Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Frida Lämke feierte ihren zehnten Geburtstag. »Darfst du kommen, kriegen wer Kuchenschnecken mit Rosinen, aber därfst du nich kommen, jibt's nur Schrippen wie alle Tage,« sagte sie zu ihrem Freund Wolfgang. »Sieh man zu, det se dir lassen!« Es lag ihr am meisten daran, daß Wolfgang kam; wegen Flebbe wurden keine Unterschiede gemacht, obgleich der immer sagte, sie wäre seine Braut.
Und Wolfgang quälte seine Mutter. »Laß mich doch hingehen – warum denn nicht? Ich möchte doch so gern – warum denn nicht?!«
Ja, warum denn nicht?! Mit diesem Warum lag er ihr seit vierundzwanzig Stunden in den Ohren; es zermürbte sie ganz. Was sollte sie ihm sagen – daß ihr Frida mißfiel? Aber was hatte das Mädchen denn eigentlich getan, daß es ihr mißfiel? Nichts! Es knickste immer höflich, war stets ordentlich gekleidet, hatte sogar das blaue Band mit einer gewissen Anmut in den blonden Zopf geflochten. Die Eltern waren auch ganz respektable Leute, und doch – immer trieben sich diese Kinder auf der Straße herum, jederzeit, sommers und winters! Man mochte vorbeikommen, wann man wollte, immer waren diese Lämkes vor der Tür! War es die Straße selber, die sie aus diesem stupsnasigen, für sein Alter sehr entwickelten Mädchen ansah? Nein, zu diesen Leuten hingehen, ins Haus, hinuntersteigen in diese Atmosphäre der Portierstube, nein, das durfte er nicht!
»Ich möchte nicht, daß du hingehst,« sagte sie. Sie hatte doch nicht das Herz, diesen bittenden Augen gegenüber zu sagen: ›Ich will es nicht!‹
Und das Kind ersah seinen Vorteil. Es fühlte deutlich: ›sie kämpft mit sich‹, und mit einer grausamen Hartnäckigkeit verfolgte es seinen Wunsch.
»Laß mich doch – ach, laß mich doch! Ich bin aber sehr traurig, wenn ich nicht darf. Dann hab' ich zu nichts mehr Lust. Warum soll ich denn nicht? Mutti, ich will dich auch so liebhaben, wenn du mich gehen läßt – laß mich – ja? Ich will aber doch!«
Sie konnte sich nicht mehr retten vor ihm, er ging ihr nach auf Schritt und Tritt, er faßte ihr Kleid, und – wenn sie's ihm auch verwies, die Bitte noch öfter zu wiederholen –, sie fühlte es, er dachte doch unablässig nur das eine. So zwang er sie.
Schlieben verhielt sich weit weniger ablehnend gegen diese Einladung von Lämkes. »Warum nicht? Es sind ja ganz anständige Leute. Das schadet dem Jungen nichts, wenn er auch mal in die Kreise hineinguckt. Ich bin auch als Junge zu unsern Leuten in die Wohnung gekommen. Und warum denn nicht?!«
Sie wollte sagen: ›Das war auch etwas ganz andres, bei dir hatte es keine Gefahr‹ – aber dann besann sie sich und sagte es nicht. Sie wollte ihm nicht schon wieder mit ihren Befürchtungen, ihren Zweifeln, ihrer geheimen nagenden Angst kommen, die keinen greifbaren Grund hatte, sich nicht deutlich machen ließ, wie man am Ende jede andre Empfindung erklären kann. Wie ein sinkender Nebel schwebte stets etwas über ihr. Aber warum es ihm sagen?! Sie wollte sich weder darüber schelten noch darüber auslachen lassen; beides würde ihr gleich empfindlich sein. Er war ja nicht mehr so wie früher! O – sie empfand es mit einer leisen Bitterkeit – wie hatte er sie doch vormals verstanden! Jede Regung, jede Schwingung ihrer Seele hatte er mitgefühlt. Dieses ahnende Verstehen war ihm abhanden gekommen – oder verstand sie ihn vielleicht nicht mehr?!
Aber er war doch noch ihr lieber Mann, ihr guter, getreuer, den sie liebte wie sonst auf der Welt nichts mehr – nein, den sie so liebte, wie sie Wölfchen liebte! Das Kind, ach, das Kind, das war die Sonne, um die sich ihr Leben drehte!
