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Käte wußte selber nicht, wie sie so über die Wochen der Trennung hinwegkommen konnte. So schlimm, wie sie sich's vorgestellt hatte, war es nicht. Sie fühlte, daß eine größere Ruhe über sie kam, eine Ruhe, die sie zu Hause nie finden konnte; und diese Ruhe tat ihr wohl. Sie schrieb ganz zufriedene Briefe, und die heiteren Berichte ihres Mannes von ›herrlichen Bergen‹ und ›herrlichem Wetter‹ freuten sie. Auch von Hoffmann, der ihr, wie er's versprochen hatte, treulich Kunde gab, hörte sie Gutes.
›Der Junge ist prächtig auf dem Zeuge‹, schrieb er, ›um den brauchen Sie sich keine Sorge zu machen, liebe Frau! Er muß jetzt freilich seine Gespielen entbehren – ein Junge und ein Mädel sind krank –, denn mit dem dicken Stöpsel, der noch übrig ist, langweilt er sich allein. Er ist meist für sich im Garten; Friedrich hat ihm Salatpflanzen gegeben, auch Radieschen hat er sich gesät. Bei der Schularbeit habe ich ihn übrigens auch schon getroffen.‹
Gott sei Dank! Es war der Frau, als könne sie nun, wie einer Last ledig, frei atmen. Den Brief des alten Freundes trug sie lange in der Tasche mit sich herum, las ihn beim Spazierengehen, im Sitzen auf einer Bank und abends, wenn sie im Bette lag. ›Ein Junge und ein Mädchen sind krank –‹ o, die armen Kinder! Was mochte ihnen fehlen? Aber, Gott sei Dank, er war nun meist für sich im Garten allein! Das war das Beste!
Sie schrieb an ihren Jungen einen Brief, so recht vergnügt, und er antwortete ihr, und auch vergnügt. Der Brief an sich war freilich ein wenig drollig. ›Teure Mutter –‹ wie komisch! Und der ganze Stil – wie aus einem Briefsteller abgeschrieben! Sie nahm sich vor, diesen Brief in ihren nächsten an Paul einzulegen – was der wohl dazu sagen würde?! ›Teure Mutter!‹ – aber das freute sie doch, und auch das ›Dein gehorsamer Sohn‹, das darunter stand. Sonst enthielt der Brief eigentlich nichts, nichts von dem, was er trieb, nicht einmal etwas von den Lämkes, auch kein sehnsüchtiges ›Komm bald wieder‹; aber er war doch mit Sorgfalt geschrieben, sauber und deutlich, nicht so hingekritzelt, wie er sonst zu kritzeln pflegte. Und daraus ersah sie seine Liebe.
Auch ein Bildchen hatte er ihr beigelegt: ein kleines Viereck mit Spitzenpapierrand, darauf ein schneeweißes Lämmchen ein rosenrotes Fähnchen hielt; darunter stand in goldiger Schrift: » Agnus Dei, miserere nobis.«
Wo hatte er das nur her?! Gleichviel woher, er hatte ihr etwas schenken wollen! Und das kleine geschmacklose Bildchen rührte sie tief. Der gute Junge!
Sie legte das Bildchen mit dem Gotteslamm sorgfältig zu ihren Wertsachen; da sollte es immer bleiben. Eine zärtliche Sehnsucht überkam sie nach dem Knaben, und sie begriff nicht, wie sie so lange schon hatte ohne ihn aushalten können.
Der August war vorüber, der September schon fast halb vergangen, als Käte nach Hause zurückkehrte. Ihr Mann, der vor ihr eingetroffen war, kam ihr entgegengereist; in Dresden trafen sie sich, und ihr Wiedersehen war ein sehr herzliches. Er konnte sich gar nicht genug freuen über ihre klaren Farben, ihren klaren Blick; und sie wiederum fand ihn prächtig gebräunt, jugendlicher, fast so schlank wie einst.
Hand in Hand saßen sie in dem Coupé, das er sich hatte reservieren lassen; ganz allein, wie junge Liebesleute, Sie hatten sich unendlich vieles zu sagen – da war nichts, gar nichts, was sie störte. Mit großer Innigkeit sahen sie sich in die Augen.
»Wie freu' ich mich, dich wiederzuhaben,« sagte sie, als er lange und lebhaft von seiner Reise erzählt hatte.
»Und ich erst dich!« Er nickte ihr zu und drückte ihre Hand. Ja, es war ihnen wirklich beiden, als wären sie eine Ewigkeit getrennt gewesen! Er zog sie noch näher an sich, hielt sie so fest, als wäre sie ein ihm schon halb entrissen gewesenes, teures Gut, und sie schmiegte sich an ihn, lehnte den Kopf an seine Schulter und lächelte verträumt.
Vor ihren halb geschlossenen Augen tanzten auf einem schwertbreiten, schrägen Sonnenstrahl unzählige goldne Stäubchen; das gleichmäßige Rasseln der Fahrt und das stille Gefühl einer großen Freude im Herzen lullte sie ein.
