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Wolfgang wieder nicht da?« sagte Schlieben, als er zu seiner Frau ins Zimmer trat. »Ins Geschäft kommt er auch so wenig; sie behaupten zwar immer, gerade wäre er dagewesen – warum hält er aber nicht dieselbe Geschäftszeit ein wie ich?! Wo ist er denn?!« Er sah seine Frau fragend und ungeduldig an.
Sie zuckte die Achseln, und das Abendrot, das im Scheiden noch einen letzten Schimmer durch das hohe Fenster warf, gab ihrer Wange ein überhuschendes Rot. »Ich weiß es nicht,« sagte sie leise. Und dann sah sie so verloren hinaus in den Herbstabend, daß der Mann fühlte, sie war mit ihren Gedanken ganz abwesend, die irrten draußen suchend umher.
»Käte,« sagte er ein wenig empfindlich, und der Ärger, den er über des Sohnes Abwesenheit empfand, mischte dem Ton noch eine besondere Schärfe bei, »ich bin eben aus der Stadt nach Hause gekommen – müde, hungrig, es ist ja schon acht Uhr – wir wollen essen. Und nicht mal ein freundliches Gesicht?!«
Sie stand rasch auf, um nach dem Abendbrot zu klingeln, und versuchte zu lächeln. Aber es wurde kein rechtes Lächeln.
Er sah's, und das verstimmte ihn noch mehr. »Laß nur, laß! Tu dir keinen Zwang an!« Müde setzte er sich zu Tisch. Aber sein Hunger schien doch nicht so rege zu sein, denn als die Speisen aufgetragen waren und vor ihm dampften, langte er nur lässig zu und aß lässig, ohne zu wissen, was.
Das Eßzimmer war viel zu groß für die zwei einsamen Menschen; ungemütlich leer erschien heute an dem kühlen Herbstabend der schöne Raum. Fröstelnd schauerte die Frau zusammen.
»Wir müssen die Heizung in Gang bringen lassen,« sagte der Mann.
Das war das einzige, was während des Essens gesprochen wurde. Nachher stand Schlieben auf, um in sein Arbeitszimmer hinüberzugehen. Dort wollte er rauchen, dort war's kleiner, gemütlicher; er bemerkte es nicht, daß seine Frau ihn förmlich mit den Blicken verfolgte.
Wenn Paul ihr doch nur sagen möchte, was er von Wolfgangs Ausbleiben dachte! Wo Wolfgang nur wieder sein mochte?! Sie vertiefte sich ganz in ihre suchenden, irrenden Gedanken und merkte es kaum, daß sie allein blieb in dem kalten, leeren Zimmer.
Sie hatte ein Buch vor sich liegen, ein Buch, das alle Welt interessant fand – eine Bekannte hatte ihr gesagt: ›Ich konnte gar nicht aufhören damit, ich hatte so viel im Kopf, aber ich habe alles drüber vergessen,‹ – sie vergaß nichts darüber. Wie in einem großen Kummer, der stumpf macht, fühlte sie sich. Noch stumpfer, abgestorbener gegen alles Äußere, wie damals nach dem Tode ihres Vaters und ihrer Mutter. Gerade in diesen Trauerjahren hatte sie so viel gelesen, so mit besonderem Interesse, als seien ihr alte Dichtwerke neu geschenkt und neue eine tröstende Offenbarung. Nun konnte sie nichts lesen, den Gedanken eines andern nicht folgen. Sie klebte an ihren eignen Gedanken; ihr Auge überflog wohl die Seite, aber wenn sie unten angelangt war, wußte sie nicht, was sie gelesen hatte. Es war ein unerträglicher Zustand. Ach, wie gern, wie gern wollte sie sich für etwas interessieren! Was gäbe sie darum, könnte sie doch einmal recht herzlich lachen; früher hatte sie nie die gleiche Sehnsucht gehabt nach Frohsinn, Heiterkeit und nach Humor. Ah, welche Erlösung wäre es für sie gewesen, hätte sie lachen und weinen können! Jetzt konnte sie nicht lachen, aber – ach! – auch nicht mehr weinen, und das war das schlimmste: ihre Augen blieben trocken. Jedoch innerlich brannten die ungeweinten Kummertränen und fraßen an ihrem Leben mit dem unvergossenen salzigen Naß.
Nein, der Tod war das schrecklichste nicht! Es gab Schrecklicheres. Es war schrecklich, wenn man sich sagen mußte: all dein Leid hast du dir selber heraufbeschworen. Warum ließest du dir nicht genügen, warum mußtest du erzwingen, was die Natur dir versagte?! Es war schrecklicher, wenn man fühlte, wie häusliches Glück, eheliches Glück, Liebe, Treue, Einigkeit, wie all das, was zwei Menschen innig zusammenhält, ins Wanken geriet – fühlte sie's denn nicht alle Tage, wie ihr Mann kälter und kälter wurde, und wie auch sie gleichgiltiger gegen ihn ward?! Ach, der Sohn, dieser Dritte, der brachte sie zwei auseinander! O, wie kläglich fielen alle ihre Theorieen von Erziehung, Beeinflussung, vom Geboren werden im Geiste über den Haufen! Wolfgang war doch nicht das Kind, in dem sie beide sich mit Leib und Seele einten – er war und blieb fremdes Blut. Und er hatte eine fremde Seele. Armer Sohn!
