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Sie waren übereingekommen, daß Wolfgang nun nicht mehr draußen bei ihnen in der Villa wohnen sollte. Er war zwar noch sehr jung, aber die Zeit zur Selbständigkeit war da, das sahen die Eltern ein. Zwei hübsch möblierte Zimmer wurden gemietet in der Nähe des Geschäfts – Wolfgang sollte jetzt entschieden fleißiger heran – sonst mochte er unbehelligt sein. Dies späte Nachhausekommen, diese verantwortliche Kontrolle – nein, es ging nicht an, daß Käte sich völlig aufrieb! In tiefer Resignation hatte Schlieben diesen Schritt getan.
Und es schien, als sollten wirklich jetzt ruhigere, friedlichere Tage über die Villa Schlieben kommen. Der Winter war da, und der Schnee war eine so weiche, deckende Hülle für manche begrabene Hoffnung.
Wolfgang kam zu Besuch heraus; nicht zu oft, den Vater sah er ja ohnehin täglich im Kontor. Daß es die Mutter doch verlangte, ihn öfter zu sehen, schien er nicht zu ahnen. Sie ließ es ihn auch nicht merken. Sollte sie etwa betteln: ›Komm öfter?!‹ Nein, sie hatte schon allzu viel gebettelt – viele Jahre, fast achtzehn Jahre lang –, und mit Bitterkeit sagte sie sich: ›Verlorene Müh'?‹
Wenn er herauskam, waren sie freundlich miteinander; die Mutter sorgte nach wie vor für tadellose Anzüge, für die bestgeplätteten Oberhemden, für die feinen Batistnachthemden und die hohen Kragen. Daß er oft nicht so aussah, wie er hätte aussehen müssen, war nicht ihre Schuld. Es lag auch vielleicht nicht an seiner Kleidung, es lag vielmehr an seiner abgespannten Miene, seinen müden Augen, an seiner ganzen nachlässigen Haltung; er ließ sich hängen, verbummelt sah er aus.
Die Eheleute sprachen aber nicht miteinander darüber. ›Wenn er nur erst zum Militär käme,‹ dachte Schlieben. Von dem Muß, von der strengen Regelung im Dienst erhoffte er eine Regelung des ganzen Lebens; was sie, die Eltern, mit aller Sorgfalt nicht zuwege gebracht hatten, würde der Drill schon fertig bringen! Zum April sollte sich Wolfgang stellen. Jetzt, zur Winterszeit, hielt er zwar regelmäßiger und gewissenhafter die Kontorstunden ein, aber, aber wie sah er oft morgens aus! Entsetzlich blaß, förmlich fahl. ›Verkatert!‹ Mit einem Kopfschütteln stellte das der Vater fest, aber er sagte nichts zum Sohn darüber; wozu auch, es würde nur eine unangenehme Szene geben, die nichts mehr nutzte, die höchstens nur noch mehr verdarb. Sie standen eben nicht mehr auf gemeinsamem Boden.
Und so ging es weiter, ohne sonderliche Erregung, aber sie litten doch alle drei; auch der Sohn.
Frida glaubte Wolfgang oft eine Verstimmung anzumerken. Zuweilen ging er mit ihr ins Theater, ›was zu lachen‹ mochte sie so gern; aber er lachte nicht mit, lachte selbst dann nicht, wenn ihr die Lachtränen über die Wangen liefen. Sie konnte sich ordentlich darüber ärgern, daß er so wenig Sinn für was Lustiges hatte.
»Amüsierst du dich denn nich?«
»Na, mäßig!«
»Bist du denn krank?« fragte sie ganz erschrocken.
»Nein!«
»Na, was haste denn?«
Dann zuckte er die Achseln, war so abweisend, daß sie ihn nicht weiter ausforschte, ihm nur die Hand drückte und ihm versicherte, sie amüsiere sich köstlich.
Nach und nach versiegten diese Theatereinladungen, die meist so hübsch mit einem Plauderstündchen in irgend einem Bier- oder Weinlokal geendet hatten. Frida sah den Freund überhaupt jetzt selten, nie mehr holte er sie an ihrem Geschäft ab, und in der Wohnung der Mutter ließ er sich auch nicht mehr sehen.
»Wer weeß ooch,« sagte Mutter Lämke, »ob er sich nich bald verloben tut. Er hat jewiß eene uf 'n Kieker!«
Frida warf die Lippen auf, sie schmollte, daß Wolfgang sich gar nicht sehen ließ. Was hatte er bloß?! Sie fing an, ihm nachzuspionieren; aber nicht nur aus Neugier.
Und noch eine andere forschte seinen Wegen nach – das war die Mutter. Wenigstens versuchte sie, ihm nachzuforschen. Aber nur das brachte sie in Erfahrung, daß man ihn einmal in einem der kleinen Theater mit einer hübschen Person gesehen hatte, einer Blondine, die recht auffallend frisiert gewesen war. Ah, das war dieselbe von Schildhorn! Noch immer sah sie das blonde Haar im scheidenden Abendlicht glänzen – die war sein Unheil!