Plötzlich fuhr sie auf – war's ein Ruck, ein Stoß?! Wie ein Schreck hatte sie's durchfahren: sie hatte ja noch gar nicht nach dem Kinde gefragt!
»Wölfchen – was macht Wölfchen?!«
»O, dem geht's sehr gut! Aber nun erzähle du mal, mein Herz, wie hast du denn die langen Tage dort hingebracht? Wie war der Tag eingeteilt? Also morgens zum Brunnen – erst mal einen Becher, dann den zweiten – und dann? Nun?!«
Sie erzählte nicht. »Wölfchen ist doch gesund?« fragte sie hastig. »Es stimmt gewiß nicht ganz – du erzählst ja so wenig von ihm?! Ich habe immer schon solche Ahnung gehabt! Ach Gott, so sage doch!« Fast gereizt klang ihr Ton – wie konnte Paul nur so gleichgiltig sein! »Was fehlt Wölfchen?«
»Fehlt?!« Er sah sie ganz verwundert an. »Aber ich bitte dich, Käte, warum soll ihm denn durchaus etwas fehlen?! Er ist kerngesund!«
»Wirklich –?! Aber so erzähle doch, erzähle!«
Er lachte über ihre Ungeduld. »Was läßt sich von so einem Jungen erzählen?! Er schläft, ißt, trinkt, geht in die Schule, kommt nach Hause, läuft in den Garten, schläft, ißt, trinkt wieder und so fort, vegetiert wie die Pflanze im Sonnenschein. Erzähle du lieber, wie's dir geht!«
»O, mir – mir –« das kam ihr auf einmal so überflüssig vor – »mir, ganz gut, du siehst es ja!« Welch eine Gleichgiltigkeit hatte er gegen das Kind! Und sie – die Mutter – hatte es auch so lange vergessen können?! Eine solche Beschämung kam über sie, daß sie hastig den Kopf von ihres Mannes Schulter hob und sich gerade aufsetzte. Nun waren sie keine Liebesleute mehr, nur Eltern, die sich um ihr Kind zu kümmern hatten!
Und sie sprach nur von ihm.
Paul fühlte den plötzlichen Umschwung in der Stimmung seiner Frau. Eine Verstimmung beschlich ihn: waren sie doch wieder auf dem alten Fleck?! Hatte sie schon wieder für nichts andres Interesse mehr als für den Jungen?! Er empfand keine Neigung weiter, von seiner Reise zu erzählen.
Immer einsilbiger wurde die Unterhaltung; an der nächsten Station kaufte er sich eine Zeitung, und sie lehnte sich in die Ecke und versuchte zu schlafen. Aber so abgespannt sie auch war, es gelang ihr nicht; ihre Gedanken kreisten unruhig in allen möglichen Wendungen immer um den einen Punkt: also ihm fehlte nichts! Gott sei Dank! – Wie gleichgiltig Paul doch war –, aber ob Wölfchen sich sehr freuen würde, daß sie nun wieder kam? Der liebe Junge – der geliebte Junge!
Zuletzt mußte sie doch ein wenig geschlummert haben, denn auf einmal hörte sie, wie von ganz weit her, die Stimme ihres Mannes: »Mach dich fertig, mein Herz! Berlin!« – und fuhr auf.
Schon waren sie im Gewirr zahllos sich kreuzender Gleise. Jetzt rauschte der Zug unter die Glashalle.
»So weit wären wir!« Er half ihr hinaus, und sie fing an vor Ungeduld zu zittern. Das war ja endlos, dieses Treppab- und Treppauflaufen, dieses Hinübergehen auf den andern Bahnsteig und dann das Warten und Lauern auf den Vorortzug! Ob Wölfchen auch noch nicht schlief? Es würde dunkel sein, bis sie draußen waren!
»Kommt der Zug bald? Wieviel Uhr ist es? Mein Gott, wie lange das dauert!«
»Beruhige dich, der Junge wartet auf dich! Was denkst du wohl, der sitzt jetzt abends noch immer lange bei der Cilla; am Tage hat sie nicht so viel Zeit für ihn. Ein nettes Mädchen! Du hast einen guten Griff getan!«
Sie überhörte das ganz, dachte sie doch immerwährend daran, wie sie ihn finden würde. Ob er sehr gewachsen war?! Sich verändert hatte?! Kinder in seinem Alter sollen sich ja immerfort ändern – ob er sich verhäßlicht hatte oder ob er noch so hübsch war? Gleichviel – früher hatte sie mehr auf das Äußere gegeben – wenn er jetzt nur lieb, recht lieb war! Schon hörte sie seinen Jubelschrei, schon fühlte sie seine Arme um ihren Nacken, seinen Kuß auf ihrem Mund.
Der Wind, der angenehm abendlich geworden war, nach dem immerhin noch heißen Herbsttag, fächelte ihr Gesicht, ohne die von innen heraus glühenden Wangen kühler machen zu können. Als sie vorm Hause anhielten, das, anmutig versteckt, mit seinen Ballonen voll leuchtend roter Geranien hinter den immergrünen Kiefern unterm reichgestirnten Septemberhimmel lag, klopfte ihr das Herz, als wäre sie viel zu weit und zu rasch gelaufen. Endlich! Sie atmete tief auf: nun war sie wieder bei ihm!
