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Der Gemeindevorsteher des kleinen Venndorfs war einigermaßen verwundert und verlegen, als so feine Herrschaften bei ihm vorfuhren und ihn zu sprechen wünschten. Durch die Jauche seines Hofes, die ihm bis an die Kniee spritzte, ging er ihnen entgegen. Er wußte nicht, wo er sie hineinführen sollte, denn drinnen waren die Ferkel und das Kälbchen, und die alte Sau wälzte sich vor der Tür.
So gingen sie mit ihm auf der stillen Dorfstraße, von der die wenigen Gehöfte noch abseits liegen, auf und ab, während der Wagen langsam in tief ausgefahrenen Geleisen hinter ihnen dreinholperte.
Käte war blaß, ihren Augen sah man's an, daß sie wenig Schlaf gefunden hatten. Jedoch sie lächelte, und eine erwartungsvoll-freudige Spannung war in ihren Zügen, sprach aus ihrem Schritt; immer war sie den andern ein wenig vorauf.
Schliebens Gesicht war sehr ernst. War es nicht eine große Unbedachtsamkeit, eine grenzenlose Übereilung, die er jetzt beging, seiner Frau zuliebe?! Wenn es nun nicht zum guten ausschlug?!
Es war eine böse Nacht gewesen. Seltsam stumm und wie geistesabwesend hatte er gestern Käte von der Baraque nach Hause gebracht, sie hatte nichts gegessen, und, große Ermüdung vorgebend, sich früh zur Ruhe gelegt. Aber als er, ein paar Stunden später, sein Lager aufsuchte, fand er sie noch nicht eingeschlafen. Sie saß aufrecht im Bett, ihr schönes Haar, das sie zur Nacht in zwei Zöpfe flocht, hing ihr lang herunter und gab ihr so das Aussehen einer ganz jungen Frau. Aus verstörten Augen sah sie ihn seltsam verlangend an, und dann schlang sie beide Arme um seinen Hals und zog seinen Kopf zu sich herunter.
Sie war so eigentümlich gewesen, so weich und doch so heftig, er hatte sie besorgt gefragt, ob ihr etwas fehle, aber sie hatte nur den Kopf geschüttelt und ihn in stummer Liebkosung fest umfaßt.
Er glaubte sie endlich eingeschlafen – sie schlief auch, aber nur ganz kurze Zeit – da war sie mit lautem Schrei schon wieder erwacht: sie hatte geträumt, so lebhaft geträumt – o, wenn er wüßte, was sie geträumt hatte! Geträumt – geträumt –! Sie seufzte und warf sich und lachte dann leise in sich hinein.
Er merkte wohl, daß sie etwas auf dem Herzen hatte, was sie ihm gern sagen wollte, und was sie sich doch nicht recht zu sagen traute. So fragte er sie.
Da hatte sie es ihm denn gestanden, stockend, schüchtern und doch mit einer Leidenschaftlichkeit, die ihn erschreckte: es war das Kind, an das sie immerfort dachte, immerfort denken mußte – ach, wenn sie das hätte! Das wollte sie haben, mußte sie haben! Die Frau hatte ja noch so viele Kinder, und sie – sie hatte keins! Und sie würde doch so glücklich mit ihm sein, ja, unsäglich glücklich!
Im Dunkel der Nacht, durch kein Wort von ihm unterbrochen, durch keine Bewegung – er hatte ganz still gelegen, fast wie gelähmt von der Überraschung, die doch nicht ganz eine Überraschung mehr war – hatte sie sich immer mehr gesteigert: was war ihr ganzes Leben? Eine immerwährende Sehnsucht! Alles, was er ihr an Liebe tat, konnte ihr doch das eine nicht ersetzen: ein Kind, ein Kind!
»Lieber, guter Mann, schlag's mir nicht ab! Mach mich glücklich! So froh wird keine andre Mutter auf Erden sein – geliebter Mann, gib mir das Kind!« Ihre Tränen flossen, ihre Arme umklammerten ihn, ihre Küsse überschauerten sein Gesicht.