Mit einem Spürsinn, der einem Polizisten Ehre gemacht hätte, forschte die Mutter dem Sohne nach. Hätte Schlieben eine Ahnung davon gehabt, wie oft, zu allen Tages- und Abendzeiten, seine Frau um Wolfgangs Wohnung strich, er wäre dem auf das entschiedenste entgegengetreten. Der brennende Drang, von Wolfgang zu hören, von ihm zu wissen, ließ Käte die eigene Würde vergessen; mehr als einmal ging sie, während sie ihn abwesend wußte, hinauf in seine Wohnung, angeblich, um ihm dieses oder jenes zu bringen. Aber war sie dann allein – die schwatzhafte Wirtin wußte sie sich vom Halse zu halten –, so fuhr sie mit forschenden Augen in beiden Zimmern umher, spähte auf seinen Schreibtisch, wendete sogar jedes Blättchen Papier. Sie kam hier oben gar nicht zur Besinnung ihres Tuns, ging sie aber wieder die Treppe hinab, dann kam ihr das Gefühl eigner Erniedrigung; sie wurde rot und schämte sich vor sich selber und schwor sich's zu mit hundert Eiden, dies nie, nie wieder zu tun. Und tat es doch wieder. Es war ihr eine Qual, und sie konnte es doch nicht lassen.
An einem kalten Wintertag war es – schon Abend, nicht spät für Berliner Begriffe, aber doch immerhin schon Ladenschluß, und Theater und Konzerte hatten längst begonnen – als Frau Schlieben noch in der Wohnung ihres Sohnes saß. Acht Tage war er nicht draußen bei ihr gewesen – warum nicht?! Eine große Unruhe hatte sie heute plötzlich gepackt, sie hatte hin zu ihm müssen. Ihr Mann wähnte sie in der Hauptmann-Premiere – dahin konnte sie ja auch noch später gehen – Wolfgang mußte jetzt doch gleich nach Hause kommen! Auf ihr fragendes Briefchen hatte er geantwortet: er sei erkältet und halte sich abends zu Hause. Nun, sie wollte es ja auch gar nicht, daß er zu ihr hinauskam und sich noch mehr erkältete, aber es war wohl natürlich, daß sie nun einmal nach ihm sah! Sie machte sich selber etwas vor.
Und so wartete sie und wartete. Die Zeit verstrich sehr langsam. Gegen sieben Uhr war sie gekommen, jetzt war es bereits neun. Zum so und sovielten Male hatte sie die beiden Zimmer durchmustert, am Fenster gestanden, zerstreut auf das Straßengewühl herabgeblickt, sich hingesetzt, sich wieder erhoben und wieder hingesetzt. Jetzt ging sie in rastloser Unruhe auf und nieder. Die Wirtin war schon ein paar Mal hereingekommen und hatte sich drinnen zu schaffen gemacht; die neugierig-forschenden Blicke wären Käte sonst lästig gewesen, jetzt achtete sie gar nicht auf diese. Noch konnte sie sich nicht entschließen, fortzugehen – wenn er krank war, warum kam er dann nicht nach Hause?! Ihre Unruhe wuchs. Es lastete auf ihr wie die Vorahnung eines nahenden Unheils. Nun mußte sie aber wirklich die Wirtin fragen – schon zehn Uhr –, kam er denn immer so spät, trotz seiner Erkältung?! Sie klingelte nach der Frau.
Diese kam, innerlich sehr gereizt: warum hatte Frau Schlieben sie denn nicht längst ins Vertrauen gezogen?! Ei, nun konnte die lange warten, die hochmütige Liese!
»Mein Sohn kommt wohl immer spät?« fragte Käte. Ihre Stimme klang gemacht ruhig: sie durfte doch solch eine Frau nicht merken lassen, wie unruhig sie eigentlich war.
»Na,« sagte die Wirtin, »mal so, mal so!«
»Ich wundere mich nur, daß er heute so spät kommt bei seiner Erkältung!«
»So – ist der junge Herr erkältet?«
Wie, die Frau, bei der Wolfgang nun schon fast ein Vierteljahr wohnte, wußte so wenig von ihm?! Und sie hatte doch versprochen, besonders gut für ihn zu sorgen! »Sie müssen ihm abends eine Wärmflasche machen. Es ist kalt hier im Zimmer.« Fröstelnd rieb sich Käte die Hände. »Und bringen Sie ihm morgens vor dem Aufstehen ein Glas Emser mit heißer Milch!«
Die Wirtin hörte sofort den gar nicht ausgesprochenen Vorwurf heraus und wurde noch gereizter. »Na, wenn er überhaupt nich nach Hause kommt, kann ich ihm doch abends keine Wärmkruke machen und morgens keine heiße Milch!«
Wie – gar nicht nach Hause kommt?! Käte glaubte nicht recht verstanden zu haben. Sie sah die Frau mit großen Augen an. »Überhaupt nicht nach Hause kommt!«
Die Frau nickte: »Ich sage Ihnen, werte Dame, möbliert vermieten ist kein Spaß, da muß man vieles mit in Kauf nehmen. So 'ne junge Herrn – na, ich sage schon!« Sie lachte, halb ärgerlich, halb belustigt auf. »Da hatte ich mal einen, der blieb gleich ganze acht Tage weg – der erste war vor der Tür, ich hatte Angst um meine Miete – ich mußte nach der Polizei gehen!«
»Wo war er denn – wo war er denn?!« Kätes Stimme schwankte.