Aber er kam ihr nicht entgegengelaufen. Daß er auch gar nicht aufgepaßt hatte!
»Sie werden auf der Veranda, hinten heraus, sitzen,« sagte Schlieben. »Da sitzen sie immer des Abends!« Er blieb ein wenig zurück. Mochte Käte den Jungen nur erst mal für sich allein begrüßen!
Und sie eilte durch die Halle, an dem freundlich strahlenden Gesicht der Köchin vorüber, sah nicht den Friedrich, der jetzt die Dienerlivree angelegt hatte, nachdem er vorher noch alles mit seinen selbstgezogenen Blumen dekoriert hatte; sie bewunderte weder seine gärtnerischen Erfolge, noch die selbstgebackene Torte, die die Köchin auf den festlichen Tisch gestellt hatte. Aus der Halle war sie in ihren kleinen Salon und von da durchs Eßzimmer gelaufen, dessen Tür auf die Veranda führte. Die Tür war geöffnet – nun stand sie auf der Schwelle – die draußen gewahrten sie nicht.
Von den Windlichtern auf dem Verandatisch brannte nur eins, leidlich hell, um nahebei zu leuchten. Aber Cilla tat nichts. Den Strumpf, den sie stopfen sollte, hatte sie im Schoß; ihre rechte Hand, in der sie die lange Stopfnadel hielt, ruhte lässig auf dem Tischrand. Sie hatte sich ein wenig hintenüber gelehnt; ihr Gesicht, in diesem Zwielicht feiner und schöner, war emporgehoben; sie schien nachzudenken, den Mund halbgeöffnet.
Von Wolfgang sah man nichts. Aber jetzt hörte die Mutter ihn sprechen im Ton des Bedauerns: »Weißt du nicht weiter? O!« Und dann drängend: »Weiter, Cilla, weiter, es war ja so schön!«
Aha, nun sah sie auch ihn! Er saß dem Mädchen zu Füßen, auf einem ganz niedrigen Schemel, dicht an dessen Knie gedrückt. Und er wendete das Gesicht jetzt zu dem Mädchen auf – bittend, begehrend – sah es an mit Augen, die wie polierter dunkler Achat glänzten, und sprach in einem Tone, wie die Mutter ihn noch nie von ihm gehört zu haben glaubte: »Singe, Cillchen! Liebes Cillchen, singe!«
Die Magd stimmte an:
»›Bebe nicht, sprach sie mit leiser Stimme‹ –
Ach nee!
›Ich erscheine nicht vor dir im Grimme‹ –
Nee, auch nich!
›Warum glaubt' ich Schwachs deinen Schwüren,‹ –
Nee, ich weiß nich weiter. Nu sag einer! Un ich hab's bei mir zu Hause doch so ofte gesungen. Bei uns im Dorfe, wenn wer abends gingen, mein Schatz un ich. I,« – sie stampfte ärgerlich auf – »daß mer so was auch vergessen tut!«
»Ärger' dich nicht, Cillchen! Du mußt dich nicht ärgern. Fang' doch noch mal von vorne an, das macht ja nichts. Ich hör's gern noch mal, immer noch mal! Fein ist das!«
›Cillchen – Cillchen‹ – wie spielerig das klang, ordentlich zärtlich! Und wie er an ihren Lippen hing!
Käte streckte den Kopf weit vor; sie stand schon auf der Veranda, und die beiden bemerkten sie noch immer nicht.
Die Magd sang, leierig und zeternd, wie sie daheim auf der Dorfstraße gesungen hatte, aber des Knaben Augen glitzerten und wurden groß dabei. Seine Lippen bewegten sich, als ob er's mitsänge:
»Heinrich lag bei seiner Neuvermählten,
Einer reichen Erbin von dem Rhein,
Schlangenbisse, die den Falschen quälten,
Ließen ihn nicht süßen Schlafs sich freun.
Zwölfe schlug's, es drang durch die Gardine.
Plötzlich eine kleine weiße Hand,
Was erblickt er? Seine –«
Die Sängerin stockte – ein tiefer Atemzug zitterte plötzlich über die Veranda. Der Knabe schrie erschrocken laut auf – da stand sie, da stand sie!
»Aber Wolfgang – Wölfchen!« Die Mutter streckte ihm die Arme entgegen, doch er verbarg den Kopf in dem Schoße der Magd.
Kätes finsterer Blick streifte das Mädchen: was war das für ein Unsinn, ihm solche Lieder vorzusingen!
»Och, die Frau – die gnädige Frau!« Rot werdend schnellte Cilla auf und ließ alles, was sie auf dem Schoß hatte – Strumpf, Stopfei, Wollknäuel und Schere – zu Boden gleiten; auch den Jungen.
Warum waren die beiden so erschrocken?! Als sei sie ein Gespenst, so starrte Wolfgang sie ja an!