Wenn Paul doch noch so wäre, wie er früher gewesen war! Sie mußte ihn jetzt so oft heimlich ansehen und sich mit einer gewissen Verwunderung auch in seine äußere Persönlichkeit hineinfinden. Nicht daß ihm das Breiterwerden schlecht stand; die Fülle, die seine schlanke Gestalt mit der einst etwas steifen, immer korrekten Haltung angenommen hatte, paßte zu seinen Jahren, zu den silbrigen Fäden, die im Bart und an den Schläfen zu schimmern begannen. Paßte zu der bequemen Samtjoppe, die er jetzt immer anzog, sowie er nach Hause kam, paßte zu seinem ganzen Wesen. Merkwürdig, daß jemand ein so praktischer Mensch werden konnte, dem früher alles Geschäftliche lästig, ja, höchst zuwider war! Jetzt würde er nicht mehr das fremde Kind aus dem Venn auflesen, und – einen langen Blick heftete Käte auf den Gatten –, jetzt würde er's nicht mehr bei sich aufnehmen wie eine Gabe aus Märchenland!
Ob die Jahre auch sie so verändert hatten?! Ihr Spiegel zeigte ihr keine zu große Veränderung. Da war noch ganz dieselbe mädchenhafte Figur, die doppelt zart erschien neben der Behäbigkeit des Gatten. Noch war ihr Haar blond, und sie errötete noch wie ein junges Mädchen, dem schon ein streifender Blick das leicht bewegliche Blut unter die zarte Haut treibt. Ja, äußerlich war sie noch jung geblieben! Aber innerlich überkam sie doch oft eine Müdigkeit. Wolf machte ihr den Kopf gar so warm. Eine Mutter, die zehn, fünfzehn Jahre jünger war als sie, die würde es vielleicht nicht gleich ihr empfinden, wieviel Kräfte solch ein Kind kostet! Würde die nicht noch lachen, wenn es ihr schon zum Weinen war?
O Gott, welch ungestüme, unerschöpfliche Lebenskraft war in diesem Jungen! Sie war erstaunt, verwirrt, erschöpft davon. Wurde er denn nie müde? Immer auf den Beinen, um sechs schon auf, immer heraus, heraus! Schon um Tagesgrauen hörte sie ihn sich rastlos werfen. Er schlief neben ihnen, die Verbindungstür nach seinem Zimmer blieb immer auf, obgleich ihr Mann darüber schalt: der Junge wäre groß genug, brauchte die Aufsicht nicht. Nachts wenigstens könnte man sich die Störung ersparen!
Aber sie wollte, sie mußte auch seinen Schlaf bewachen. Oft hörte sie ihn sprechen im Traum, so tief Atem holen, als beenge ihn etwas. Dann schlüpfte sie aus dem Bett, leise, leise, damit ihr Mann sie nicht hörte, zündete kein Licht an, suchte sich tastend, auf bloßen Füßen, den Weg ins Nebenzimmer. Und dann stand sie an seinem Bett. Noch hatte er das hübsche Gitterbett seiner ersten Knabenjahre – aber wie lange noch, und dies Bett war zu klein?! Wie er wuchs, so unheimlich schnell! Vorsichtig, mit leichter Hand, fuhr sie über seine Decke und fühlte darunter den langgestreckten Knabenleib. Jetzt warf er sich, stöhnte, bäumte sich auf wie einer, der gegen etwas anringt. Was hatte er nur? Jetzt sprach er undeutlich. Von was träumte er denn so lebendig? Er schwitzte über und über.
Wenn sie ihn nur sehen könnte! Aber sie traute sich nicht, Licht zu machen. Was sollte sie ihrem Mann sagen, wenn er, vom Lichtschein geweckt, sie fragen würde: ›Was machst du denn da –?‹ Und Wölfchen würde auch aufwachen und fragen: ›Was willst du denn?‹
Ja, was wollte sie denn eigentlich?! Darauf wußte sie sich keine bestimmte Antwort. Wissen hätte sie nur mögen, was seine Seele im Traum so beschäftigte, daß er seufzte und rang. Von was träumte er? Von wem?! Wo war er im Traum?!
Zitternd stand sie auf ihren bloßen Füßen an seinem Bett und lauschte. Und dann beugte sie sich über ihn, so dicht, daß sein Atem, unruhig und heiß, ihr Gesicht anwehte, und hauchte wiederum ihn an – mengten sie nicht so ihre Atemzüge, gab sie ihm nicht so Odem von ihrem Odem? – und flüsterte leise und doch so eindringlich, bittend und beschwörend zugleich: »Die Mutter ist hier, die Mutter ist bei dir!«
Aber mit einem Ruck warf er sich auf die andre Seite, drehte ihr den Rücken zu und murmelte. Lauter Unverständliches, selten ward ein Wort deutlich, aber es war genug auch so; sie fühlte: er war nicht hier, nicht bei ihr – weit fort! Suchte seine Seele im Traum die Heimat, die er nicht kannte, die er nicht einmal ahnen konnte und die doch so mächtig war, daß sie ihn, auch unbewußt, an sich zog?!