Die Frau lachte: »Na, da fand er sich denn wieder an!« Sie sah die Angst der Mutter, und ihre Gutmütigkeit siegte über ihre Schadenfreude. »Der kommt schon wieder, gnä' Frau,« sagte sie beruhigend. »Sie kommen alle wieder. Haben Sie man keine Angst. Und Herr Schlieben ist ja auch erst zwei Tage weg!«
Zwei Tage weg – zwei Tage?! Zwei Tage war's her, daß er auf ihr Briefchen geantwortet hatte: er sei erkältet und müsse sich zu Hause halten! Wie eine Irre sah Käte um sich, ganz verstörten Blickes. Wo war er denn gewesen, diese ganzen zwei Tage? Nicht hier und nicht bei ihr – o, bei ihr schon seit acht Tagen nicht! Im Geschäft mußte er aber noch gewesen sein, sonst hätte Paul doch darüber gesprochen. Aber wo war er die ganze übrige Zeit? Das waren doch immer nur ein Paar Stunden. Und ein Tag ist lang. Und die Nächte, die Nächte! Herrgott, die Nächte, wo war er die Nächte?!
Käte hätte laut herausschreien mögen, aber die Wirtin sah sie an mit so neugierigen, harten Augen, daß sie, die Nägel der einen Hand in die Innenfläche der andern grabend, sich bezwang. Aber ihr Sprechen war nur ein Flüstern mehr: »Ist er denn seit zwei Tagen gar nicht zu Hause gewesen?«
»Nee, gar nich! Aber warten Sie mal!« Die Lust am Schwatzen machte alle vorgenommene Zurückhaltung der Wirtin zuschanden. Der auf einen Stuhl Hingesunkenen nähertretend und sich auch einen Stuhl heranziehend, schwatzte sie umständlich: »Sonntag war's – nee, Sonnabend merkt' ich schon: der hat was. Ja, das ist einer, ein ganz forscher! Rein verrückt war er!«
»Wieso denn?! ›Verrückt‹, sagen Sie?!«
Die Vermieterin lachte. »Ach, so mein' ich ja gar nich, das müssen Sie nich gleich so wörtlich nehmen, gnä' Frau! Na, ebent so – na, wie soll ich denn schon sagen? – na, so wie sie dann alle sind! Na, und abends ging er dann wie gewöhnlich weg – na, und dann kam er ebent nich mehr zu Hause!«
»Und wie – wie war er –?!« Ruckweise nur stieß die Mutter die Worte hervor, sie konnte gar nicht zusammenhängend mehr sprechen, ein sie plötzlich überfallender Schreck lähmte fast ihre Zunge. »War er – etwa verstört?!« Wie eine Vision tauchte sein fahles Gesicht vor ihr auf, und da bei Schildhorn der verwehte Platz im Sand – mancher Mutter Sohn, mancher Mutter Sohn – Gott, Gott, wenn er sich ein Leides getan hätte! Sie zitterte wie Laub im Sturm und sank ganz in sich zusammen.
Die Wirtin erriet instinktiv der Mutter Gedanken; gutmütig-beruhigend versicherte sie: »Nee, gar nich an zu denken! Der war nich traurig – auch nich grade vergnügt – na, so – so – na, grade so in der richtigen Stimmung!«
»Und Sie – ach, können Sie mir nicht einen – einen Wink geben – wo – wo er hin – sein könnte?«
Die Frau wiegte zweifelnd den Kopf: »Wer kann das wissen! Sehen Sie, gnä' Frau, der Versuchungen gibt's gar viele. Aber, warten Sie mal!« Sie kniff die Augen zu und dachte nach. »Da kam mal vor einiger Zeit immer so'n hübsches Mädchen her, sie holte ihn immer ab, sie sagte ›zum Theater‹ – na, es kann ja auch wahr gewesen sein! Oft kam sie, sehr oft – mindestens einmal die Woche! Blond war sie, wirklich 'n hübsches Mädchen!«
»Blond – ganz hellblond – viel Haar, wellig über den Ohren?!«
»Ja ja, so war sie frisiert, über die Ohren gekämmt, hinten 'nen mächtigen Knoten – so recht auffallend hellblond! Und sie duzten sich!«
Blondes Haar – auffallend blond! Ah, das hatte sie damals gleich gewußt, als sie ihn in Schildhorn sah mit der Blonden! Wie eine Erleuchtung kam es über Käte. »Sie – wissen wohl nicht – ach, wissen Sie vielleicht, wie sie heißt?«
»Er sagte ›Frida‹ zu ihr!«
»Frida?!«
»Ja, Frida! Das weiß ich bestimmt. Nu kommt sie aber nich mehr. Vielleicht aber, daß er 'nen Brief von ihr gekriegt hat. Ich will mal nachsehen, warten Sie mal!« Und die Frau bückte sich, zog unterm Schreibtisch den Papierkorb vor und fing an darin zu wühlen.
»Er schmeißt nämlich allens in den Papierkorb,« sagte sie erklärend.
Freilich, da hatte sie noch nicht gesucht! Mit starren Augen sah Käte zu, wie die Frau mit geübten Fingern alle Papierblätter wendete. Plötzlich schrie die auf: »Na, sehen Sie, da haben wir's!« Und vor die Mutter legte sie triumphierend ein paar Papierfetzen auf den Tisch: »Da is 'n Brief von ihr. Sehen Sie! Ich kenne die Schrift. Woll'n mal sehen!«
Beide Frauen, die Köpfe zusammensteckend, versuchten, die einzelnen Stücke des zerrissenen Briefes zusammenzufügen; es gelang aber nicht, es fehlte zu viel, nur ein paar Sätze waren halb zusammen zu bringen.
›nicht mehr kommst –
böse mit mir –
nächstens zu dir abends 'rauf –
immer deine‹
Doch da, halt, da war die Unterschrift! Die war nicht durchrissen, groß und zusammenhängend stand sie unten auf dem Briefbogen:
immer
Deine Frida Lämke!