Im Herzen der Frau, die Tage, Wochen, Monate, die Jahre lang nichts als Bitterkeit und Kränkung, sogar manchmal etwas wie Empörung gegen den empfunden hatte, der ihre Tage also verstörte, keimte plötzlich ein einsichtsvolles Mitleid. Wie konnte sie ihm, den es nicht mit hundert Banden ans Elternhaus fesselte, so sehr zürnen?! Es war eben nicht sein Elternhaus. Unbewußt mochte er es fühlen, daß der Boden hier für ihn nicht Heimatboden war – nun suchte er, nun irrte er!
Den Kopf schwer in die Hände stützend, grübelte Käte: was sollte sie beginnen? Sollte sie ihm gestehen, woher er kam? Ihm alles erzählen? Vielleicht daß es dann besser wurde! Ach, würde es besser, so würde sie gern alles tun! Aber ach, es war so schwer! Doch es mußte sein. Sie durfte nicht länger schweigen! Sie fühlte ihr zitterndes Herz erstarken in einem festen Entschluß: wenn er nach Hause kam, würde sie sprechen. Was sie gehütet hatte als größtes Geheimnis, über dem sie zitternd gewacht hatte, was ihr, wie sie glaubte, nichts hätte entreißen können, das war sie nun bereit freiwillig zu offenbaren. Sie mußte. Wie konnte es sonst je besser werden, wie je zu gutem Ende kommen, überhaupt zu einem Ende?!
Mit inbrünstigem Suchen schauten ihre Augen um sich; es war ein angstvolles Blicken in ihnen. Aber da war kein andrer Ausweg. Mit einer Entschlossenheit, deren Käte Schlieben vor einem Jahr noch nicht fähig gewesen wäre, bereitete sie sich auf das Geständnis vor. Einen Augenblick kam ihr der Wunsch, sich Paul zu Hilfe zu rufen. Aber rasch verwarf sie den Gedanken – hatte er denn Wolfgang je so geliebt wie sie? Es würde ihm vielleicht gleichgiltig sein. Oder nein, es würde ihm vielleicht ein Triumph sein, er war ja immer andrer Meinung als sie gewesen. Und dann, noch eins! Er könnte ihr dann vielleicht zuvorkommen, es selber Wolfgang sagen, und das durfte nicht sein. Sie, sie allein durfte das, mit all der Liebe, deren sie noch fähig war, damit er's weich hörte, schonend und zart!
Hastig lief sie hinüber in ihren Salon. Da bewahrte sie in ihrem Schreibtisch seinen Taufschein und die Abtretungsurkunde aus seinem Heimatdorf; diese Papiere hatte sie selbst ihrem Manne nicht anvertraut. Nun holte sie sie hervor und legte sie bereit. Sie würde ihm doch zeigen müssen, daß alles sich so verhielt, wie sie sagte!
Die Papiere knitterten unter ihren zitternden Händen, aber sie zwang ihre Aufregung nieder. Ruhig mußte sie sein, ganz ruhig und verständig; in vollem Bewußtsein dessen, was sie tat, das Luftschloß umstoßen, das sie sich erbaut hatte und das nicht so geworden war wie in ihren Träumen. Aber wenn auch dieses Luftschloß zusammenfiel, konnte nicht aus seinen Trümmern etwas gerettet werden, doch noch etwas Gutes erstehen?! Er würde ihr ja dankbar sein, er mußte ihr ja dankbar sein. Und das war das Gute!
Sie faltete die Hände über den Dokumenten aus grobem Papier, und aus ihrer Brust stiegen bebende Seufzer, die wie flehende Gebete waren. Gott hilf, Gott hilf!
Wenn er sie aber nun nicht richtig verstünde, wenn sie vielleicht nicht die Worte fand, die man finden mußte?! Wenn sie ihn dadurch verlieren würde?! Ein Schreck überfiel sie, sie erblaßte und griff tastend um sich, wie jemand, der eine Stütze braucht; aber sie hielt sich aufrecht: dann lieber ihn verlieren, als daß er sich verlor!
Denn – und Tränen, wie sie sie lange, lange nicht mehr hatte vergießen können, tropften ihr erlösend aus den Augen – denn sie liebte ihn doch noch, liebte ihn mehr, als sie es selber für möglich gehalten hätte.
So wartete sie auf ihn. Und wenn sie warten sollte bis morgen früh, und wenn er wieder betrunken nach Hause käme – betrunkener noch als das erste Mal – sie würde ihn doch erwarten. Heut noch mußte sie es ihm sagen! Es brannte förmlich in ihr.
Schlieben war längst zur Ruhe gegangen; er war ärgerlich auf seine Frau, hatte nur flüchtig den Kopf in ihr Zimmer gesteckt, hatte genickt: »Gute Nacht« und war hinaufgegangen. Sie aber ging mit langsamen Schritten unten im Zimmer auf und ab; das ermüdete sie körperlich, gab aber ihrem Geist Ruhe und dadurch Kraft. –
Als sei ihre zarte Gestalt gewachsen, so gerade und aufrecht trat sie in der Vorhalle Wolfgang entgegen, als sie ihn hatte die Haustür schließen hören. Das Haus schlief mit allen, die darinnen waren, nur er und sie waren noch wach; so allein, so ungestört waren sie sonst nie mehr auf der Welt. Jetzt galt's!
Und sie gab ihm die Hand, wie sie es sonst nicht getan hätte, wäre er so spät gekommen – Gott sei Dank, er war nicht betrunken! – und näherte ihr Gesicht seinem Gesicht und küßte ihn auf die Wange: »Guten Abend, mein Sohn!«
Er war wohl etwas verdutzt über diesen Empfang, aber seine dunkelumrandeten und tiefliegenden Augen sahen gleichgiltig an ihr vorbei.