»Aber warum gerade dieses Kind?! Und so schnell entschlossen – das ist doch keine Kleinigkeit – man muß sich das erst sehr reiflich überlegen!«
Er hatte Einwendungen gemacht, Ausflüchte, aber sie hatte für alles schlagfertige Antworten bereit: was noch lange überlegen? Man würde doch zu keinem andern Resultat kommen! Und wie er nur denken konnte, daß die Frau das Kind vielleicht nicht geben würde? Wenn sie's nicht liebte, gab sie's gern, und wenn sie es liebte, würde sie es erst recht gern geben und Gott danken, es so gut versorgt zu wissen.
»Aber der Vater, der Vater, wer weiß, ob der damit einverstanden ist?!«
»Ach, der Vater! Wenn die Mutter es gibt, der Vater sicherlich! Ein Brotesser weniger ist bei so armen Leuten immer ein Glück. Das arme Kind, es wird vielleicht sterben aus Mangel an Nahrung, während es bei uns so gut« – sie unterbrach sich – »ist es nicht wie eine Fügung, daß gerade wir ins Venn kommen, gerade wir es finden mußten?«
Er fühlte, daß sie ihn beredete, und er sträubte sich innerlich dagegen: nein, wenn sie sich denn schon von ihrem Gefühl so fortreißen ließ – sie war eben eine Frau –, so mußte er doch, als Mann, den Verstand über das Gefühl setzen!
Und er hatte ihr alle Bedenken aufgezählt, wieder und wieder, und als Letztes ihr gesagt: »Du ahnst gar nicht, in welchen Zwiespalt du dich selber bringst! Wenn nun die Neigung, die du für das Kind zu empfinden glaubst, nicht stand hält?! Wenn es sich dir nicht sympathisch entwickelt?! Bedenke, es ist und bleibt immer das angenommene Kind!«
Aber da war sie fast zornig aufgefahren: »Wie kannst du so etwas sagen?! Glaubst du, ich bin engherzig?! Eigen geboren oder angenommen, das ist ganz gleich, denn es wird mir angeboren durch die Erziehung. Ich werde es mir erziehen. Das ›Ausdemselbenblutesein‹ macht's doch nicht! Bloß weil ich's geboren habe, darum soll ich ein Kind lieben?! O nein! Ich liebe das Kind, weil – weil – nun, weil es so ganz auf mich angewiesen ist, weil es so klein ist, so unschuldig, weil es unendlich süß sein muß, wenn so ein hilfloses Geschöpfchen die Ärmchen nach einem ausstreckt!« Und sie breitete die Arme aus und schloß sie dann an ihre Brust, als hielte sie so schon ein Kind am Herzen. »Du bist ein Mann, du versteht das eben nicht. Aber du willst mich doch so gerne glücklich machen – mach mich jetzt glücklich! Lieber, geliebter Mann, du wirst ja so rasch vergessen, daß er nicht unser Eigengeborener ist, es bald gar nicht anders mehr wissen. ›Vater, Mutter‹ wird er zu uns sagen – und wir werden Vater und Mutter sein!«
Wenn sie recht hätte! Von einer seltsamen Empfindung durchrieselt, schwieg er. Und warum sollte sie nicht recht haben?! Ein Kind, das man vom ersten Lebensjahre an ganz auf seine Weise erzieht, das man vollständig auslöst aus den Verhältnissen, in denen es geboren worden ist, das nicht anders weiß, als daß es seiner jetzigen Eltern Kind ist, das da denken lernt mit ihrem Denken und fühlen mit ihrem Fühlen, das kann nichts Fremdes mehr haben. Das wird ein Teil des ureigensten Ichs, wird einem so lieb, so teuer, als hätte man's selber gezeugt!
Vor des Mannes Herzen stiegen Bilder auf, deren Anblick er nicht mehr erhofft, nicht mehr zu hoffen gewagt hatte. Er sah sein lächelndes Weib, auf dessen Schoß ein lächelndes Kind; er sah sich selber lächeln und fühlte einen nie gekannten Stolz bei dem kindlich-zärtlichen Lallen: ›Va–ter!‹ Ja, Käte hatte schon recht, alles, was man sonst Glück nennt, ist nichts gegen dieses Glück. Nur ein Vater, eine Mutter wissen, was Freude ist!
Er küßte seine Käte, und dieser Kuß war schon halbe Zustimmung, das hatte sie gefühlt.
»Laß uns morgen hinfahren, morgen, gleich früh!« bat sie, unterdrückten Jubel im Ton.