»Frida Lämke –?!« Käte schrie laut auf vor Überraschung. Frida Lämke – nein, das hätte sie nie gedacht – oder gab es vielleicht zwei gleichen Namens? Dieses blonde Kind, das einst bei ihr im Garten gespielt hatte?! Aber ja, ja, dreiste Augen hatte die immer gehabt!
»Sie kennen die wohl?« fragte die Wirtin, und die Augen funkelten ihr vor Neugier.
Käte gab keine Antwort. Vor sich hinbrütend stierte sie auf den Teppich: war das nun schlimmer – oder war das weniger schlimm? Konnte es nun nicht noch verhindert werden, nun, da sie die Fährte hatte, oder war alles verloren?! Sie wußte es nicht; verständig überlegen konnte sie überhaupt nicht mehr, nicht einmal mehr denken. Sie hatte nur den Trieb: hin, hin zu den Lämkes! Nur hin, so rasch wie möglich hin! Aufspringend sagte sie hastig: »Schon gut, schon gut – danke! Ah, es ist alles in Ordnung!« Und an der verdutzten Frau vorübereilend, hastete sie zur Tür und die Treppe hinunter. Gerade öffnete unten jemand von außen die verschlossene Haustür; so kam sie hinaus.
Nun war sie auf der Straße. So ganz allein hatte sie um diese Zeit noch nie auf der Friedrichstraße gestanden; ihr Mann hatte sie immer begleitet, und war sie einmal allein ins Theater oder Konzert gegangen, hatte er sie immer selber abgeholt oder mindestens von Friedrich abholen lassen. Nun kam sie's plötzlich wie eine Furcht an, trotzdem die schöne Straße taghell erleuchtet war.
So viele Männer, so viele Frauen! Wie ein Strom flutete es an Käte vorüber, sie wurde mitgerissen. Gleich Wellen umwogten sie Gestalten – raschelnde Frauenröcke, die stark nach Parfüm dufteten, und Herren, Männer, junge und alte, Greise und Jünglinge und kaum dem Knabenalter Entwachsene. Das war ja hier wie ein Korso – was suchten die hier alle?! Das war also das vielgerühmte und amüsante Nachtleben Berlins? Schrecklich war es, o, über alle Maßen abscheulich!
Alles sah Käte auf einmal nur aus dem einen Gesichtspunkt. Bisher war sie ja blind gewesen, ahnungslos wie ein Kind. Der Helm eines Schutzmanns tauchte auf. Sie floh dahin wie eine Gejagte: der konnte ja nicht sehen, daß sie graue Haare hatte, und daß sie eine Dame war! Der hielt sie vielleicht auch für eine solche, für eine von denen hier! Nur fort, fort!
Sie stürzte sich in eine Droschke, sie fiel mehr in den aufgerissenen Schlag, als daß sie hineinstieg. Mit zitternder Stimme nannte sie dem Kutscher ihre Adresse. Eine glühende Sehnsucht überkam sie plötzlich: nach Haus, nur nach Haus! Heim in ihr reinliches, geordnetes Haus, in die Mauern, die wie ein Schutz sie umgaben! Nein, er durfte nicht mehr herein in ihr reines Haus, seinen Schmutz nicht mit in dessen Räume tragen!
Ganz in eine Ecke geschmiegt, die zuckenden Lider krampfhaft zugepreßt, machte sie die weite Fahrt; heute kam ihr die schier endlos vor. Wie langsam fuhr die Droschke! Ach, was würde Paul sagen, er würde sich ängstigen, daß sie so spät kam!
Und Käte wünschte plötzlich, sich in die Arme ihres Mannes zu flüchten, Schutz zu suchen an seiner Brust. Daß sie gleich hatte zu Lämkes hingehen wollen, hatte sie ganz vergessen. Wie konnte sie auch, es war ja bald Mitternacht, und wer weiß, vielleicht traf sie da auch nur eine Mutter, ebenso unglücklich wie sie selber es war?! Verlorene Kinder – ach, man weiß nicht, was schrecklicher ist: verlorener Sohn – verlorene Tochter?!
Käte weinte bitterlich. Aber als die Tränen unter ihren geschlossenen Lidern sich vorstahlen und über ihre Wangen rannen, wurde sie ruhiger. Nun, da sie den großen Zug der Straße nicht mehr sah, ihr nächtliches Wehen nicht mehr spürte, schwand ihre Furcht. Der Mut wuchs ihr wieder; und mit dem gestärkten Mut wuchs ihr eine Erkenntnis: sie war eben nur eine schwache und ängstliche Frau, er aber war doch ein rüstiger Junger, der ein Mann werden sollte, ein starker Schwimmer. Noch brauchte man nicht ganz zu verzweifeln!
Als die ersten Kiefern der stillen Kolonie rechts und links an ihr vorüberglitten und der Mondschein ihr auf den Ästen ein reines Weiß zeigte, hatte Käte ihren Entschluß gefaßt: morgen würde sie zu Lämkes gehen und würde mit der Mutter sprechen, und ihrem Manne würde sie vorderhand noch nichts sagen. Dieselbe Scheu, die sie jetzt so oft verstummen ließ vor ihm, kam sie jetzt wieder an: er würde ja doch nicht so empfinden, wie sie empfand. Mit rauher Hand vielleicht würde er den Sohn anfassen, und das durfte nicht sein; noch war sie da und berufen, mit linder Hand dem Strauchelnden zu helfen!