Von einer Unruhe ohnegleichen gepeinigt, stand Käte an Wolfgangs Bett: eine Mutter und doch keine Mutter! Ach, sie war ja nur eine fremde Frau am Bett eines fremden Kindes!
Und sie schlich sich zurück auf ihr Lager und vergrub ihre hämmernde Stirn tief in die Kissen. Heftig fühlte sie ihr Herz pochen, und sie schalt sich selber darüber, daß sie sich so unnütze Gedanken machte. Sie änderte ja nichts dadurch, ward nur müde und traurig.
Wenn Käte nach solchen Nächten aufstand, fühlte sie den besorgten Blick ihres Mannes, und ihre Hände, die das reiche Haar aufsteckten, zitterten. Gut, daß ihr eine Nadel entfiel, da konnte sie sich doch rasch bücken und ihr überwachtes Gesicht mit den umschatteten Augen seinen forschenden Augen entziehen. –
»Ich bin wieder gar nicht mit dem Befinden meiner Frau zufrieden,« klagte Schlieben dem Arzt. »Sie ist wieder schrecklich nervös!«
»So?!« Geheimrat Hofmanns freundliches Gesicht wurde energisch. »Ich will Ihnen was sagen, lieber Freund, da geh'n Sie nur gleich dagegen an!«
»Das nützt nichts!« Schlieben schüttelte den Kopf. »Ich kenne doch meine Frau. Der Junge macht's, der verdammte Junge!«
Und er nahm sich Wolfgang vor. »Hör mal, du mußt die Mutter nicht immer so quälen! Merke ich noch einmal, daß sie sich über dich kränkt, weil du ungezogen bist, so sollst du mich kennen lernen!«
Quälte er denn die Mutter?! Wolfgang machte ein verdutztes Gesicht. Und ungezogen war's doch auch nicht, wenn er gern zu Lämkes wollte! Das quält, wenn man innen sitzen muß, während draußen der Wind pfeift und einem so lustig das Haar zerwühlt! Und das quälte ihn auch, daß er heute nicht zu Lämkes sollte.
»So geh nur hin,« sagte Käte. Sie fuhr sogar noch vor Tisch nach Berlin hinein und kaufte eine Puppe, eine hübsche Puppe mit blonden Locken, mit Augen, die sich schlossen und öffneten, und mit einem rosa Kleid. »Die bringe Frida zum Geburtstag mit,« sagte sie am Nachmittag und händigte sie dem Knaben ein. »Halt! Vorsicht!«
Er hatte ungestüm zugepackt, es freute ihn doch zu sehr, daß er Frida was bringen konnte. Und in einer seltenen Regung – er war kein Freund von Zärtlichkeiten – reckte er der Mutter das Gesicht hin und empfing, in einer Aufwallung von Dankbarkeit, ihren Kuß. Er ließ ihn sich mehr gefallen, als daß er nach ihm verlangte, sie fühlte das wohl, aber sie war doch froh darüber, und mit einem Lächeln, das ihr ganzes Gesicht erhellte, sah sie ihm dann nach.
»Aber vor Dunkelwerden bist du wieder zu Hause,« hatte sie ihm noch zugerufen. Ob er sie gehört hatte?
Wie er lief, davonjagte, leichtfüßig wie ein Hirsch! Noch nie hatte sie ein Kind so rasch laufen sehen. Er warf die strammen Beine, daß die Hacken hinten gegen die Schenkel schlugen; der Wind blies ihm den breitkrempigen Matrosenhut in den Nacken, da riß er ihn ganz ab und rannte barhäuptig weiter, so eilig hatte er's.
Was zog ihn nur so mächtig zu diesen Leuten?!
Von Kätes Gesicht verschwand das Lächeln, sie trat vom Fenster zurück. –
Wolfgang war glücklich. Er saß bei Lämkes in der Stube, in der zur kälteren Jahreszeit auch gekocht wurde. Die Schlafstätte der Eltern war durch einen Vorhang abgegrenzt; Frida schlief auf dem Sofa und Artur nebenan in dem Kämmerchen, das auch die Schippen und Besen, die Vater Lämke zur Haus- und Straßenreinigung brauchte, beherbergte.