Er war jetzt aufgestanden, hatte die Mutter begrüßt, mechanisch das Gesicht zu ihr aufgehoben, um ihren Kuß zu empfangen; aber sie merkte ihm keine Freude an. Oder war es Befangenheit, eine knabenhafte Scham, weil sie ihn belauscht hatte? Seine Augen sahen sie gar nicht voll an, streiften sie aber immerfort von der Seite. War sie ihm denn fremd geworden – so fremd?!
Eine unsägliche Enttäuschung durchzog der Heimkehrenden Herz, und ohne daß sie es beabsichtigte, klang der Ton schroff, in dem sie das Mädchen jetzt hinausgehen hieß. Sie setzte sich auf den eben verlassenen Platz am Tisch und zog ihren Knaben an sich.
»Wie ist dir's denn gegangen, Wölfchen? Nun sage doch – gut?!«
Er nickte.
»Hast du denn auch Mütterchen ein bißchen vermißt?!«
Er nickte wieder.
»Ich habe dir auch so viele schöne Sachen mitgebracht!«
Da wurde er lebhaft. »Hast du auch für Cilla was mitgebracht? Einen Nähkasten mit allerlei drin könnte die gut gebrauchen; weißt du, sie hat nur so 'nen alten von der Schule her. Och, die kann mal fein erzählen – so gruselig! Und singen! Laß dir das mal vorsingen:
›Ein niedliches Mädchen, ein junges Blut,
Erkor sich ein Landmann zur Frau,
Doch sie war einem Soldaten so gut
Und bat ihren Alten ganz schlau –‹
Ich sag' dir, zum Schießen ist das!«
Und lachend begann er weiterzuträllern:
»Er möchte doch fahren ins Heu, juchhei,
Ins Heu, juchhei –«
»St – – –!« Sie legte ihm die Hand auf den Mund. »Das ist gar kein schönes Lied – ein garstiges Lied! Das wirst du nie mehr singen!«
»Aber warum denn nicht?« Er sah sie mit runden Augen erstaunt an.
»Weil ich es nicht wünsche,« sagte sie kurz. Sie war empört: morgen, ja morgen, da würde sie dem Mädchen aber ihre Meinung nicht vorenthalten!
Jetzt waren ihre Wangen nicht mehr heiß; eine empfindliche Kühle schauerte über die Veranda, die ihr eisig bis an's Herz griff. Als Paul rief: »Aber, Käte, wo steckst du denn? Lege doch erst ab!« folgte sie rasch seinem Ruf.
Der Knabe blieb allein stehen und sah mit blinzelnden, träumerischen Augen in die milde, jetzt ganz dunkle Nacht. Ha, das war doch so schön, wie die Cilla gesungen hatte! Morgen mußte Cilla wieder singen und erzählen! Wenn sie nun auch wieder da war! Ein ungestörtes Plätzchen würde doch noch zu finden sein! –
Käte schlief gar nicht in dieser ersten Nacht, obgleich sie todmüde war. Vielleicht zu müde. Sie hatte noch eine lange Auseinandersetzung mit Paul gehabt, als sie schon zu Bette lagen. Er hatte ihr recht gegeben, daß weder das eine noch das andre Lied sehr passend war, aber – »Du lieber Gott,« hatte er gesagt, »was hört man als Kind nicht alles, und es geht spurlos an einem vorbei!«
»An dem nicht!« Und dann klagte sie: »Ich habe so oft versucht, ihm wirklich Schönes vorzulesen, das Beste unserer Dichter – aber gar kein Interesse, noch gar kein Verständnis! Und für solche – solche« – sie suchte einen Ausdruck und fand ihn nicht – »für so etwas begeistert er sich! Aber ich leide es nicht, ich dulde es nicht! Dergleichen darf nicht in seine Nähe!«
»Dann entlasse die Dienstboten,« hatte er ärgerlich gesagt. Er war eben im Einschlafen und wollte nicht mehr gestört sein. »Gute Nacht, mein Herz, schlaf dich aus! Übrigens bist du ja nun wieder da und wirst schon das Deine tun!«
Ja, das würde sie auch! –
Sie ließ den Knaben von nun ab nicht mehr aus den Augen. Und ihre Ohren waren überall. Es lag kein Grund vor, das Mädchen zu entlassen – es war ehrlich und sauber, tat seine Schuldigkeit – nur mit Wölfchen durfte es nicht mehr allein sein. Wolfgang ging jetzt ins zwölfte Jahr, eine Überwachung durch eine Dienerin war überhaupt nicht mehr möglich.
Aber es war schwer für Käte, ihren Vorsätzen treu zu bleiben. Ihr Mann machte doch auch seine Ansprüche, und ihr Haus, ihre Geselligkeit; es war nicht möglich, alles andre abzuschütteln, auszugeben, zu verabsäumen, nur um des einen: um des Kindes willen. Und sie durfte Paul doch auch nicht anhaltend verstimmen, ihn womöglich ernstlich gegen das Kind erzürnen; davor zitterte sie. Sie mußte zuweilen mit ihrem Mann in Gesellschaft gehen, er freute sich, wenn sie – gut angezogen – als liebenswürdige Frau gesucht ward. Er ging gerne – ach, und viel, viel zu oft! Gerade diesen Winter hatte sie geglaubt, doppelt auf der Hut sein zu müssen. Und sie instruierte die Köchin und den Diener, ersuchte beide dringend, aufzupassen. Die waren ganz verwundert: wenn die gnädige Frau so wenig zufrieden war, sollte die gnädige Frau doch der Cilla kündigen, zum ersten Januar gab's ja Mädchen genug!