Er bemühte sich, gelassen zu bleiben: nein, erst mußte man die Sache, nach eigner, reiflicher Überlegung, in Berlin mit dem Anwalt und auch mit sonstigen Vertrauensleuten besprechen!
Darüber geriet sie außer sich; halb schmollte sie, halb lachte sie ihn aus: war denn dies hier eine Geschäftssache? Was ging den Anwalt und andere Leute ihre tiefste, persönlichste Herzenssache an?! Niemand war darum zu befragen, niemand sollte sich da hineinmischen! Kein Mensch durfte ahnen, woher das Kindchen kam, von wem es abstammte! Sie, sie beide waren seine Eltern, sie kamen für es auf, sie waren sein Anfang und die Bürgen für seine Zukunft – ihr Werk, ganz ihr Werk war dieses Kind!
»Morgen holen wir es gleich! Je eher es aus dem Schmutz und der Verkommenheit herauskommt, desto besser – nicht wahr, Paul?« Sie ließ ihn gar nicht mehr zu Wort kommen, sie überschüttete ihn in sprudelnder Lebendigkeit mit Plänen und Vorschlägen; und ihr Überschwang schwemmte seine Bedenken mit fort.
Man kann auch zu bedenklich sein, zu übertrieben vorsichtig und sich so jede Lebensfreude verbittern, das sagte er sich. Was taten sie denn Außergewöhnliches? Sie hoben nur etwas auf, was ihnen vor die Füße gelegt worden war; sie gehorchten so einem Wink des Schicksals. Und da waren wirklich auch gar keine Schwierigkeiten. Wenn sie's selber nicht verrieten, würde niemand die Herkunft des Kindes erfahren, und hier wiederum würde nicht groß Nachfrage nach dessen Verbleib sein. Es war ein namen-, ein heimatloses Etwas, das sie an sich nahmen und aus dem sie machten, was sie daraus machen wollten. Später, wenn man das Alter dazu hatte, adoptierte man dann den Kleinen in aller Form und legte so auch in Akten fest, was man im Herzen längst getan hatte. Jetzt galt es nur noch, den Gemeindevorsteher von Longfaye aufzusuchen und mit seiner Unterstützung die Abtretung seitens der Eltern perfekt zu machen!
Als Schlieben zu einem Entschluß gekommen war, plagte ihn gleiche Unruhe wie seine Frau. Diese stöhnte: wenn es doch erst morgen wäre! Wenn ihr nun jemand zuvorkäme, wenn das Kind nicht mehr da wäre morgen?! Sie warf sich rastlos hin und her in Ungeduld und Bangigkeit. Aber auch Schlieben wälzte sich schlaflos von einer Seite zur andern. Ob das Kind auch gesund war?! Einen Augenblick überlegte er besorgt, ob es nicht geraten sei, den Badearzt von Spaa ins Vertrauen zu ziehen – der könnte mitfahren und den Kleinen vorerst untersuchen – aber dann verwarf er diesen Gedanken wieder: das Kind sah ja so kräftig aus! Er rief sich die derben Fäustchen zurück, den klaren Blick der blanken Augen – auf nacktem Boden, bei Kälte und Wind, ohne Schutz hatte es gelegen – es mußte eine Kernnatur haben. Darüber konnte man ruhig sein. –
Es war noch sehr früh am Morgen gewesen, als das Ehepaar sich aufgerafft hatte – müde, wie zerschlagen an allen Gliedern – aber von einer Art fröhlicher Entschlossenheit getrieben.
Käte lief im Hotelzimmer hin und her, so geschäftig, so freudig erregt wie jemand, der einen lieben Gast erwartet. Sie war so sicher, daß sie das Kind gleich mit herbringen würden. Jedenfalls wollte sie anfangen, die Koffer zu packen, denn wenn man das Kind hatte, dann nur nach Hause, so schnell als möglich nach Hause! »Das Hotel ist nichts für solch einen kleinen Liebling. Der muß sein Kinderzimmer haben, einen freundlichen Raum mit geblümten Gardinen – nur dunkle nebenbei zum Vorziehen, um das Licht beim Schlafen zu dämpfen – sonst alles hell, leicht, luftig. Und eine Babykommode muß darin stehen mit den vielen Fläschchen und Näpfchen, und sein Badewännchen, sein Bettchen mit den weißen Mullvorhängen, hinter denen man ihn liegen sehen kann mit roten Bäckchen, die Fäustchen am Kopf, und fest schlummern!«
Sie war so jugendlich, so liebenswürdig in ihrer erwartungsvollen Freude, daß sie ihren Mann entzückte. Schien nicht der Sonnenschein, auf den er so lange vergeblich geharrt hatte, jetzt kommen zu wollen?! Er ging schon dem Kinde vorher, fiel heiter verklärend auf dessen Weg. –
Die Eheleute waren beide bewegt, als sie gen Longfaye fuhren. Einen bequemen Landauer mit schließbarem Verdeck hatten sie heute genommen statt des leichten Zweisitzers, in dem sie sonst ihre Touren zu machen pflegten. Es könnte auf dem Rückweg zu kalt für den Kleinen werden! Decken und Mäntel und Tücher waren eingepackt, eine ganze Auswahl.