Noch war es nicht Winter, noch freundlicher Herbst, aber doch roch es schon in der Stube hübsch warm und mollig. Mit dem zarten Duft der blassen Monatsrose und des Nelkenstocks, der Myrte und des Geraniums, die, dicht an das fast ebenerdige Fenster gerückt, alle blühten, mischte sich der strengere Geruch des Kaffees, den Frau Lämke in der großen Emaillekanne brühte. Zu Hause bekam Wolfgang nie Kaffee, hier bekam er welchen; und er schlürfte ihn, wie er die andern ihn schlürfen sah, nur empfand er ein noch größeres Behagen dabei. Und nie hatte ihm ein Stück Torte so gut geschmeckt wie diese einfache Schnecke, die eher Semmel als Kuchen war; er kaute mit offenem Mund, und als Frau Lämke ihm, dem geehrtesten Gast, noch eine zweite Schnecke zuschob, nahm er sie mit strahlendem Gesicht.
Frau Lämke fühlte sich sehr geschmeichelt durch seinen Besuch. Aus der Puppe aber hatte sie sich nicht viel gemacht; die hatte sie Frida gleich weggenommen und in den Schrank geschlossen: »Det de ihr nich jleich verknutschst! Un iebrigens biste doch keen Herrschaftskind, det uff alle Dage mit Puppens spielt. Schade um det Jeld!« Aber nachher, als Vater Lämke aus der Portierloge, wo er in seinen Mußestunden saß und Stiefel flickte, herunterkam, um auch eine Tasse Geburtstagskaffee zu trinken und eine Schnecke zu essen, wurde die Puppe doch wieder vorgeholt und ihm gezeigt.
»Fein, was? Hat sie von Wolfjangen seine Mama. Sieh mal, Lämke« – die Frau hob der Puppe das rosa Kleidchen auf und zeigte darunter das weiße, mit einer kleinen Spitze besetzte Volantröckchen – »so 'ne Frisur, janz jenau so 'ne hatte ik Frida'n um 't Taufkleidchen jenäht. Jotte doch, sie war doch det erste, da denkt man, et is noch wat Besondret! Ach ja –,« sie seufzte und legte die Puppe wieder in den Schrank zurück, in dem neben allerlei Krimskram die reinen Bettbezüge und ihr und Fridas Sonntagshut lagen – »wie de Zeit verjeht! Nu is se schonst neune!«
»Zehne,« verbesserte Frida. »Ich bin doch heute zehne jeworden, Mutter!«
»Richtig – nee, schonst zehne!« Die Frau lachte und schüttelte den Kopf, über diese Vergeßlichkeit verwundert. Und dann nickte sie ihrem Manne zu: »Weeßte noch, Lämke, wie se jeboren wurde?«
»Un ob,« sagte er und schenkte sich nochmals aus der unerschöpflichen Kanne ein. »Det war 'ne schöne Tur, wie se jeboren wurde – na, ich danke! Die Jöhre hat dir scheene zujesetzt! Un mir mit, ich kriegte ordentlich Manschetten. Aber nu, Alte – ä, zehn Jahre her, nu is et ja bald jar nich mehr wahr!«
»Un wenn et hundert her wäre, det verjäße ik nich, o nee!« Die Frau hob abwehrend die Hand. »Ik wollte mir jrade wie heute, so um viere 'rum, Kaffee kochen, ik hatte so 'n Jieper drauf, da jing 't los. Jrade noch, daß ik bis iebern Flur kam – weeßte, du warst damals noch in de Werkstelle bei Stiller, un wir wohnten in de Alte-Jakob, fünf Treppen links – un ik kloppte bei den Krawattenfritze drieben an un sagte: ›Ach, sein Se doch so jut,‹ sagte ik, ›schicken Se man fix Ihre Kleene bei die Wadlern, Spittelmarcht zehne, die weeß schon‹ – au weih, war mich schlecht! Un ik fiel uf'n nächsten Stuhl; se hatten alle Mühe, det se mir noch 'rieber kriegten. Un nu jing det los, ik konnte nich an mir halten, bei'n besten Willen nich; ik jloobe, se haben mir drei Häuser weit schreien jehört. Un det dauerte, det dauerte – et wurde Abend – du kamst zu Hause – et wurde Mitternacht – morjens fünfe, sechse, sieben – da endlich um neune sagte de Wadlern: ›det Kind, det is an'n Ende –‹«
»Mutter,« unterbrach sie der Mann und zwinkerte nach den Kindern hin, die ganz still am Tisch saßen und mit weitgeöffneten, neugierigen Augen lauschten, »nu laß't man jut sind! Det is ja nu allens lange vorbei, de Jöhre is da, un is dich ja soweit janz jut jeraten!«
»Punkte elfe wurde se jeboren,« sagte Frau Lämke träumerisch und nickte ernsthaft dabei und atmete dann so tief auf, als hätte sie einen hohen Berg überklettert. Und dann rief sie ihre Tochter zu sich heran, heute, am zehnten Geburtstag ihrer Erstgeborenen, von Leid und Freude einer nach zehn Jahren noch so unendlich lebendigen Erinnerung überflutet.