Er war entsetzlich müde – man sah es ihm an – oder war er krank?! Aber das würde ja alles, alles nun bald besser werden! Mit erwachter Hoffnungsfreudigkeit ergriff Käte wiederum seine Hand und zog ihn hinter sich her in ihr Zimmer hinein.
Er ließ sich ziehen, ohne zu widerstreben, er fragte nur gähnend: »Was ist denn los?«
»Ich muß dir etwas sagen!« Und dann, rasch, als könne er ihr entgehen oder sie den Mut verlieren, setzte sie hinzu: »Etwas Wichtiges – was dich betrifft– deine – deine Herkunft betrifft!«
Was sagte er nun – unwillkürlich hatte sie innegehalten – was würde er nun sagen?! Seine Herkunft, um die er gerungen hatte, in Sehnsucht, in Kämpfen – ach, was waren das für Szenen gewesen! – nun wurde sie ihm offenbar.
Sie hatte sich unwillkürlich zu ihm geneigt, bereit ihn zu stützen.
Da gähnte er wieder: »Muß es jetzt gerade sein, Mama? Morgen ist doch auch noch ein Tag. Ich bin nämlich todmüde. Gut' Nacht!« Und er machte kehrt und ließ sie stehen und ging zum Zimmer hinaus und die Treppe hinauf und oben in seine Stube.
Sie stand ganz starr. Dann griff sie sich nach dem Kopf: was, was, sie hatte wohl nicht recht verstanden, war taub, blind, nicht ganz mehr bei sich?! Oder er war taub, blind, nicht ganz mehr bei sich! Sie war ihm entgegengetreten, das Herz auf den Lippen, sie hatte die Hand ausgestreckt, sie hatte ihm von seiner Herkunft sprechen wollen – und er?! Er hatte gegähnt – war gegangen, es interessierte ihn augenscheinlich gar nicht. Und hier, hier, in diesem selben Zimmer – noch nicht vier Jahre waren's her – fast auf diesem selben Fleck, da hatte er doch gestanden im schwarzen Einsegnungsrock – fast so groß schon wie jetzt, nur runder, kindlicher von Gesicht – und hatte laut aufgeschrieen: ›Mutter, Mutter, wo ist meine Mutter?!‹ Und jetzt wollte er nichts mehr wissen –?!
Es konnte nicht sein, sie hatte ihn wohl nicht recht verstanden oder er sie nicht! Sie mußte ihm nach, gleich auf der Stelle! Ihr war, als dürfte sie keine Minute versäumen.
In ihrem grauen Kleid huschte sie lautlos die Treppe hinauf; im matten Licht, das die elektrische Birne an die Treppenwand warf, sah sie ihren gleitenden Schatten, aber sie lächelte: nein, sie war nicht die Sorge mehr, die da so gespenstisch glitt! In ihrem Herzen war lauter Freudigkeit, Hoffnung und Vertrauen: sie brachte ihm ja Gutes, nur Gutes!
Ohne anzuklopfen trat sie in seine Tür, in aller Eile, ohne Überlegung. Er lag schon in den Kissen, gerade hatte er das Licht löschen wollen. Nun setzte sie sich auf seinen Bettrand.
»Wolfgang,« sprach sie weich. Und als er sie verwundert, ein wenig befremdet, fast unfreundlich ansah, klang es noch weicher: »Mein Sohn!«
»Ja – was ist denn nun schon wieder?«
Er war wirklich ärgerlich, sie merkte es an seinem ungeduldigen Ton, und da sank ihr plötzlich der Mut: ach, wenn er sie so ansah, so kalt, und wenn sein Ton so abwehrend klang, wie war es da schwer, das richtige Wort zu finden! Aber es mußte sein, er sah ja so bleich aus, und so mager war er, sein rundes Gesicht war förmlich lang geworden! Was ihr vorhin schon aufgefallen war, fiel ihr jetzt doppelt auf, und sie bekam einen großen Schreck. »Wolfgang,« sagte sie hastig, fast mit Angst seinen Blick vermeidend – o, wie anklagend würde der sein, wie vorwurfsvoll, und berechtigt vorwurfsvoll! – »ich muß es dir endlich sagen – es ist besser – es wird dich ja auch weiter nicht verwundern – erinnerst du dich noch jenes Sonntags – es war der Tag deiner Konfirmation – da – da fragtest du uns –«
Ach, wieviel Vorreden mußte sie doch machen! Sie hieß sich selber feige; aber es war so schwer, so unsäglich schwer!
Mit keinem Laut unterbrach er sie, er fragte nicht, er seufzte nicht, er rührte sich nicht einmal.
Sie wagte nicht, ihren Blick, der, starr und geradeaus gerichtet, an einem Punkte hing, nach ihm zu wenden. Sein Schweigen war schrecklich, schrecklicher als sein Aufbrausen! Und sie schrie es laut heraus mit verzweifelter Entschlossenheit: »Du bist nicht unser Sohn, nicht unser eigner Sohn!«
Er sagte noch nichts; antwortete durch keinen Laut, durch kein Sichrühren. Da wendete sie den Blick nun doch nach ihm. Und sie sah, wie die Lider ihm über die müden, schon halb verglasten Augen fielen, wie er sie mühsam wieder aufriß und sie doch wieder herabsanken, kurz, wie er mit dem Schlaf rang.
Er konnte schlafen, während sie ihm dieses – dieses sagte?! Eine furchtbare Ernüchterung kam über sie, aber sie packte ihn doch am Arme und rüttelte ihn, während ihr die eignen Glieder wie in Fieberschauern bebten: »Hörst du – hörst du's denn nicht?! Du bist nicht unser Sohn – nicht unser eigner Sohn!«
»Ja, ich weiß,« sagte er müde. »Laß, laß!« Abwehrend bewegte er die Hand.