Schlieben hatte sich mit seinen Papieren versehen; man würde wohl kaum einen Ausweis von ihm verlangen, aber der Sicherheit halber, um einer etwa dadurch entstehenden Verzögerung vorzubeugen, steckte er sie ein. Man hatte ihm den Gemeindevorsteher von Longfaye als einen ganz verständigen Mann genannt, so würde sich denn alles glatt abwickeln.
Wie die Ebereschen zu Seiten der Straße unter der herbstlichen Last roter Beeren ihre Kronen senkten, so senkten sich auch die Häupter der beiden Menschen unter einer Flut von hoffnungsvollen Gedanken. Rasch flogen die Bäumchen am rollenden Wagen vorbei, rasch alle Etappen des Lebens am bewegten Gemüt. Fünfzehn Ehejahre – lange Jahre, wenn man wartet – erst mit Zuversicht, dann mit Geduld, dann mit Zaghaftigkeit, dann mit Sehnsucht – mit Sehnsucht, die von Jahr zu Jahr heimlicher wird, und in der Heimlichkeit immer brennender! Nun war die Erfüllung nah, freilich anders, als liebende Gatten sie sich ausmalen; aber doch eine Erfüllung.
Unabweislich kam der Frau das alte Bibelwort in den Sinn: ›Und als die Zeit erfüllet war, sandte Gott seinen Sohn‹ – o, dieses Kind aus der Fremde, aus dem Unbekannten, aus dem Lande, das nicht Acker noch Früchte hat und nicht gesegnet ist mit reichen Ernten, dieses Kind war eine Gabe des Himmels, ein Geschenk seiner Güte! Sie beugte ihr Haupt wie gesegnet, des Dankes voll.
Und der Mann drückte leise die Hand seiner Frau, und sie erwiderte den Druck. Hand in Hand blieben sie sitzen. Sein Blick suchte den ihren, und sie errötete. Jetzt liebte sie ihn wieder wie im ersten Jahr ihrer jungen Ehe – nein, jetzt liebte sie ihn noch um vieles mehr, denn jetzt, jetzt schenkte er ihr das Glück ihres Lebens: das Kind!
Selig schweifte ihr Blick übers arme Vennland, das braun und öde schien und doch ein Märchenland war voll der herrlichsten Wunder.
»Hab' ich's nicht gewußt?!« murmelte sie triumphierend und doch zusammenschauernd in einer fast abergläubischen Regung. »Ich hab's gefühlt – hier – hier!«
Sie konnte es kaum erwarten, bis sie das Venndorf erreichten. Ach, wie lag das abseits aller Welt, so ganz vergessen! Und so arm! Aber die Armut schreckte sie nicht und die aus der Armut entspringende Unsauberkeit auch nicht; sie nahm ihn ja jetzt mit fort von hier, brachte ihn in Kultur und Wohlleben, und daß er einmal auf nacktem Boden gelegen hatte statt in weichem Bettchen, das würde er nun und nimmer ahnen. Sie dachte an Moses: wie der gefunden worden war im Schilf des Nils, so hatte sie ihn gefunden im Gras des Venns – ob er ein großer Mann ward wie jener?! Wünsche, Gebete, Hoffnungen und hundert Gefühle, die sie früher nicht gekannt hatte, bewegten ihr Herz. –
Schlieben hatte Mühe, sich dem Gemeindevorsteher verständlich zu machen. Nicht daß der Mann ein Wallone gewesen wäre, der schlecht Deutsch verstand – Niklas Rocherath aus dem Haus ›Zur guten Hoffnung‹, so genannt, weil man's, als das ansehnlichste des Dorfes, weit vom Venn her erblicken konnte, war gut deutsch – aber er begriff den Herrn nicht.