Ganz ruhig schritt Käte ihrem Manne entgegen, so gelassen, daß er ihr nichts anmerkte. Aber als sie am nächsten Tag den Weg zu Lämkes antrat, klopfte ihr Herz doch wieder so zitternd-unruhig wie vordem. Den ganzen Morgen hatte sie gegen Scheu und Kleinmut gerungen; nun war es darüber fast Mittag geworden. Paul hatte ihr beim Frühstück erzählt, daß Wolfgang gestern gar nicht ins Geschäft gekommen, nachdem er den Tag vorher auch nur ganz kurz dagewesen sei. »Ich weiß nicht, was mit dem Jungen los ist,« hatte er gesagt. »Ich bin zu ärgerlich auf ihn. Aber man müßte sich doch wohl mal um ihn kümmern!« »Das werde ich auch,« hatte sie darauf geantwortet.
Die Füße trugen sie kaum, als sie langsam ihren Weg schlich, zuletzt aber lief sie fast: er war doch ihr Kind lange, lange Jahre gewesen, und sie hatte einen Teil der Verantwortung! Sie fragte sich jetzt nicht mehr, wie sie eigentlich bei Frau Lämke die Unterredung beginnen sollte, sie hoffte, daß der Augenblick ihr das rechte Wort geben werde.
So tappte sie die dunklen Stufen zu Lämkes Portierwohnung hinab und klopfte und trat zugleich ein, ohne das Herein abgewartet zu haben.
Frau Lämke wischte gerade den Boden auf, der Schrubber entfiel ihrer Hand, geschwind ließ sie ihr rundum hochgenommenes Kleid herab: die gnädige Frau, die Frau Schlieben?! Was wollte die denn bei ihr?! Das blasse, mager gewordene Gesicht mit den harmlosen Augen blickte die Eintretende völlig verdutzt an.
»Guten Tag, Frau Lämke,« sagte Käte ganz freundlich. »Ist Ihre Tochter Frida zu Haus? Ich muß sie sprechen!«
»Nee, Frida is nich zu Hause!« Die Lämke blickte noch verdutzter: was wollte die gnädige Frau denn von Frida? Um die hatte sie sich noch nie gekümmert! »Frida is ins Jeschäft!«
»So? Wissen Sie das ganz genau?«
Es lag etwas Anzügliches in dieser Art des Fragens, aber Frau Lämke merkte nichts in ihrer Harmlosigkeit. »Frida is immer noch nich aus's Jeschäft ßurück um die Zeit, aber in 'ne kleine halbe Stunde kann se woll hier sein. Se hat zwei Stunden Mittag; Abend kommt se erst jejen zehne, denn um neune machen se man erst ßu. Aber wenn se nach Tische mal bei die gnädige Frau vorkommen soll,« – Frau Lämke war zu neugierig: was wollte die bloß von Frida? – »recht jerne!«
»Sie kommt in einer halben Stunde, sagen Sie?«
»Jawoll! Es pressiert ihr immer sehr, daß se bei Muttern kommt – un denn der Hunger!«
»Wenn Sie gestatten, werde ich auf sie warten,« sagte Käte.
»Bitte, nehmen Sie jefälligst Platz!« Eilfertig wischte Frau Lämke mit ihrer Schürze über einen Stuhl: das war doch immerhin eine Ehre, daß Wolfgangs Mutter zu Frida hier in den Keller kam! Und mit einer Stimme, der man den herzlichen Anteil anmerkte, fragte sie: »Wie jeht's denn dem jungen Herrn, wenn ich fragen darf, is er denn recht munter?«
Käte blieb die Antwort schuldig: das war denn doch eine zu große Frechheit, eine ganz unglaubliche Frechheit! Wie konnte die nur so unverfroren fragen?! Aber dann kam ihr auf einmal ein Zweifel: wußte die denn überhaupt etwas? Sie sah in die harmlosen Augen. Diese hier war wohl auch hintergangen, wie sie hintergangen worden war! Sie hatte nicht das Herz, ein aufklärendes Wort zu sprechen – arme Mutter! So nickte sie nur und sagte ausweichend: »Danke!«
Sie schwiegen, beide in einer gewissen Verlegenheit. Frau Lämke schälte Kartoffeln zum Mittag und setzte sie auf und warf ab und zu einen verstohlenen Blick auf die wartende Dame. Käte war blaß und gähnte verstohlen, ihrer Aufregung war eine ungeheure Abspannung gefolgt. Sie wartete ja vergeblich! Und diese Mutter hier würde heute auch vergeblich warten! Das Mädchen, diese heuchlerische Kreatur, kam ja nicht! Wie Wut packte es Käte, wenn sie an des Mädchens blondes Haar dachte. Das hatte ihren Jungen verführt, ihn umstrickt – nun kam er vielleicht nicht mehr los! ›Immer deine – deine Frida Lämke‹ – ein Schmollen war in dem Brief gewesen, wahrscheinlich hat er sich zurückziehen wollen, aber – ›wenn du nicht kommst, komme ich zu dir‹ – o, die würde sich wohl hüten, ihn loszulassen, die hielt fest!
Käte glaubte nicht mehr daran, daß Frida Lämke nach Hause kommen würde. Es ging schon auf zwei Uhr: die Mutter log, die steckte vielleicht doch mit unter der Decke!
Aber jetzt fuhr Käte zusammen, ein Tritt ließ sich auf der Kellertreppe vernehmen, bei dem die Mutter erfreut sagte: »Das 's Frida!«
Draußen trällerte ein Liedchen – nun ging die Tür auf.