Unwillig wendete sich Käte ab: wie häßlich von den Dienstboten, die andre herausbeißen zu wollen! Ungerecht durfte sie gegen das Mädchen denn doch nicht handeln. Und wenn ein andres ins Haus kam, konnte es da nicht ebenso sein?! Dienstboten sind immer eine Gefahr für Kinder. –
Wolfgang entwickelte sich sonst sehr gut, besonders körperlich. Nicht, daß er gerade so sehr in die Höhe schoß; er ging mehr in die Breite, wurde stämmig, mit einem festen Nacken. Wenn er mit den Lämkes vor der Tür Schneeballen warf, sah er älter aus als der gleichaltrige Artur, sogar älter als Frida. Er wurde eben anders genährt als diese Kinder. Mit Wohlgefallen sah die Mutter seine reine, frische Haut, die gepflegt war durch warme Bäder und die tägliche kalte Abreibung am Morgen. Und zum Friseur mußte er alle vierzehn Tage, da wurde der dichte, glatte, dunkle Haarschopf, der aber trotz aller Sorgfalt etwas Grobfädiges behielt, verschnitten, gewaschen und mit stärkender Essenz eingerieben. Beinahe verkümmert sahen die Lämkes aus gegen ihn; sie hatten ja auch vor nicht zu langer Zeit erst die Nachwehen des Scharlach überstanden. Wenn nur Wölfchen das nicht auch bekam! Käte hatte große Angst davor. Bis vor kurzem hatte sie ihn von den Lämkes ferngehalten; aber freilich in der Schule war stete Ansteckungsgefahr. Ach Gott, man kam wegen des Kindes eben nie zur Ruhe! –
* * *
Sie hatten sich recht munter draußen getummelt. Der See, der unterhalb der Villen, wie ein stilles Auge zwischen den dunklen Waldrändern liegt, war zugefroren; Wolfgang und die halbe Klasse liefen dort Schlittschuh: Käte war nach Tisch auch eine Weile am Ufer auf und ab gewandert und hatte ihren Jungen beobachtet. Wie nett er schon lief! Sicherer und besser als mancher der Jünglinge, die da Achter zogen und Kreise beschrieben, holländerten und mit ihren Damen tanzten. Er versuchte auch schon allerlei Kunststücke, er hatte wirklich Courage. Daß er nur nicht hinfiel oder einbrach! Und immer lief er der tiefen Mitte des Sees zu, wo noch Strohwische steckten! Der Mutter war, als könnte ihm nichts geschehen, wenn sie hier am Ufer stand und ihn unablässig mit den Augen verfolgte. Endlich aber erstarrten ihre Füße gänzlich, und sie mußte heimgehen.
Als er gegen Dunkelwerden nach Hause kam, war er unendlich frisch. Mit Freudigkeit sprach er vom Eislauf. »Ha, das war mal fein! Ich möchte immer so laufen – morgen, übermorgen – alle Tage – und immer weiter, weiter! Der See ist viel zu klein!«
»Bist du denn gar nicht müde?« fragte die Mutter und lächelte ihn an; sie konnte sich nicht satt an ihm sehen, er sah so strahlend aus.
»Müde?« Ein fast geringschätziges Lächeln zog seine Mundwinkel herab. »Ich werde nie müde. Von so was nicht! Die Cilla hat gesagt, sie möchte auch gern mal mit mir laufen!«
»Ach, warum nicht gar?!« Schlieben, der mit beim Kaffeetisch saß, lächelte gutgelaunt; es machte ihm Spaß, den frischen Jungen ein wenig zu necken. »Dann wird sich die Mutter eben während der Eiszeit ein zweites Hausmädchen engagieren müssen!«
Wolfgang verstand den leisen Spott nicht. Ganz glücklich rief er: »Ja, das soll sie tun!« Aber dann wurde sein Gesicht lang: »Aber sie hätte keine Schlittschuhe, sagt sie. Vater, du mußt ihr welche kaufen!«
»Den Kuckuck werd' ich – na, das fehlte noch!« Der Hausherr lachte laut auf. »Nein, mein Junge, die Cilla in Ehren, aber sie Schlittschuh laufen zu lassen, das wäre denn doch ein bißchen übertrieben! Nicht wahr?«
Er sah zu seiner Frau hin, die ganz gegen ihre Gewohnheit laut mit den Tassen klapperte. Sie sagte nichts, sie nickte nur stumm mit gänzlich veränderter, kühler Miene.
Der Knabe begriff das nicht: warum sollte die Cilla nicht Schlittschuh laufen?! Hatte die Mutter was gegen sie? Komisch! Immer, wenn ihm was so recht, recht gefiel, gefiel's ihr nicht!