»Und das –« eine völlige Fassungslosigkeit machte sie stammeln wie ein Kind – »das berührt dich nicht? Das – das läßt dich so kalt?!«
»Kalt?! Kalt?!« Er zuckte die Achseln, und in seinen müden, glanzlosen Augen fing es an ein wenig zu funkeln. »Kalt?! Wer sagt dir, daß es mich kalt läßt – kalt gelassen hat?« verbesserte er sich rasch. »Aber ihr habt ja nicht danach gefragt. Nun will ich nichts mehr davon hören. Nun bin ich müde. Ich will schlafen!« Er drehte ihr den Rücken, kehrte das Gesicht gegen die Wand und rührte sich nicht mehr.
Da stand sie – er schlief schon, oder wenigstens schien er zu schlafen. Ein paar Minuten noch verweilte sie bang – würde er, mußte er sich nicht wieder nach ihr wenden: ›erzähle, jetzt höre ich!‹ Aber er wendete sich nicht.
Da schlich sie aus dem Zimmer wie ein armer Sünder. Zu spät, zu spät! Sie hatte zu spät gesprochen, und nun wollte er nichts mehr hören, nun gar nichts mehr davon wissen!
In ihrer Seele schmerzten die Worte ›zu spät‹ in ihrer stumpfen Trostlosigkeit wie eingebrannt.
* * *
Käte hatte nicht mehr den Mut, auf das, was sie Wolfgang in dieser Nacht hatte gestehen wollen, noch einmal zurückzukommen. Wozu auch? Sie hatte das lebhafte Gefühl: ihm war nicht mehr beizukommen, nicht mehr zu helfen. Sie aber fühlte sich niedergedrückt wie durch eine unermeßliche Schuld. Und das Gefühl dieser schweren Schuld machte sie milder gegen ihn, als sie es sonst gewesen wäre; es hieß sie, sein Tun und Lassen zu beschönigen, vor sich selber und vor ihrem Manne.
Schlieben war sehr unzufrieden mit Wolfgang. »Wenn ich nur wüßte, wo er sich immer herumtreibt! Er ist doch nachts zu Hause – wie?!«
Ein unwillkürlicher Laut seiner Frau hatte ihn unterbrochen, nun sah er sie forschend an. Aber sie verzog keine Miene, nickte nur: »Ja!« Da verließ sich der Mann auf seine Frau. –
Nun waren die letzten Tage des scheidenden Herbstes da, die oft noch so warm sind und golden, goldener als der Sommer sie je gewährt. Um vor dem Winter sich noch einmal in Luft und Sonne zu baden, strömte alles hinaus in den Grunewald. Als sei alle Tage Sonntag, so drängten sich die Spaziergänger in Hundekehle und Paulsborn, bei Onkel Tom und in der Alten Fischerhütte. Überall Lachen, oft auch Musik, und Mädchen in hellen Kleidern, in letzten, noch nicht ganz vertragenen Sommertoiletten. Kinder lärmten jetzt weniger durch den Wald wie zur Sommerszeit, es dunkelte jetzt bereits zu früh; desto mehr Pärchen wandelten, denen der frühe und doch noch warme Dämmerschein köstliche Gelegenheit bot, ihre Zärtlichkeiten zu tauschen, und alte Leute, die noch einmal die Sonne genießen wollten, ehe vielleicht bald die Nacht für sie kam, der kein Morgen mehr folgt.
Schlieben hatte es in früheren Jahren immer verabscheut, an solchen Tagen, in denen es im Grunewald wimmelte, sein Haus und seinen Garten zu verlassen. Es war ihm unangenehm gewesen, den Staub des Gewühls zu schlucken. Jetzt war er weitherziger: warum sollten die Leute, die sonst immer in ihre engen Wohnungen gebannt waren, nicht auch einmal hier draußen sein und für Stunden wenigstens den Kiefernduft einatmen, den sie, die Bevorzugten, alle Tage genossen? Es war doch etwas Schönes darum, zu sehen, wie Menschen sich freuen!
Sowohl aus eignem Antrieb, wie um Käte zu zerstreuen, die ihm in letzter Zeit noch ernster und merkwürdig in sich gekehrt vorkam, bestellte er einen Wagen, einen bequemen Landauer, und fuhr mit seiner Frau spazieren. Sie fuhren die bekannten Straßen, die den Grunewald durchziehen, stiegen auch zuweilen aus, wenn der Wagen langsamer durch den Sand mahlte, und gingen auf dem, durch gefallene Nadeln glatt gemachten und festgetretenen Fußpfad ein Stückchen nebenher.
Sie kamen nach Schildhorn. Über dem Wasser lag roter Abendschimmer; die Sonne war nicht mehr im vollen Glanz zu sehen, ein dämmernder, melancholischer Friede lag über der Havel und den Kiefern. So tief hatte Käte dieser Wald noch nie gedeucht. Es fröstelte sie plötzlich: ah, dort drüben lag ja auch der Friedhof der Selbstmörder! Sie mochte nicht hinsehen, nervös preßte sie die Augen zu. Vor ihren Blicken hatte plötzlich ein junger Bursch gestanden – jung und frisch und doch schon verdorben – mancher Mutter Sohn!