»Komm man, Frida!« Und sie gab ihr einen Kuß.
Frida, ganz verdutzt durch diese unvermittelte Zärtlichkeit, lachte ihren Bruder Artur und die beiden andern Knaben dumm an, und dann entschlüpfte sie zur Türe: »Können wer jetzt spielen jehn?«
»Macht, det ihr 'rauskommt!«
Da stürzten sie voller Fröhlichkeit aus der dunklen Portierwohnung, die unten im Souterrain lag, hinauf.
So hell war's auf der Straße, so heiter schien die Sonne, Wind wehte frisch, fern flog ein Drache übers Feld. Wenige Fußgänger, keine Wagen. Die Straße gehörte ihnen, und mit Hallo stürmten sie dahin: wer zuerst dort am Laternenpfahl an der Ecke war, der war Hauptmann!
Wolfgang hätte sich diese Ehre sonst nie nehmen lassen, aber heute mußte er Gendarm sein, er war der letzte gewesen. Langsam und stumm war er den andern gefolgt. Etwas saß ihm im Kopfe fest, das machte ihn schwerfällig und hemmte seinen Lauf; er mußte darüber denken, denken. Das wurde er nicht los, selbst als er mitten drin war im Lieblingsspiel; erst dann vergaß er's, als er mit Hans Flebbe eine große Balgerei hatte. Dieser hatte ihn ins Gesicht gekratzt, darum riß er ihm jetzt ein Büschel Haare aus. Am nächsten Gartengitter hielten sie sich gepackt.
Artur, ein kleiner Schwächling, hatte sich nicht am Streite beteiligt, aber er schrie, die Hände in den Hosentaschen, mit kreischender Stimme hinein in den Kampf, den die beiden wortlos miteinander ausfochten.
»Flebbe, hau ihm! Mit de Faust unter de Neese – tüchtig!«
»Wolfjang, man zu! Zeig ihm, was 'ne Harke is, immer 'ruf uff ihn!«
Frida hüpfte lachend von einem Bein aufs andere, der blonde Zopf tanzte auf ihrem Rücken. Aber dann wurde ihr Lachen auf einmal ein wenig verlegen-bang: der mehrere Jahre ältere Hans hatte Wolfgang untergekriegt und hämmerte ihm nun mit der Faust ins Gesicht.
»Flebbe, du!« Sie zerrte ihn an der Bluse, und als das nichts half, stellte sie ihm flink ein Bein. Da stolperte er darüber, und Wolfgang, gewandt den Augenblick nutzend, schwang sich nach oben und besorgte es nun dem Feind grimmig.
Das war kein Spiel mehr, keine gewöhnliche Jungensbalgerei. Wolfgang fühlte sein Gesicht wie Feuer brennen, ein Kratz lief ihm die Wange herab bis zum Kinn, vor seinen Augen tanzten Funken. Jetzt hatte er alles vergessen, was ihn vorher so stumm gemacht, er fühlte eine wilde Lust, laut brüllte er auf.
»Du, Wolfjang! Wolfjang, nee, det jilt nich,« schrie der Unparteiische. »Det is doch keen Spaß nich mehr!« Artur schickte sich an, Wolf, der auf des Gegners Brust kniete, die Beine festzuhalten.
Ein Ruck, und er flog zur Seite. Zitternd vor Wut kehrte sich Wolf nun auch gegen ihn; seine schwarzen Augen funkelten. Das war kein wohlgezogenes, wohlgekleidetes, herrschaftliches Kind mehr, das war eine ganz elementare, ungezügelte, unbezwungene Kraft. Er schnaufte, er keuchte – da, ein Ruf!