Er stützte, an seinem Arbeitspult sitzend, den Kopf in beide Hände; der war ihm schwer. Die Augen brannten ihm und tränten, wenn er sie fest aufs Heft richtete – er mußte doch wohl müde geworden sein. Das wurde keine gute lateinische Arbeit! Im Geist sah er schon, wie der Lehrer die Achseln zuckte und ihm, über so und so viel Köpfe weg, das Heft auf die Bank feuerte: ›Schlieben, zehn Fehler! Junge, Mensch, zehn Fehler! Wenn du dich nicht zusammennimmst, kommst du Ostern nicht mit nach Quarta herüber?!‹
Pah, das war ihm ja ziemlich egal – nein, eigentlich ganz egal. Es war ihm überhaupt jetzt alles egal, schrecklich egal! Er fühlte sich auf einmal todmüde. Warum sie nur der Cilla nichts gönnen wollte? Die erzählte doch so fein! Was hatte die doch gestern abend, als die Eltern aus waren und sie sich an sein Bett geschlichen hatte, erzählt? Von – von – ?! Er konnte nichts mehr zusammenbringen, seine Gedanken verwirrten sich.
Der Kopf sank vornüber aufs Pult; die Arme lang vor sich über seine Bücher gestreckt, schlief er ein.
Als er erwachte, mochte wohl eine Stunde vergangen sein, aber er fühlte sich doch nicht ausgeruht. Fröstelnd, mit starren Augen sah er sich im Zimmer um. Alle Glieder taten ihm weh.
Und sie taten ihm auch die Nacht durch noch weh, er konnte nicht schlafen; mit schweren Füßen schleppte er sich am anderen Nachmittag auf die Eisbahn.
Viel früher als sonst kam er vom Schlittschuhlaufen wieder nach Hause. Er mochte nichts essen und nichts trinken, immer kam ihn eine Übelkeit an. »Sieht der Junge heute grün aus,« sagte der Vater. Die Mutter strich ihm besorgt die Haare aus der Stirn: »Fehlt dir was, Wölfchen?« Er verneinte.
Aber als wieder der Abend gekommen war und der Wind draußen in den Kiefern flüsterte und eine gespenstische Hand an die Fenster rührte – huh, eine kleine weiße Hand wie in Cillas Lied –, lag er im Bett, schüttelte sich vor Frost, trotz der weichen warmen Decke, fühlte, daß ihm der Hals weh tat und daß es in seinen Ohren stach und brannte.
»Er ist krank,« sagte Käte sehr besorgt am Morgen. »Wir wollen doch gleich Hofmann kommen lassen!«
»Ach, es wird schon nicht so schlimm sein,« beruhigte der Mann. »Laß ihn im Bette, gib ihm Zitronenlimonade zum Schwitzen und auch was zum Abführen. Er hat sich den Magen verdorben oder ist erkältet!«
Aber schon am Mittag mußte der Arzt herbeitelephoniert werden. Der Knabe lag, nicht mehr klar, in hohem Fieber.
»Scharlach!« Prüfend besah der Sanitätsrat die entblößte Brust und zog dann sorgfältig die Decke wieder höher. »Aber der Ausschlag ist noch nicht recht heraus!«
»Scharlach – ?!« Käte glaubte in die Kniee sinken zu müssen – o, davor hatte sie sich immer so sehr gefürchtet!
* * *
Das frische Frostwetter mit dem blanken Sonnenschein und dem fast sommerblauen Himmel hatte aufgehört. Graue Tage mit schwerer Luft hingen über dem Villendach; Käte, die am Fenster des Krankenzimmers stand und mit überwachten Augen hinausstarrte in die schwarzen Kiefernwipfel, die da trauerten in der Nebeltrübe, glaubte nie grauere gesehen zu haben.
Die Krankheit hatte den Knaben mit Macht gepackt; als sei sein vollsaftiger, wohlgenährter Körper so recht ein Herd, in dem die Flammen des Fiebers wüteten. Hofmann schüttelte den Kopf: überall war der Scharlach so gutartig aufgetreten, nur hier nicht! Und er warnte vor Erkältung, verordnete dies und das, tat sein Bestes – nicht bloß aus Pflicht, nein, aus tiefstem, herzlichstem Anteilgefühl heraus – er war dem strammen Jungen immer so gut gewesen. Sie taten alle ihr Bestes. Jede Vorsicht wurde angewendet, jede Rücksicht – es sollte ja alles, alles für ihn geschehen!
Käte war unermüdlich. Die Hilfe einer Krankenschwester hatte sie abgelehnt; mit Heftigkeit wehrte sie sich gegen ihren Mann, gegen den alten Freund: nein, sie wollte ihr Kind allein pflegen! Eine Mutter wird nicht müde, o nein!