Schaudernd wollte sie rasch vorüber, und doch zog es ihren Fuß unwiderstehlich hin zu dem im Wehsand eingehegten Fleck. Sie konnte nicht anders, sie mußte stehen bleiben. Sinnend ruhte ihr Blick auf den so wenig schönen, ungepflegten Gräbern: ob sie denn Frieden gefunden hatten, die hier ruhten?! Ein paar grüne Zweige und ein paar Blümchen, die sie unterwegs gepflückt hatte, entsanken ihrer Hand. Der abendliche Wind wehte sie aufs nächste Grab; da ließ sie sie liegen. Ihr war unendlich weh ums Herz.
Paul rief: »Käte, so komm doch! Der Wagen wartet ja längst auf uns!«
Bis tief ins Innerste war sie verstimmt. Befürchtungen und Ahnungen, von denen sie niemand sagen konnte, drangen auf sie ein. Wolfgang war leichtsinnig – aber schlecht?! Nein, schlecht war er nicht – noch nicht! O Gott, nein, das wollte sie doch nicht denken, schlecht nicht! Aber wie sollte es werden? Wie enden?! Gut konnte es nicht mehr werden, nie – wie sollte es auch?! Da müßten ja Wunder geschehen, und Wunder geschehen nicht mehr zu diesen Zeiten!
Helles Lachen schreckte sie auf. Im Restaurationsgarten waren alle Tische besetzt; hier war so viel Jugend, und so viel leichter Sinn, und hier waren so viele Liebespaare. Sie waren wieder in ihren Wagen gestiegen und fuhren jetzt langsam am Restaurationsgarten vorüber und sahen so all die hellen Blusen und die bunten Blumenhüte, all den Putz des kleinen Bürgerstandes.
Horch, wieder das helle Lachen! Ein lautes Mädchenlachen, so recht frei heraus, und nun ein: ›Oho, fangt sie, kß, kß‹ – bei dem Käte, wie erstarrt den Atem anhielt. Sie wurde ganz schwach, alles Blut wich ihr vom Herzen fort: das war ja Wolfgang! Ihr Wolfgang!
Da sprang er in großen Sätzen hinter einem Mädchen her, das, aufjuchzend, vor ihm über den Weg floh und jenseits hinein in den Wald lief zwischen die Stämme. Er jagte hinter ihr drein. Einen Augenblick noch sah man das helle Mädchenkleid und Wolfgangs fliegenden Schatten um die Kiefern wischen, dann erblickte man nichts mehr von ihnen. Aber er mußte sie erreicht haben, man hörte jetzt ihr gellendes Aufkreischen und sein Lachen; beides trieb Käte das Blut in die Wangen. Das klang ihr beleidigend, klang ihr gemein. Also so, so weit war er gekommen, trieb sich hier mit solchen, solchen – Personen umher?! Aha, da kamen ja noch ein paar andre nach, die gehörten auch zur Gesellschaft! Ein vierschrötiger Mensch mit rotem, pausbackigem, sehr erhitztem Gesicht lärmte mit Hallo hinter dem verschwundenen Paar drein, und ein schmächtiger Schlingel, der zuletzt kam, lachte so recht verschmitzt-spitzbübisch.
›Paul, Paul,‹ wollte Käte aufschreien, ›Paul, sieh nur, sieh!‹ Aber dann schrie sie doch nicht und rührte sich nicht. Da war ja nichts mehr zu ändern! Ganz stumm lehnte sie in ihrer Wagenecke: das hatte sie ja gewollt, sie durfte nicht klagen. Ach, hätte sie ihn doch gelassen, wo er war! Jetzt mußte sie schweigen, beide Augen zudrücken, tun, als hätte sie nichts gesehen!
Aber alles war ihr verleidet. Und als ihr Mann ihr in einer Lücke der Kiefernwipfel den schwimmenden Mond im lichtgrauen Äther wies und rechts dabei den freundlichen, ruhig leuchtenden Stern, hatte sie auf sein entzücktes: »Ist das nicht schön?« nur ein kühl-zustimmendes: »O ja!«
Das verstimmte ihn. Welche Freude hatte sie sonst an der Natur gehabt, die größte und reinste Freude, nun auch das nicht einmal mehr! Auch dieses hin?! Alles hin! Er seufzte.
Und jedes von ihnen, in eine Ecke des Wagens gelehnt, verharrte in Schweigen. Mit trüben Augen schauten sie beide in die tiefer und tiefer sinkende Dämmerung. Es wollte Abend werden, der Tag – auch ihr Tag – hatte sich geneiget. –
* * *
Wolfgang hatte mit Frida Lämke, deren Bruder und Hans Flebbe eine längst geplante Landpartie unternommen. Frida hatte sich für den Nachmittag im Geschäft freigemacht; ausnahmsweise, und weil sie etwas unabweisbar Dringendes vorschützte, gelang es ihr, abzukommen. Nun war sie aber auch wie losgelassen, voller Übermut: ha, war das fein, ha, wollten sie sich mal amüsieren! Wolfgang hatte eine Droschke spendiert; er und Frida im Fond, die beiden andern ihnen gegenüber auf dem Rücksitz, so hatten sie eine Rundfahrt durch den grünen, grünen Wald gemacht, hatten dieses Lokal besucht und jenes, waren Karussell gefahren und Boot und hatten in der Würfelbude gewürfelt. Wolfgang war sehr galant, Frida durfte immer noch mal; eine Butterdose von blauem Glas, eine Glanzpapierdüte mit Pfeffernüssen, vor allem aber ein kleiner Piepmatz in einem winzigen Holzgitterkästchen machten sie selig. Alles das durfte Hans nun tragen, während sie auf dem Nachhauseweg, den sie von Schildhorn zu Fuß antraten, sich mit Wolfgang jagte und neckte. Der Bräutigam störte weiter nicht. Hans hatte von Anfang an darauf verzichtet, seine Frida am Arm zu führen; man hätte sie dreist für das Verhältnis des eleganten jungen Herrn halten können. Aber als sie nun ganz außer Atem, rot und zerzaust war und die Dämmerung des Abends, der hier innen zwischen den dichten Stämmen schon eher dunkelte als draußen, ihr ein kleines Gruseln und ein wonniges Sich-erschrecken einjagte, hing sie sich doch wie selbstverständlich an den Arm ihres Hans. Sie blieben ein wenig zurück.