Was wollte der mit dem Jean-Pierre von der Lisa Solheid? Annehmen an Kindes Statt?! Ganz verdutzt sah er drein, und dann war er beleidigt: nein, wenn er auch ein simpler Bauer war, zum Narren halten ließ er sich von dem Herrn drum doch nicht!
Erst allmählich gelang es Schlieben, ihn von der Ernsthaftigkeit seiner Absicht zu überzeugen. Aber immer noch rieb der Alte bedenklich das stopplige Kinn und sah mißtrauisch auf die, die so hergeschneit kamen in seine Einsamkeit. Erst als Käte, von der langen Auseinandersetzung ermüdet und gequält, ihn ungeduldig beim Arm ergriff und ihm, fast gereizt und mit Heftigkeit, ins Gesicht schrie: »So begreifen Sie doch! Wir haben kein Kind, wir wollen aber ein Kind – begreifen Sie's nun?!« – da begriff er.
Kein Kind – o weh! Kein Kind – da weiß man ja gar nicht, für was man lebt! Nun nickte er verständnisvoll; und mitleidig auf die Frau blickend, die so reich war, so fein angetan und doch keine Kinder hatte, zeigte er sich viel zugänglicher. Also der Jean-Pierre von der Lisa Solheid hatte ihnen so gut gefallen, daß sie sich den mitnehmen wollten bis nach Berlin? Was der Jung für ein Glück hatte! Die Lisa würde es gar nicht glauben wollen. Zu gönnen war der's freilich, so arm wie die war keiner hier, die wußte manchen Tag nicht, wie sie sich und ihre fünf satt machen sollte. Früher, als ihr Mann noch lebte –
Was, der Mann lebte nicht mehr?! Sie war Witwe?! Wie befreit aufatmend unterbrach Schlieben den Gemeindevorsteher. Er hatte, wenn er auch nicht darüber gesprochen hatte, vor dem Vater beständig eine geheime Furcht gehabt: wenn der nun ein Schnapstrinker wäre oder sonst ein Tunichtgut?! Nun fiel ihm eine Last von der Seele – der war tot, der konnte nicht mehr schaden! Oder war er am Ende an einer Krankheit gestorben, an einem zehrenden Leiden, das sich auf Kinder und Kindeskinder vererbt?! Schlieben hatte sagen hören, daß die Nebel des Venns und seine plötzlichen Temperaturwechsel leicht der Lunge und dem Hals verderblich werden – dazu schwere Arbeit und schlechte Ernährung – der junge Mann war doch nicht etwa gar an der Schwindsucht gestorben?! Ängstlich forschte er.
Aber Niklas Rocherath lachte: nein, von einer Krankheit hatte der Michel Solheid zeitlebens nichts gewußt und war auch an keiner gestorben. Zu Verviers hatte er gearbeitet, in der Maschinenfabrik, schwarz berußt und nackt bis zum Gürtel; dem waren Kälte und Hitze ganz einerlei gewesen. Und alle Samstag war er herübergekommen von Verviers und war den Sonntag bei seiner Familie geblieben. Und es war Samstag vor Peter und Paul gewesen, jetzt etwas über ein Jahr her, da hatte der Michel von dem, was er in Überstunden verdient hatte, seiner Frau eine Speckseite gekauft und ein oder zwei Pfund Kaffee, denn –
»Ihr müßt wissen, Hähr, dat is hier viel zu teuer für uns un über der Jrenz viel billiger,« sagte der alte Mann bekümmert, hob dann langsam die Faust und drohte hinüber zum Venn, das ruhig und weltfern dalag. »Da waren se ihm aber bald auf den Fersen. Von der Baraque an waren sie als hinter ihm drein – die verdammte Cammis Grenzjäger.! Ihrer drei, vier. Nu müßt Ihr wissen, dat de Michel laufen konnt' wie nur einer. Wenn de seinen Pack hinter den Busch jeschmissen hätt' und hätt' sich am laufen jehalten, den hätten se mein Lebtag nich jekriegt. Aber ne, dat wollt he nich, da hätt' he sich doch für sich selber jeschämt. Um sich nu nich zu verraten, wohin he eijentlich jing, rannt' he statt nach rechts nach links ab durch 't Wallonische Venn, der Hill nach. Durch Clefay Walddistrikte im hohen Venn un Neckel, so immer die Kreuz un die Quer, un kam nu so janz aus der Jejend heraus, wo he Bescheid wußt' wie in seiner Tasch'. Ober dem Pannensterz waren se ihm dicht auf den Hacken. Un se waren hinter ihm am schreien: ›Steh!‹
»Seht Ihr, Hähr, wär he nu in die Jroße Haard jelaufen un hätt' sich da im Dickicht verborjen, so hätten se ihn ohne Hund nie jefunden. Aber nu war he verwirrt un rannt' aus dem Busch eraus, blank über et Venn.