»Wolfjang, Wolfjang!«
»Du,« mahnte Frida, »Mutter ruft! Un euer Mädchen steht bei un winkt!«
Von der Haustür her tönte wiederum Frau Lämkes Stimme: »Wolfjang, Wolfjang!« Und nun ließ sich auch Lisbeth spitzen Tones vernehmen: »Na, wird's bald? Sollst zu Hause kommen!«
Frau Lämke lachte. »Na, lassen Se man, se waren so verjniegt!« Aber dann bekam sie doch einen Schreck, als sie des Knaben beschmutzten Anzug sah, und fing an, daran herumzuwischen. »Jotte, wie sieht de scheene Bluse aus – un de Hosen!« Sie bekam einen roten Kopf und wurde noch röter, als sie den feurigen Kratz bemerkte, der über des jungen Herrn Backe lief. »Dir haben se ja scheene zujericht' – Jöhren, verdammte! Na, wartet ihr man!« Sie drohte Hans Flebbe und den eigenen Kindern, aber es war doch kein wirklicher Ernst in ihrer Drohung. Halblaut, mit einem schmunzelnden Zucken um die Mundwinkel, sagte sie zu Lisbeth, die in starrer Entrüstung dastand: »Dolle Jöhren, was? Na, det is nu ebent nich anders, so waren wer alle auch, als wer noch jung waren!« Und sich wieder zu Wolfgang wendend, fuhr sie ihm gutmütig mit der arbeitsrauhen Hand über den feurigen Kratz: »Det war doch 'n Hauptspaß, was, Wolfjang?«
»Ja,« sagte er aus tiefster Seele. Und dann, als er ihr Auge so freundlich-verständnisvoll auf sich gerichtet sah, war es ihm, als wäre er dieser Frau sehr gut. –
Es war ein herrlicher Nachmittag gewesen. Aber als er nun neben Lisbeth nach Hause ging, sprach er nicht davon; sie hätte ja doch die Nase gerümpft.
»Na, gnäd'ge Frau is schön böse,« sagte Lisbeth – sie sprach mit dem Knaben nie anders als von der ›gnädigen Frau‹ – »was bleibste denn auch so ewig lange?! Hast du nicht gehört, daß gnäd'ge Frau gesagt hat, du sollst vor Dunkelwerden zu Hause kommen?«
Er blieb stumm. Mochte die nur schwatzen, das war ja gar nicht wahr! An ihr vorbeisehend, starrte er in die Dämmerung. Aber als er zu Hause ins Zimmer trat, merkte er doch, daß die Mutter auf ihn gewartet hatte. Böse war sie freilich nicht, aber sein Abendbrot: ein Ei, ein Schinkenbrötchen, die Milch im silbernen Becher, alles zierlich zurechtgemacht, stand schon da, und sie saß gegenüber seinem Platz, hatte die gefalteten Hände auf das weiße Tischtuch gelegt und die Brauen ungeduldig-finster zusammengezogen.
Die große Hängelampe, deren Gaslicht hell über den Tisch leuchtete und den gesenkten Frauenscheitel goldig flimmern ließ, machte das Gesicht nicht heller.
Die Mutter war in Seide, in heller Seide, in einem Kleid mit Spitzen, das über Hals und Arme nur etwas wie einen ganz dünnen Schleier hatte. Aha – nun fiel's ihm ein – sie sollte ja um acht Uhr den Vater, der heute zu Mittag gar nicht nach Hause gekommen war, in der Stadt treffen und mit ihm in eine Gesellschaft gehen! Aha, darum hatte er so früh nach Hause kommen müssen?! Als ob er nicht allein ins Bett finden könnte!
»Du kommst ja so spät,« sagte sie.
»Du hättst ja schon gehen können,« sagte er.
»Du weißt, mein Kind, daß ich nicht ruhig bin, wenn ich dich nicht hier zu Hause weiß!« Sie seufzte: »Wie könnte ich das auch!«
Erstaunt sah er sie an: warum sagte sie das? Hatte ihn etwa wieder jemand verpetzt? Warum war sie so komisch?!
Mit großen Blicken, als sei sie ihm ganz fremd in diesem Kleide, das so nackt an Hals und Armen ließ, betrachtete er sie. Nachdenklich schob er die Bissen seines Abendbrotes in den Mund und kaute langsam. Er mußte auf einmal wieder so sehr an das denken, was er Frau Lämke hatte erzählen hören. Wie er geboren wurde, davon hatten sich Vater und Mutter nie etwas erzählt!
Und er hielt plötzlich inne mit Kauen und fragte in die Stille des Zimmers, in die Stille, die zwischen ihm und ihr war, ganz unvermittelt hinein: »Wie ich geboren wurde, hat's da auch so sehr lange gedauert?«
»Wie – was – wer – du?!« Sie sah ihn starr an.