Nun war Wolfgang allein, denn Artur rechnete er nicht, obgleich der neben ihm her über die Wurzeln stolperte und schrill pfiff. Und Wolfgang beneidete den dicken Hans, über den sie heute, seine Braut am meisten, so viel gelacht hatten; auch er hatte das Bedürfnis, jetzt ein Mädchen am Arm hängen zu haben. Das brauchte nicht einmal so niedlich wie Frida zu sein – wenn's nur ein Mädel war! Die Dämmerung des Waldes, die so wohlig war und verschwiegen, lud förmlich ein. Und vom Boden, der so mager war, lauter Sand, stieg heute abend doch ein sattes Duften auf, ein reichliches Gewähren. Wolfgang fühlte sich lebens- und liebeshungrig, gierig nach Freude, nach Genuß. Hätte er jetzt Frida neben sich gehabt, bei beiden Armen hätte er sie gepackt, sie an sich gerissen, blitzschnell ihr den Mund mit Küssen verschlossen und sie nicht mehr losgelassen.
Er konnte nicht mehr an sich halten, er mußte wenigstens Artur packen und mit ihm dahinwalzen durch den sandigen Waldboden, daß dem aufgeschossenen Jungen, der heute schon zu so und soviel Kunden gelaufen war, um sie zu rasieren, Hören und Sehen verging. Die übrigen Spaziergänger blieben stehen: das war ihnen nichts Neues aus Landpartieen, wenn's nicht größeren Unfug gab! Sie amüsierten sich, und als Wolfgang zum Schluß den Partner mit einem lauten Juchhe in die Höhe hob und ihn ein paar Mal um sich herumschwenkte, klatschten sie Beifall.
Wolfgang war nun doch sehr außer Atem. Als sie zum Walde hinaus waren, mußten sie langsamer gehen; jetzt, in bewohnteren Regionen – schon tauchten die eleganten Landhäuser auf – hätte man Menschen tottreten können. Das war eine Fülle! An der Abfahrtstelle der elektrischen Bahn drängte und drückte es sich. Sie stellten sich auch auf: das war ein Spaß, zu sehen, wie die Leute, die gerne mitkommen wollten, sich pufften. Es war noch leidlich hell und warm wie im Sommer, aber rasch würde es ganz dunkel sein, und je später, desto größer der Ansturm. Lachend standen die beiden und sahen dem Drängen gelassen zu: was machte es ihnen aus, wenn sie nicht mitkamen, sie liefen eben das Stückchen zu Fuß weiter bis nach Hause.
Wolfgang fühlte sein Herz heftig pochen – es hatte ihm doch zu viel Spaß gemacht, mit Frida zu tanzen! In einem Lokal, in dem im angebauten Brettersaal ein Klavierspieler aufs Klavier paukte, hatte er Frida ein paar Mal ordentlich herumgeschwenkt, und auch noch ein paar andre Mädchen, die verlangend nach dem stürmischen Tänzer gesehen hatten. Es war eine Lust gewesen. Noch fühlte er den Nachhall davon in sich zittern, seine Brust hob und senkte sich unruhig – hei, so ein Mädchen im Arm sich herumschwenken, lustig sein! Wundervoll, es war alles so wundervoll!
Die Zähne zusammenbeißend, um nicht durch einen lauten, jubelnden Aufschrei die Blicke auf sich zu lenken, bebte Wolfgang innerlich vor ungebändigter Lebenslust. Ha, das wäre fein, ha, das wäre eine Wohltat, jetzt irgendeine Dummheit begehen zu können! Er überlegte: was gab man jetzt nur an?!
Da störte ihn ein Husten. Wie hohl das klang, als sei inwendig alles lose! Der junge Mann, der hinter seinem breiten Rücken stand, mochte wohl schon eine Weile so gehustet haben – er hatte es nur nicht beachtet – nun ekelte ihn vor dessen Auswurf. Unwillkürlich wich er zur Seite: pfui, wie hustete dieser Mensch!
»Ach,« hörte Wolfgang jetzt den älteren Mann sagen, auf dessen Arm der Hustende sich stützte, »ich bin ganz außer mir, daß keine Droschke zu bekommen ist! Bist du sehr kaputt? Geht's noch?« Es lag so viel Angst in diesem ›Geht's noch?‹
»O, ganz gut!« Der junge Mensch antwortete mit heiserer Stimme. Wolfgang merkte auf: diese Stimme war ihm doch bekannt? Und nun erkannte er auch das Gesicht. War das nicht Kullrich? Donnerwetter, wie der sich aber verändert hatte! Unwillkürlich lüftete er den Hut: »'n Abend, Kullrich!«
Jetzt erkannte dieser auch ihn. »Schlieben!« Kullrich lächelte, daß man all seine Zähne, lang und weiß, hinter den blutlosen Lippen sah. Und dann reichte er dem früheren Schulkameraden die Hand: »Du bist auch nicht mehr auf der Schule? Ich auch nicht mehr. Wir haben uns lange nicht mehr gesehen!«
Wolfgang fühlte die Hand unangenehm feuchtkalt in der seinen, und es durchrieselte ihn. Daß er einmal gehört hatte, Kullrich hätte die Schwindsucht, hatte er längst vergessen; nun fiel's ihm auf einmal wieder ein. Aber das konnte ja gar nicht sein, so jung stirbt man doch nicht?! Alles in ihm sträubte sich dagegen.