Frida Lämke trug jetzt statt des kleinen Matrosenstrohhutes ein dunkles Pelzbarett auf den blonden Haaren; der Pelz war unecht, aber sie hatte ein paar Taubenflügel an der Seite stecken, und das Mützchen saß ihr schick über dem kecken Gesicht.
In höchster Erregung stand Käte; sie war aufgesprungen und sah das Mädchen an mit brennenden Augen. Da war sie – wahrhaftig – doch gekommen! Die war hier – aber Wolfgang, wo war der?! Sie schrie förmlich das Mädchen an: »Wissen Sie, wo mein Sohn ist – Wolfgang – Wolfgang Schlieben?!«
Der überraschten Frida rosiges Gesicht wurde blaß. Sie wollte etwas sagen, stotterte, stockte, biß sich dann auf die Lippen und wurde dunkelrot. »Woher soll ich das wissen? Ich weiß doch nicht!«
»Sie wissen es wohl! Lügen Sie doch nicht!« Mit Heftigkeit faßte die Frau Frida bei beiden Armen. Ins blonde Haar hätte sie ihr greifen mögen und beim Dranreißen laut schreien: ›Mein Junge! Gib mir meinen Jungen wieder!‹ Aber sie fand nicht die Kraft, diese schlanken Mädchenarme so lange zu schütteln und zu rütteln, bis ein Bekenntnis herausgezwungen war.
Die blauen Augen Fridas hatten sie ganz offen angesehen, vollständig freimütig, wenn auch eine leise Unruhe in dem Blicke lag. »Ich habe ihn lange nicht jesehen, jnädige Frau,« sagte Frida ehrlich. Und dann ward ihr Ton leiser, eine gewisse Besorgnis lag darin: »Sonst kam er wohl, aber jetzt kommt er jar nich mehr – nich wahr, Mutter?!«
Frau Lämke schüttelte den Kopf: »Nee, jar nich mehr!« Ihr war gar nicht recht wohl zumute, das kam ihr alles so seltsam vor: Frau Schlieben hier im Keller, und was wollte die denn von Frida?! Da ging was vor, da war was nicht richtig! Aber was auch immer sein mochte, ihre Frida war unschuldig, das mußte Frau Schlieben wissen! Und so faßte sie sich denn ein Herz: »Wenn Sie etwa jlauben, jnädige Frau, daß da meine Frida mittenmank is, da irren Se sich aber! Meine Frida jeht schonst lange mit dem Flebbe – Hans Flebbe, dem Sohn vom Kutscher, er is nu Matrialist – un überhaupt, Frida is 'n anständijet Mächen – was denken Sie wohl von meiner Tochter? Herrje, det 's aber immer so, 'n Mächen aus unserm Stande, die kann ja nich anständig sein, nee!« Die gekränkte Mutter wurde jetzt geradezu ausfallend. »Meine Frida war 'ne sehr jute Freundin von Ihren Wolfjang, un ich bin ihn ja ooch janz jut – als ich in 'n Sommer so elend war, hat er mir doch fufzig Mark jeschickt, daß ich konnte nach Fangschleuse ßiehn, drei Wochen, un mir erholen – aber nu soll er mir mal wieder kommen, 'raus schmeiß ich ihn, den Bengel!« In ihrer unbestimmten Angst, daß man ihrer Frida etwas nachsagen könnte, wurde ihr blasses Gesicht heiß und rot.
Frida flog auf sie zu und faßte sie mit einem Arm um die Schultern: »Ärjere dich doch nich, Mutter! Du sollst dich doch nich aufregen, sonst schlägt's dir wieder auf 'n Magen!«
Frida wurde jetzt ganz energisch; ihre Mutter noch immer um die Schultern gefaßt haltend, drehte sie den blonden Kopf nach Frau Schlieben: »Jnädige Frau, da müssen Sie sich schon an 'ne andre Adresse wenden. Ich kann Ihnen nichts über Ihren Herrn Sohn sagen. Mutter un ich haben noch neulich drüber jesprochen, daß er nu jar nich mehr kommt. Un ich habe ihm noch jerade 'n Briefchen jeschrieben, er soll uns doch mal besuchen – weil ich ihn doch ewig nich jesehen hatte und – und – na, weil er doch sonst jerne mit mir zusammen war! Aber er hat mir jar nich drauf jeantwortet. Ich habe ihm doch nischt jetan! Er hat sich aber ebent sehr verändert!« Sie setzte eine altkluge Miene auf: »Jnädige Frau, ich jlaube, es wäre doch besser, wenn er noch bei Ihnen wohnte!«
Käte sah sie starr an: was ahnte die – was wußte die – wußte die überhaupt etwas?! Zweifel stiegen in ihr auf, und dann kam ihr die Gewißheit: dieses Mädchen hier war harmlos, sonst hätte es so nicht sprechen können! Die Abgefeimteste konnte so treuherzig nicht dreinblicken! Und sie gestand es ja auch ganz von selber offen ein, daß sie neulich an Wolfgang geschrieben hatte – nein, so schlecht war die hier nicht, eine andere mit blondem Haar mußte es sein! Aber wo war die zu suchen – wo, wo Wolfgang zu finden?!
Und die Hände wie abbittend gegen das Mädchen hebend, sagte sie in einem jammervollen Ton: »Aber wissen Sie denn gar nicht, haben Sie denn gar keine Ahnung, wo er hin sein könnte? Gestern waren es zwei Tage, daß er fort ist – verschwunden – ganz verschwunden, seine Wirtin weiß nicht, wohin!«
»Ganz fort – seit zwei Tagen schon?!« Frida riß die Augen weit auf.