Paul hatte nie geglaubt, daß seine Frau so viel leisten und dabei so geduldig sein könnte – sie, die Nervöse, so unermüdlich, so unverzagt! Wohl hatte sie immer einen leisen Tritt gehabt, nun hörte man ihn gar nicht mehr, wenn sie durch die Krankenstube glitt; bald war sie an der linken Seite des Bettes, bald an der rechten. Sie, deren Kräfte so leicht versagten, wenn auch der Wille gut war, war immer, immer auf dem Platz. Es gab viele Nächte, in denen sie keine Stunde Schlaf fand; wie ein Schatten saß sie dann am Morgen in dem großen Lehnstuhl am Bett, aber sie war doch voller Freudigkeit: Wölfchen hatte ja fast zwei Stunden geschlafen!
»Tu dir nicht zu viel, tu dir nicht zu viel,« bat der Mann.
Sie wies ihn ab: »Ich fühl's nicht! Ich tu' es ja so gerne!«
Wie lange sollte das so gehen? Würden, konnten diese Kräfte anhalten?! »Laß doch wenigstens das Mädchen eine Nacht bei dem Jungen wachen! Sie will dich ja so gerne ablösen!«
»Die Cilla –?! Nein!«
Cilla hatte sich immer und immer wieder angeboten: o, sie wollte wohl gut aufpassen, sie verstand's, war doch auch ein kleiner Bruder von ihr am Scharlach gestorben! »Lassen Sie mir,« bat sie, »ich schlafe nich, ich passe so gut auf!«
Aber Käte wies sie zurück. Es war ihr jedesmal wie ein Stich, wenn sie in den Nächten, die so schwarz und lang waren, ihren Knaben im Fiebertraum sprechen hörte: »Cillchen – wir wollen doch fahren ins Heu – juchhei – Cillchen!«
O, wie sie dieses rundwangige Mädchen mit den hellen Augen haßte! Aber mehr als sie es haßte, fürchtete sie es. In den Stunden der Finsternis, in jenen Stunden, in denen sie nichts hörte als das Stöhnen des Kranken und das rastlose Pochen des eignen Herzens, wandelte sich ihr das Mädchen in eine andre Gestalt. Groß und breit tauchte die auf aus der Nacht, stellte sich dreist ans Bett des Kindes, und in ihrem Blick, der stumpf war und ohne Intelligenz, flammte doch etwas auf vom Triumph der Macht.
Dann faßte die überwachte Frau sich wohl an die Schläfen, in denen es hämmerte, und streckte die Arme aus, wie abwehrend: nein, nein, du da, geh fort! Aber das Phantom blieb stehen am Bett des Kindes. Wer war es: die Mutter – das Venn – die Dienstmagd – Frau Lämke?! Ach, alle waren eins!
Über Kätes Gesicht liefen qualvolle Tränen. Wie der Junge jetzt lachte! Sie beugte sich über ihn, so dicht, daß ihrer beider Atemzüge sich mengten und, wie sie es früher schon getan hatte, flüsterte sie ihm auch jetzt zu: »Mutterchen ist hier, Mutterchen ist bei dir!«
Aber er gab kein Zeichen des Erkennens. – – – –
Cilla hatte ein dick verweintes Gesicht, als sie die Küchentür im Souterrain, an der leise geklopft wurde, öffnete. Flüsternd sagte Frau Lämke guten Tag; sie hatte bis jetzt immer die Kinder herangeschickt, aber gestern waren die mit einem so verwirrenden Bericht nach Haus gekommen, daß die Unruhe sie nun selber hertrieb. Sie wollte sich erkundigen. Draußen vor dem Gitter hielten zwei Doktorwagen, das hatte sie aufs neue erschreckt.
»Wie jeht's denn, wie jeht's denn heute?«
Das Mädchen brach in Tränen aus. Es zog stumm die Frau in die Küche, wo die Köchin, ohne in irgend einer Kasserolle zu rühren, am Herd lehnte und Friedrich eben, auf einen Druck der elektrischen Klingel von oben, wie ein Gehetzter hinaufschoß.
»Nee, ich sage schon!« Die Lämke schlug die Hände zusammen. »Is 's denn schlimm, wirklich so schlimm mit den Jungen?«
Cilla nickte nur, ihre überströmenden Augen in der Schürze verbergend, aber die Köchin sagte dumpf: »Es jeht zu Ende!«
»Zu Ende – stirbt er wirklich – der Wolfjang, der Junge?!« Die Frau starrte ungläubig: das konnte ja nicht sein! Aber sie war schreckensbleich geworden.
Die Köchin lenkte ein: »Nu, schlimm jenug is 's! Unser Doktor hat noch 'nen andern Professor zujezogen, 'nen janz berühmten – jestern war der schonst hier – aber sie jlauben nich, daß se noch was machen können. Die Krankheit is auf die Nieren jeschlagen und aufs Herz. Er kennt einen ja jar nich mehr! Heut morgen war ich drinne, ich wollt' ihn doch jerne noch mal sehn – da lag er janz steif und still, wie aus Wachs. Ich jlaube, das wird nischt mehr!« Die gutmütige Person weinte.