»Bist du krank gewesen,« fragte er rasch. »Aber jetzt geht's dir doch wieder ganz gut?« Es wurde ihm ordentlich schwer, das alte ›du‹ zu gebrauchen, der Kullrich hier war ihm so fremd.
»O ja, es geht,« sagte Kullrich und lächelte wieder. Ein ganz merkwürdiges Lächeln, das selbst dem achtlosen jungen Mann auffiel. Kullrich war nie hübsch gewesen, er hatte eine Kartoffelnase; jetzt mußte Wolfgang ihn immer ansehen: wieviel feiner war das Gesicht geworden und so – er konnte nicht an sich halten, er sagte es plötzlich gerade heraus: »Wie siehst du jetzt aus?! Ich hätte dich beinahe nicht erkannt!«
»Mein Sohn wird jetzt bald verreisen,« sagte der Vater rasch, und dabei zog er den Arm seines Jungen fester in den seinen. »Dann kommt er hoffentlich ganz gesund wieder. Er hat sich heute nur ein bißchen viel zugemutet. Es war so schönes Wetter – viel Luft und Kiefernduft, sagt der Arzt – wir sind zu lange draußen geblieben. Es wird dir doch nichts schaden?!« Wieder so viel Angst im Ton. »Ist dir auch nicht kalt? Willst du dich nicht so lange setzen?« Der Vater stellte ein Feldstühlchen zur Erde, das er unterm Arm getragen hatte und klappte es auseinander: »Setz dich doch 'n bißchen, Fritz!«
Der arme Kerl! Der Ton des Vaters, in dem die liebende Angst zitterte, berührte Wolfgang eigentümlich. Der arme Kerl, der war wahrhaftig doch sehr krank! Wie schrecklich! Ein Grauen kam ihn an, unwillkürlich zog er sich zurück, daß ihn der Atem des Kranken nicht treffe; der ganze Egoismus der Jugend und der Gesundheit war in ihm: wie fatal, daß er heute, gerade heute dem hier begegnen mußte!
»Kann ich Ihnen vielleicht einen Wagen besorgen?« fragte er rasch – daß der Kullrich nur fortkam, das Husten war ja gräßlich anzuhören – »ich weiß hier Bescheid, ich bekomme schon einen!«
Der Vater Kullrich, wie aus einer großen Angst erlöst, sagte aufatmend: »Ach ja, ach ja! 'ne Droschke, 'ne geschlossene womöglich! Mit der Bahn kommen wir ja doch nicht mit! Und es wird so spät! Ist dir auch wirklich nicht kalt, Fritz?!« Ein kühler Wind hatte sich plötzlich erhoben, und der alte Mann zog seinen Überzieher aus und hängte ihn dem Sohn noch um die Schultern.
Mußte dem scheußlich zumute sein, seinen Jungen so zu sehen, dachte Wolfgang. Sterben überhaupt, sterben, wie schrecklich! Und wie der Mann seinen Sohn liebte! Das hörte man am Ton, sah man an den Blicken!
Wolfgang war froh, nach der Droschke umherrennen zu können. Es war jetzt schwer, eine zu bekommen, er rannte sich völlig außer Atem. Endlich hatte er einen Wagen. Wie er am Halteplatz der elektrischen Bahn anlangte, war Herr Kullrich bereits völlig verzweifelt. Er hatte die Hoffnung schon aufgegeben gehabt, und der Sohn hatte sehr viel gehustet.
Jetzt löste er sich fast auf in Dankbarkeit. Der einfache Mann – er war ein Subalternbeamter und hatte es gewiß nicht dazu – versprach dem Kutscher ein reiches Trinkgeld, wenn er sie nur rasch nach Halensee, Ringbahnstraße 111, fahren wollte. Er hüllte den Sohn in die Decke, die auf dem Rücksitz lag; der Kutscher gab noch eine Pferdedecke zu, Wolfgang wickelte dem Schulkameraden die Beine ein.
»Danke, danke,« sagte Fritz Kullrich matt; er war jetzt ganz abgefallen.
»Besuchen Sie uns doch mal, Herr Schlieben,« sagte der Vater und drückte dem Retter die Hand. »Fritz würde sich freuen. Und ich bin Ihnen ja so dankbar!«
»Aber komm bald,« sprach der Sohn und lächelte wieder sein seltsames Lächeln. »Adieu!«
»Adieu!« Wolfgang stand und starrte hinter dem rasch davonrollenden Wagen drein – da fuhr der Kullrich! Seiner Mutter nach.