»›Halt!‹ – ›Steh!‹ – un zum dritten Mal: ›Halt!‹ Aber er sprung wie 'ne Hirsch. Da drückt' einer los un – Jesus Christus erbarme dich, jetzt und in der Stunde unsers Todes!« – der Gemeindevorsteher schlug andächtig ein Kreuz und wischte sich dann mit dem Handrücken unter der schnüffelnden Nase her – »de Schuß fuhr durch die Speckseit in den Buckel, hinten erein, vorn eraus. Da schlug de Solheid den Kuckeleboom. Purzelbaum. En Schand war et: um en Speckseit', so 'ne staatse Kerl!
»He hat noch en starke Stund' jelebt. He sagt noch, dat he de Solheid aus Longfaye wär' und dat se sein Frau holen sollten.
»Ich war den Tag jrad am Heckenscheren, da kam einer jerannt. Un ich macht mich auf mit der Lisa, die war damals im sechsten Monat met 'm Jean-Pierre. Aber als mir hinkamen, war et schon zu spät.
»Se hatten ihn liejen, nich weit vom jroßen Kreuz. Se hatten ihn tragen wollen bis Ruitzhof in en Haus, aber he saat: ›Laßt mich – hier will ich himmelen!‹ sterben. Un hat in de Sonn' jekuckt.
»Hähr, die stand am Himmel so jroß un rot de Tag – so jroß – wie se einst wird stehen am Tage des Jerichts! Hähr, he war janz in Schweiß un Blut – Stunden waren se mit ihm jejagt – aber an der Sonn' hatt' he noch sein Freud'!
»Hähr, de Kerl, de ihn jeschossen hatt', de war janz drauß, de hielt ihn im Schoß un war am weinen. Hähr, ne,« – der Gemeindevorsteher schüttelte sich, und man merkte seiner Gebärde den Abscheu an – »ich möcht' kein Cammis sein!«
Die Stimme des alten Mannes war tiefer und rauher geworden – es war das Zeichen seiner Anteilnahme – nun bekam sie wieder ihren früheren gleichmütigen Klang: »Wenn et Euch paßt, Madame, wollen mir jetzt jehen!«
»O das Kind, das arme Kind,« flüsterte Käte erschüttert.
»Glauben Sie denn, daß die Witwe sich von diesem Jüngsten trennen wird?« fragte Schlieben, von einer plötzlichen Befürchtung erfaßt. Dieses nach dem Tode des Vaters geborene Kind – war es möglich?!
»O –!« Der Alte wiegte den Kopf und schmunzelte. »Wenn Ihr wat Ordentliches dafür jebt! Sie hat 'er ja noch jenug!«
Jetzt war Nikolas Rocherath wieder ganz Bauer; das war nicht derselbe Mann mehr, der von der Sonne des Venns und dem Tode des Solheid gesprochen hatte. Nun galt es, so viel als möglich herauszuschlagen, einen Fremden, der noch dazu ein Städter war, ordentlich übers Ohr zu hauen!
»Hundert Taler wären nich übertrieben jefordert,« sagte er und blinzelte dabei von der Seite nach dem ernsten Gesicht des Herrn – mußte der ein Geld haben, der verzog ja nicht eine Miene!
Vom Viehhandel her war der alte Bauer seit Lebzeiten das Feilschen gewöhnt, nun blickte er, von scheuer Bewunderung für solch einen Reichtum erfüllt, auf den Fremden. Bereitwillig führte er nach der Hütte der Solheid. –