Sie schien ihn nicht verstanden zu haben! Darum schluckte er rasch den Bissen, den er noch im Munde hatte, herunter und sagte recht laut und deutlich: »Ob's auch so lange gedauert hat, wie ich geboren wurde? Bei Frida hat's sehr lange gedauert. Hast du auch so geschrieen wie Frau Lämke?«
»Ich –?! Wer – ich?!« Sie wurde glühend rot und dann sehr blaß. Für einen Moment schloß sie die Augen, ihr schwindelte; es sauste ihr vor den Ohren, sie sprang vom Stuhl auf, hatte das Gefühl, fortlaufen zu müssen und konnte doch nicht. Mit bebenden Händen hielt sie sich am Tisch, aber die feste Eichenplatte war etwas Unsicher-wackelndes, Wogendes, Gleitendes geworden. Was – was sprach der Junge da? O Gott!
Sie biß sich auf die Lippen, schöpfte tief Atem, wollte sagen: ›Laß doch solch dumme Fragen,‹ und konnte das doch nicht. Sie rang mit sich. Endlich stieß sie heraus: »Unsinn! Mach rasch, iß auf! Dann gleich zu Bett!« Ihre Stimme klang ganz rauh.
Wieder traf sie des Knaben verwunderter Blick. »Warum bist du auf einmal so – so – so eklig? Wenn man nicht mal was fragen darf!« Und verdrossen schob er den Teller zurück und hörte auf zu essen.
Warum antwortete sie ihm nicht? Warum erzählte sie ihm nicht so etwas, wie Frau Lämke ihrer Frida erzählt hatte? War er denn nicht auch geboren? Und hatte sich denn die Mutter nicht auch gefreut, wie er dann geboren war? Es war recht häßlich von ihr, daß sie ihm nichts davon sagte! Merkte sie denn nicht, wie gern, wie schrecklich gern er etwas davon wissen wollte?!
Eine brennende Neugier war auf einmal in dem Kinde erwacht. Die quälte ihn, fraß förmlich an ihm. Die ganze Nacht würde er nicht schlafen können, immer, immerfort darüber denken müssen! Und er wollte doch gern schlafen, es war langweilig, wach zu liegen – er wollte, er mußte es wissen!
Käte sah, wie sich des Knaben Antlitz verfinsterte. Ach, der arme, arme Junge! Hätte sie ihn doch nur nicht zu jenen Leuten gehen lassen! Was hatte er dort erfahren, was wußte er? Hatten sie ihn mißtrauisch gemacht? Was wußten diese Leute? O, die hatten ihm Mißtrauen eingeflößt, wie würde er sie denn sonst mit solchen Fragen quälen?!
Heiße Angst schoß in ihr auf, und doch fühlte sie ihre Hände und Füße kalt werden wie Eis. Aber stärker noch als ihre Angst war ihr Mitleid – da saß er, ach, so traurig, und hatte Tränen in den Augen! Das arme Kind, das von seiner Geburt zu wissen verlangte und dem sie nichts sagen konnte, sagen wollte, sagen durfte! O, jetzt nur einen guten Gedanken, das richtige Wort!
»Wölfchen,« sagte sie sanft, »du bist noch zu jung dazu – jetzt noch nicht! Ein andermal! Du verstehst das ja noch gar nicht! Wenn du erst älter bist – ein andermal erzähle ich dir!«
»Nein, jetzt!« Sie hatte sich ihm genähert, er faßte sie am Kleid, hielt sie fest; mit der ihm eigenen, etwas schwerfälligen Hartnäckigkeit beharrte er: »Jetzt! Ich will es wissen – ich muß es wissen!«
»Aber, Wölfchen, ich – ich habe jetzt keine Zeit! Ich muß fort – ja, ich muß wirklich fort, es ist höchste Zeit!« Sie blickte im Zimmer herum und war ganz verwirrt: »Ich – nein, ich kann dir nichts erzählen!«
»Du willst nicht,« sagte er. »Und Frau Lämke hat es doch ihrer Frida erzählt!« Der Ausdruck mauliger Verdrossenheit schwand aus dem dunklen Knabengesicht und machte dem einer wirklichen Betrübnis Platz: »Du hast mich lange nicht so lieb, gar nicht so richtig lieb, wie Frau Lämke ihre Frida hat!«
Sie ihn nicht lieb haben –?! Sie ihn nicht lieb haben –?! Und das glaubte er?! Käte hätte aufschreien mögen. Wenn eine ihr Kind lieb hatte, so war sie's gewiß, und doch fühlte dieses Kind instinktiv: hier fehlt etwas! Fehlte dann nicht auch jenes rätselhafte Band, das eine wirkliche Mutter und ihr wirkliches Kind so unlösbar-geheimnisvoll, so tief innen verbindet?