Die frohe Laune Wolfgangs war verflogen. Als die Genossen des Nachmittags mit Hallo nach ihm suchten – Hans mußte seine Frida ordentlich abgeküßt haben, das Hütchen saß ihr schief, ihre Augen glänzten verliebt –, machte er sich rasch von ihnen frei. Er sagte ihnen kurz Adieu und ging allein. Der Tod hatte ihn gestreift. Und ein altes Lied, das er, unter so vielen anderen, einst mit Cilla, dem Mädchen seiner Kindheit, gesungen hatte, schoß ihm urplötzlich durch den Sinn. Jetzt verstand er zum ersten Mal die tiefere Bedeutung:
›Prahlst du gleich mit deinen Wangen,
Die wie Milch und Purpur prangen,
Ach, die Rosen welken bald!‹
Er ging gleich nach Hause, er hatte heute nicht Lust mehr, draußen herumzubummeln. Und als er so ging mit wiegendem, schlenderndem Gang, entlegene Wege, in denen es still war, richtete sich etwas auf vor ihm in der dunklen Färbung des Herbstabends und stellte sich in seinen Weg – das war eine Frage:
›Und du –?! Wohin du – ?!‹
In einer Stimmung, die seltsam weich und versöhnlich war, betrat er das Elternhaus. Aber als er ins Zimmer trat, saßen die Eltern da wie zu Gericht.
Käte hatte es nun doch nicht verheimlichen können, es hätte ihr das Herz abgepreßt, sie hatte jemandem erzählen müssen, was sie beobachtet hatte. Und Schlieben hatte sich mehr darüber aufgeregt, als seine Frau erwartet hatte: also in solche Gesellschaft war der Junge geraten?!
»Wo treibst du dich herum?« fuhr er den Sohn an.
Der Eintretende stutzte: was war das für ein Ton, es war doch heute nicht so spät?! Im Gefühl des Unrechts, das ihm geschah, hob er den Kopf.
»Sieh mich nicht so unverschämt an!« Den Vater verließ die Beherrschung. »Wer ist das Frauenzimmer, mit dem du dich herumtreibst?«
Herumtreibst – Frauenzimmer?! Dem jungen Menschen schoß das Blut heiß zu Kopf. Frida Lämke ein Frauenzimmer – das war toll! »Sie ist kein Frauenzimmer!« brauste er auf. Und dann: »Ich habe mich nicht herumgetrieben!«
»Nun, nun, ich habe –« Schlieben verbesserte sich rasch, er konnte doch nicht sagen: › ich habe dich gesehen^ – so sagte er: »Wir haben dich gesehen!«
Wolfgang wurde sehr rot. Aha – sie hatten ihn belauert – heute wohl – waren ihm nachgeschlichen?! Nicht einmal weit draußen war man sicher vor ihren Späherblicken! Er war empört. »Wie kannst du sagen ›Frauenzimmer‹ Sie ist kein Frauenzimmer!«
»So – was ist sie denn, wenn ich fragen darf?«
»Meine Freundin!«
»Deine Freundin?!« Der Vater lachte ein kurzes zorniges Lachen. »Freundin – nun ja, aber für dich ist das denn doch noch ein wenig früh! Ich verbiete dir solche Freundinnen zweifelhaften, mehr als zweifelhaften Genres!«
»Sie ist nicht zweifelhaft!« Wolfgangs Augen funkelten. Wie recht hatte Frau Lämke, die neulich, als er sie wiederum besuchte, gesagt hatte: »So sehr ick mir ooch freue, kommen Se doch nich zu oft, Wolfjang. Frida is man 'n armes Mächen, un bei so einer wird gleich was geredt'!«
Nein, hier gab's nichts anzuzweifeln! Bleich vor Wut starrte der Sohn dem Vater in die Augen. »Sie ist ein so anständiges Mädchen, wie es nur eines gibt! Wie darfst du so von ihr sprechen?! Wie darfst du dich unter –« Er stockte, er war zu wütend, die Stimme versagte ihm.
»›Unterstehen‹ – sag's nur heraus, ›unterstehen‹!« Schlieben beherrschte sich jetzt mehr, er war etwas ruhiger geworden, denn was er auf seines Jungen Gesicht sah, dünkte ihn ehrliche Entrüstung. Nein, ganz verdorben war der doch noch nicht, der war wohl nur verführt, solche Frauenzimmer hängen sich ja mit Vorliebe an noch sehr junge Leute! Und er sagte mit einer gutgemeinten Überredung: »Mache dich los von der Geschichte, so bald als möglich. Du ersparst dir viel Unangenehmes. Ich will dir wohl helfen dabei!«
»Danke!« Der junge Mensch steckte die Hände in die Hosentaschen und stellte sich breitbeinig auf.
Die weiche Stimmung war längst verflogen, die hatte Wolfgang sofort verloren beim ersten Schritt ins Zimmer; nun war er recht in der Laune, sich nichts, aber auch gar nichts gefallen zu lassen. Sie hatten Frida beschimpft!
»Wo wohnt sie?« fragte der Vater.
»Ja, das möchtest du wohl wissen!« Der Sohn lachte höhnisch auf; er empfand eine gewisse Genugtuung, ihrer Neugier das vorzuenthalten. Das würden sie nie erfahren! Das hatte er ja gar nicht nötig, sie wissen zu lassen! Protzig warf er den Kopf in den Nacken und antwortete nicht.
O Gott, was war aus dem Jungen geworden! Ganz entsetzt starrte Käte drein: er hatte sich ja völlig gewandelt, war ein ganz, ganz andrer geworden! Aber dann kam die Erinnerung – sie hatte ihn doch einmal so sehr geliebt – und der Schmerz, ihn gänzlich und auf immer verloren zu haben. »Wolfgang, sei doch nicht so, ich bitte dich! Wolfgang, wir meinen es doch so gut mit dir!«
Er maß sie mit einem unerklärlichen Blick. Und dann sah er an ihr vorbei ins Leere hinaus.
»Es wäre besser, ich wäre gar nicht da!« stieß er plötzlich hervor, ganz unvermittelt. Es wollte trotzig klingen, aber der Trotz erstickte im jähen Ausbruch einer schmerzlichen Erkenntnis.