»Ich sagte es Ihnen ja schon – darum frage ich Sie ja – er ist fort, ganz fort!«
Eine wilde Ungeduld kam über die Mutter, und zugleich die ganze Erkenntnis ihrer peinvollen Lage, sie schlug die Hände vors Gesicht und stöhnte laut auf.
Mutter und Tochter Lämke wechselten mitleidsvolle Blicke. Frida wurde blaß und rot, es war, als ob sich ihr etwas auf die Lippen drängen wollte, aber sie schwieg doch.
»Schlecht is er aber doch nich, nee, schlecht is er nich,« flüsterte Frau Lämke.
»Wer sagt, daß er schlecht ist?!« Käte fuhr auf, ließ die Hände vom Gesicht sinken; der ganze Gram langer Jahre und die ganze Hoffnungslosigkeit lag in ihrem Ton: »Verführt ist er, verirrt, – verloren, verloren!«
Frida weinte laut heraus: »Ach, sagen Sie das nich! Er findet sich wieder an, er findet sich jewiß wieder an! Wenn ich nur –« sie stockte und zog die Stirn zusammen im Nachdenken – »sicher wüßte!«
»Helfen Sie mir! Ach, können Sie mir nicht helfen?!«
Frau Lämke schlug bei diesem ›Helfen Sie mir‹ der armen Frau die Hände zusammen und zitterte vor Erregtheit: wenn eine das an ihrem Kind erleben muß, an einem Kinde, das sie mit Schmerzen geboren hat! Allen Respekt außer acht lassend, wankte sie auf Käte zu und faßte deren kalte, schlaff herunterhängende Hand: »Jotte doch, es tut mir so leid, so schrecklich leid! Aber trösten Se sich man! Wissen Se, 'ne Mutter hat doch so 'ne Kraft, so was janz Besonderes, 'n Kind verjißt ihr doch nie janz!« Und sie lächelte in einer gewissen Sicherheit.
»Er ist ja nicht mein Sohn – mein eigner Sohn nicht – ich bin ja gar nicht seine wirkliche Mutter!« Was Käte noch nie eingestanden hatte, jetzt gestand sie es ein. Die Angst preßte ihr's heraus und die Hoffnung, daß diese Frau hier sagen würde: ›Auch solch eine Mutter wird nicht vergessen, sicher nicht!‹
Aber Frau Lämke sagte das nicht. Zweifelnd sah sie drein und schüttelte den Kopf: daran hatte sie eben für einen Augenblick gar nicht gedacht, daß die ja Wolfgangs richtige Mutter garnicht war!
Trübes Schweigen war im Raum. Nur ein zitterndes Atmen war vernehmbar, bis endlich Frida, mit ihrer hellen Stimme die lähmende Stille durchbrechend, fragte: »Sind Sie denn heute auch schon bei der Wirtin jewesen?! Nee!?« Käte hatte stumm verneint. »Na, denn, jnädige Frau – gestern waren's zwei Tage, sagen Sie? – denn kann er aber doch heute wieder jekommen sein! Man muß doch mal wieder nachfragen! Soll ich mal rasch hinjehn?!«
Und schon war sie an der Türe, hörte gar nicht, daß die Mutter ihr nachrief: »Frida, Frida, doch man erst 'n Happen essen, du hast ja noch jar nich Mittag jejessen!« sondern lief die Kellerstufen hinan in gutmütiger Hast und mitleidsvoller Teilnahme.
Käte lief hinter ihr drein. –
Aber sie erhielten in der Friedrichstraße keine andre Auskunft. Die Zimmer waren zwar geheizt, Staub gewischt, sogar der Frühstückstisch gedeckt, als sollte der junge Herr jeden Augenblick eintreten – die Wirtin erhoffte ein besonderes Lob ihrer Fürsorge –, aber der junge Herr war wieder nicht erschienen.
* * *
Käte Schlieben lag krank. Der Sanitätsrat zuckte die Achseln: da war nicht viel zu machen, es war eine vollständige Apathie. Wenn nur etwas käme und sie aufrüttelte, etwas, für das es ihr verlohnen würde, sich aufzuraffen, dann würde es schon wieder werden! Vorderhand verordnete er Kräftigungsmittel – der Puls war ja so schlecht – alle Stunden einen Teelöffel Puro, Fleischgelee, Eier, Milch, Austern und dergleichen.
Am Bett seiner Frau saß Schlieben, er war eben aus der Stadt nach Hause gekommen. Nun saß er da, den Kopf gesenkt, die Stirn in Falten gezogen.
»Noch immer nichts von ihm – was sagte die Frau – gar nichts von ihm?« hatte Käte eben mit verlöschender Stimme geflüstert.
Er sagte nur: »Wir werden uns nun doch an die Polizei wenden müssen!«
»Nein, nein, nicht an die Polizei! Ihn suchen lassen, wie einen Verbrecher?! Du bist schrecklich, Paul! Schweig doch, Paul!« Ihre anfänglich so schwache Stimme war fast schreiend geworden.
Er zuckte die Achseln: »Es wird uns nichts übrig bleiben,« und blickte bekümmert sie an und dann stumm vor sich nieder.