»Wölfchen,« sagte sie zitternd-weich, »mein liebes Wölfchen,« und strich ihm mit der eiskalten Hand über die heiße Stirn. »Das glaubst du doch selber nicht, was du da sagst! Wir haben uns doch so lieb, nicht wahr?! Mein Kind – mein geliebtes Kind, sag?!«
Sie suchte seinen Blick, sie klammerte sich an seine Antwort.
Aber die Antwort, die sie ersehnte, kam nicht. Er sah an ihr vorbei. »Du erzählst mir ja doch nichts!«
Das kam nicht aus ihm! Jetzt auf einmal dies brennende Verlangen! Das hatte ihm jemand eingeflößt, es konnte nicht anders sein! »Wer –« fragte sie stockend – »wer hat dir gesagt – du sollst mich so fragen? Wer?!«
Sie hatte ihn bei den Schultern gefaßt, er machte sich frei. »Och, was bist du so komisch! Nee – niemand! Aber ich möcht's doch wissen. Ich sag' dir doch, ich möcht's wissen! Es quält mich so – ich weiß nicht warum – es quält mich eben!«
Es quälte ihn – jetzt schon, so früh?! O, dann war's eine Ahnung, eine Ahnung – wer wußte woher? – eine unbewußte Ahnung aus allerersten Kindheitstagen! Wie sollte das werden?! ›Gott, Gott, hilf mir!‹ schrieen ihre Gedanken. Jetzt galt es zu erfinden, zu erdichten, auszudenken! Diese quälenden Fragen durften niemals, nie mehr wiederkommen!
Und sie zwang sich, zu lächeln, und als sie fühlte, daß dies Lächeln kein Lächeln war, legte sie, hinter seinen Stuhl tretend, ihre Wange auf seinen Scheitel und ihre beiden Hände um seinen Hals. So konnte er nicht nach ihr umblicken. Und mit gedämpfter Stimme, wie man Kindern ein Märchen erzählt, sprach sie:
»Väterchen und ich waren schon lange verheiratet – denk mal an, fast fünfzehn Jahre schon! – und Väterchen und ich wünschten uns so sehr einen lieben Jungen oder ein liebes Mädchen, damit wir nicht so allein wären. Mal war ich eines Tages sehr traurig, denn alle andern Frauen hatten schon ein liebes Kind, nur ich nicht, und ich ging draußen umher und weinte, da hörte ich auf einmal eine Stimme – vom Himmel kam die – nein, ein Stimmchen – ein Stimmchen, das – und – und –« Sie verwirrte sich, stotterte und stockte: was sollte sie jetzt weiter sagen?!
»Hm,« machte er ungeduldig. »Und –?! Erzähl doch weiter! Und –?!«
»Und am andern Tag lagst du in unsrer Wiege,« schloß sie, ungeschickt-hastig, mit fast ersticktem Ton.
»Und –« er hatte sich von ihren Händen befreit, sich umgedreht und sah ihr nun ins Gesicht – »das ist alles?!«
»Nun – und wir – wir freuten uns sehr!«
»Wie dumm!« sagte er gekränkt. »So ist doch nicht ›Geboren-werden‹?! Frau Lämke erzählt es ganz anders. Du weißt es ja gar nicht!« Zweifelnd sah er sie an.
Sie wich seinem Blick aus, aber der seine ließ sie nicht los. Ihr war, als blickten diese forschenden Augen ihr bis auf den Grund der Seele. Da stand sie wie eine Lügnerin und wußte nichts mehr zu sagen.
»Du weißt es ja gar nicht,« wiederholte er noch einmal, bitter enttäuscht. »Gute Nacht!« Und schlorrte zur Tür.
Sie ließ ihn gehen, rief ihn nicht zurück zum Gutenachtkuß. Starr blieb sie sitzen.
Oben, im Zimmer über sich, hörte sie seine Tritte. Jetzt schleuderte er seine Stiefelchen aus, jetzt polterten sie in der Ecke – jetzt ward es still.
O, was sollte sie ihm dereinst sagen, wenn er mit vollem Bewußtsein Fragen an sie richtete, ein zu Fragen berechtigter, Antwort heischender Mensch?! Sie ließ sich auf den Stuhl fallen, auf dem er gesessen hatte, und stützte den Kopf in beide Hände.