ihn für sich umzubilden, Leben aus ihrem Leben. Nun hatte sie diesen Wunsch nicht mehr. Nun gab sie ihn frei. Und wenn sie sich jetzt so nah zu ihm neigte, so hingebend an seinen Lippen hing, so war es nur, um seinen letzten Wunsch zu vernehmen.

»Mut–ter?!« Es klang so fragend. Weiter sagte er nichts mehr. Er öffnete nur noch einmal die Augen, sah suchend um sich, seufzte und verschied. – – –

* * *

Von außen lachte die Sonne herein. Und die Frau, die jetzt am Fenster stand und mit trockenen Augen hinaus in den Glanz sah, in den erquickenden, herrlichen Morgen, der leuchtender war als einer je zuvor, fühlte sich bezwungen von der Kraft der Natur. Die war so groß, so erhaben, so unwiderstehlich – vor der Natur mußte sie sich bewundernd beugen, so umflort auch ihr Blick war. Lange, lange stand Käte sinnend: draußen war das Leben, hier innen war der Tod. Der Tod aber ist der Übel größtes nicht! Mit einem zitternden Aufseufzen wandte sie sich und trat zurück ans Bett: »Gott sei Dank!«

Nun sank sie vor dem Toten in die Kniee, faltete seine kalten Hände und küßte sie.

Sie hörte es nicht, daß leise angepocht wurde.

»Madame!« Das Zimmermädchen steckte den Kopf herein. Und hinter dem Zimmermädchen reckte sich ein Männerkopf.

»Madame!«

Käte hörte nicht.

»Hier ist jemand – der Herr – der Herr ist angekommen!«

»Mein Mann?!«

Schlieben hatte das Mädchen beiseite geschoben und war eingetreten, blaß, hastig, in höchster Erregung: seine Frau, seine arme Frau! Was hatte sie allein durchmachen müssen! Der Junge tot! Man hatte ihn unten damit empfangen, als er ahnungslos ankam, sie beim Morgenkaffee zu überraschen.

»Paul!« Es war ein Aufschrei seligster Überraschung, wahrer Erlösung. Von dem kalten Toten weg flüchtete sie in seine warmen Arme. »Paul, Paul – Wolfgang ist tot!« Nun fand sie Tränen. Nicht endenwollende, strömende und doch so wohltuende Tränen.

All die Bitterkeit schwamm mit ihnen weg, die sie gegen den Sohn in sich getragen hatte, als er noch lebend war. »Armer Junge – unser armer, lieber Junge!« Diese Tränen wuschen ihn rein, so rein, daß er wieder das kleine, unschuldige Jungchen wurde, das im blühenden Heidekraut gelegen und mit blanken Augen in die helle Sonne gelacht hatte. O, hätte sie ihn dagelassen! Diesen Vorwurf, den sie sich selber machen mußte, den wurde sie ja nie wieder los!

»Paul, Paul,« schluchzte sie auf. »Gott sei Dank, daß du da bist! Hast du's geahnt? Ja, du hast es geahnt! Du weißt, wie schrecklich, wie furchtbar mir zumute ist!« Die gealterte Frau umschlang den gealterten Mann mit noch fast jugendlicher Inbrunst: »Wenn ich dich nicht hätte – ach, das Kind, das arme Kind!«

»Weine nicht so sehr!« Er wollte sie trösten, aber auch ihm liefen die Tränen über das gefurchte Gesicht. Da war er nun hergereist in fliegender Hast, von einer jähen Unruhe getrieben – ihre Briefe waren ja ausgeblieben! – er war gekommen, freudig, um sie zu überraschen, und nun fand er's so hier?! Er rang nach Fassung.

»Hätt' ich ihn dort gelassen – ach, hätt' ich ihn dort gelassen!«

Schlieben fühlte seiner Käte die Qual, den Selbstvorwurf nach, aber er wies auf den Toten, dessen Gesicht über dem weißen Hemd seltsam verfeinert, fast edelschön, jung und glatt war und ganz friedvoll, und zog sie mit der andern Hand fester an sich. »Weine nicht! Du hast ihn doch eigentlich erst zum Menschen gemacht – das vergiß nicht!«

»Meinst du –?! Ach, Paul« – in tiefem Schmerz neigte sie das betränte Gesicht – »ich habe ihn dadurch nicht glücklicher gemacht!«

Sie mußte weinen, unaufhaltsam weinen in tiefer Erkenntnis menschlichen Irrens. Zitternd faßte sie ihres Mannes Hände und zog ihn mit sich nieder am Totenbett.

Beider Hände falteten sich vereint über dem verlorenen Sohn. Wie aus einem Munde, in tiefer Reue flüsterten sie:

»Vergib uns unsre Schuld!«

Buchdruckerei Roitzsch, G. m. b. H., Roitzsch.

 


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