Ihm war, als könne er sein Unglück nicht übersehen, als sei das ganz unüberblickbar. Acht Tage waren es nun her, daß Wolfgang fort war – schrecklich, schrecklich, was dieser Mensch ihnen für Sorgen machte! Aber größere Sorgen machte ihm seine Frau. Wie sollte das enden?! Diese gesteigerte Nervosität war gefährlich; und dabei auch dieser Kräfteverfall! Käte war nie eine Riesin gewesen, aber nun wurde sie so dünn, so mager; in den acht Tagen war ihre Hand, die da so matt auf der Decke lag, geradezu durchsichtig geworden. Ach, und ihr Haar so grau!
Mit traurigen Blicken suchte der Ehemann im Gesicht seiner Frau die einstige Schönheit: zu viel Falten, zu viel eingegrabene Linien, Furchen, die der Pflug des Grams gezogen hatte! Er mußte weinen; das kam ihm doch zu hart an, sie so zu sehen. Den Kopf von ihr abwendend, beschattete er die Augen mit der Hand.
So saß er stumm und rührte sich nicht, und sie rührte sich auch nicht, lag, als ob sie schliefe.
Da klopfte es. Erschrocken sah Schlieben nach der Kranken hin: war sie nun gestört worden? Aber sie hob die Lider nicht.
Auf den Zehen ging er zur Tür und öffnete. Friedrich brachte die Post, allerhand Briefe und Zeitungen. Nur aus Gewohnheit griff Schlieben danach, es interessierte ihn jetzt alles so wenig. Die ersten paar Tage nach Wolfgangs Verschwinden hatte Käte immer gezittert, es möchte etwas von ihm in der Zeitung stehen, die schrecklichsten Befürchtungen hatten sie gequält; jetzt fragte sie nicht mehr. Aber nun zitterte der Mann tief im Innern, obgleich er sich selber hart zu machen strebte: was würde man noch erleben müssen?! Keine Zeitung faßte er an, ohne eine gewisse Scheu.
»Knittere doch nicht so unerträglich,« sagte die schwache Frau gereizt. Da erhob er sich, um aus dem Zimmer zu schleichen – es war besser, er ging, sie mochte seine Nähe nicht! Doch sein Blick fiel auf einen der Briefe. Was war denn das für eine unausgeschriebene, noch schulmäßige Handschrift? Wohl ein Bettelbrief? Er war an seine Frau gerichtet, aber sie machte ja jetzt keine Briefe auf; dazu drängte es ihn förmlich, diesen, gerade diesen Brief zu öffnen. Es war nicht Neugier, ihm war, als müsse er es tun.
Er öffnete den Brief, rascher, als es sonst seine Art war. Das hatte eine Frau geschrieben, ein Mädchen sicherlich – es waren ganz unausgeprägte, finzlige Buchstaben. Und das Bestreben war auffällig, die Handschrift zu verstellen.
›Wenn Sie was über Ihren Sohn erfahren wollen, müssen Sie Puttkammerstraße gehn, 140, und aufpassen, drei Treppen hoch im Hof, Seitenflügel links, wo Knappe an der Klingel steht. Da wohnt sie!‹
Eine Namenunterschrift war nicht vorhanden, nur: ›Eine gute Freundin‹ – stand darunter.
Schlieben hatte das Gefühl, als brenne ihm das Papier die Finger – geringes Papier, aber zartrosa und nach parfümierter, billiger Seife riechend – ein anonymer Brief, pfui! Was sollte ihnen der Wisch?! Schon wollte er ihn zusammenknittern, da rief Kätes Stimme vom Bett her: »Was hast du da, Paul? Einen Brief? Zeig mal her!«
Und als er sich ihr nur langsam, zögernd näherte, richtete sie sich auf und riß ihm den Brief aus der Hand. Sie las und schrie laut auf: »Den hat die Lämke geschrieben! Ich bin sicher, er ist von ihr. Sie wollte ihn ja suchen – und ihr Bruder, ihr Bräutigam – sie werden ihn gefunden haben! Puttkammerstraße – wo ist die? 140, da müssen wir hin! Gleich, sofort! Klingle dem Mädchen! Meine Schuhe, meine Sachen – ach, ich kann ja gar nichts finden! So klingle doch! Sie soll mich frisieren – ach, laß nur, ich kann ja schon alles allein!«
Sie war aus dem Bett gesprungen in zitternder Hast; nun saß sie schon vor dem Toilettentisch und kämmte selber ihr langes Haar. Es war verwirrt vom Bettliegen, aber sie riß den Kamm hindurch mit unbarmherziger Eile.
»Daß wir nicht zu spät kommen! Wir müssen uns eilen. Da ist er sicher, da ist er ganz sicher! Was stehst du noch und siehst mich so an? Mach dich doch fertig! Ich bin gleich fertig, wir können gleich gehen. Paul, lieber Paul, wir werden ihn da gewiß finden – o Gott!« Sie faßte um sich, von einem Schwindel der Schwäche ergriffen, aber ihr Wille überwand die Schwäche. Nun stand sie ganz fest auf den Füßen.
Niemand würde es glauben, daß sie eben noch wie eine ganz Hilflose dagelegen hatte! Schlieben wagte es nicht, ihr zu widerstreben: was sollte auch noch Schlimmeres kommen?! Schlimmer, wie es jetzt gewesen war, konnte es nicht mehr werden, und wenigstens konnte sie ihm dann nicht mehr vorwerfen, er hätte den Jungen nicht lieb gehabt!
Als sie nach kaum einer halben Stunde den Wagen bestiegen, den Friedrich herbeitelephoniert hatte, war sie weniger blaß und sah weniger alt aus als er.