Sie weinten alle drei, um den Küchentisch sitzend. Frau Lämke vergaß ganz, daß sie diese Küche nie mehr hatte betreten wollen, und daß ihr Kohl, den sie daheim zum Mittagessen aufgesetzt hatte, nun wohl verbrannte. »Jotte doch, Jotte doch,« sagte sie ein über das andre Mal, »wie wird sie da über wegkommen, so 'n Kind – so 'n einzig liebet Kind!«
Oben standen die Ärzte am Krankenbett, der alte Hausarzt und die noch junge Autorität. Sie standen zur Rechten und zur Linken.
Der Ausschlag war ganz zurückgetreten; keine Spur von Röte war mehr auf dem Gesicht des Knaben, der die Augen mit den erschreckend dunklen Wimpern beharrlich geschlossen hielt. Die Lippen waren blau. Die breite, aber jetzt förmlich eingesunkene Brust zitterte und arbeitete.
Bei jedem mühsamen Atemzug atmete Käte mühsam mit. Sie saß im Sessel zu Füßen des Bettes, steil aufrecht; so hatte sie die ganze Nacht gesessen. Ihr angstvoll-bohrender Blick flog über die bedenklichen Gesichter der Ärzte und stierte dann an ihnen vorbei ins Leere. Da standen sie, zur Rechten und zur Linken – aber da, da – sahen sie's denn nicht?! – da zu Häupten stand der Tod!
Mit einem unartikulierten Laut bäumte sie sich auf, dann sank sie, wie geknickt, in sich zusammen.
Die Ärzte hatten dem todkranken Kinde eine Injektion gemacht; die Herzschwäche war sehr groß und ließ das Schlimmste befürchten. Dann empfahl sich die Autorität: »Auf morgen!« – aber es lag ein Achselzucken und ein ›Wer weiß!?‹ in diesem ›Auf morgen‹.
Der Hausarzt war noch geblieben; er konnte als Freund nicht gehen. Käte hatte sich an ihn geklammert: »Helfen Sie! Helfen Sie doch meinem Kinde!« Nun saß er mit Schlieben unten in dessen Arbeitszimmer; Käte hatte allein bei dem Kranken bleiben wollen, nur in der Nähe wissen wollte sie ihn.
Stumm saßen die beiden Männer bei einem starken Wein. »Trinken Sie, trinken Sie doch, lieber Freund,« sagte wohl der Hausherr; aber er selber trank auch nicht. Wie wird sie's ertragen, wie wird sie's ertragen?! Das surrte beständig durch seinen Kopf. Die Stirn in tiefe Falten gezogen, versank er in ein Brüten. Und der Arzt störte ihn nicht.
Droben lag Käte auf den Knieen. Vor dem Sessel, in dem sie all die bangen Nächte durchwacht hatte, war sie niedergesunken und hielt die Hände gegen ihre emporgehobene Stirn gedrückt. Jetzt suchte sie da oben, jetzt suchte sie den Gott, der ihr das Kind, das er ihr einst gütig in den Weg gelegt hatte, nun wieder grausam entreißen wollte. Sie schrie zu Gott in ihrem Herzen:
›Gott, Gott! Nimm ihn mir nicht! Du darfst ihn mir nicht nehmen! Ich habe sonst nichts mehr auf der Welt! Gott, Gott!‹
Alles, was sie um sich hatte, was sie sonst noch besaß, – auch ihr Mann – war vergessen. Sie hatte jetzt nur dieses Kind. Dieses einzige Kind, das so lieb, so gut, so klug, so brav, so folgsam, so schön, so reizvoll, so über alle Maßen liebenswert war, das ihr Leben so hoch beglückt, so reich gemacht hatte, daß sie arm, bettelarm wurde, wenn es von ihr ging.
»Wölfchen, mein Wölfchen!«
Wie war er immer, immer lieb gewesen, so ganz ihr Kind! Jetzt wußte sie nichts mehr von Tränen, die sie seinetwegen vergossen hatte; hatte sie je welche geweint, so waren es Freudentränen, ja, nur Freudentränen gewesen. Nein, sie konnte ihn nicht missen!
Aus ihrer betenden Stellung auffahrend, rutschte sie näher an sein Bett. Seinen erkaltenden Körper nahm sie in ihre Arme, bettete ihn in Verzweiflung an ihre Brust und hauchte ihren glühenden Atem über ihn hin. All ihre Wärme wollte sie ausströmen lassen in ihn, mit der Kraft ihres Wollens ihn festhalten auf dieser Erde. Wenn seine Brust nach Luft rang, so rang auch ihre Brust, wenn sein Herzschlag stockte, stockte auch der ihre. Sie fühlte sich kalt werden durch seine Kälte, ihre Arme erlahmen. Aber sie ließ ihn nicht. Sie rang mit dem Tode, der zu Häupten stand – wer war stärker, der Tod oder ihre, der Mutter, Liebe?!
Niemand konnte sie von des Knaben Bette verdrängen, auch nicht die Krankenschwester, die Hofmann, als er endlich am Nachmittag in die Stadt zurück mußte, herausgesandt hatte. Mit sanfter Gewalt versuchten die Pflegerin und Schlieben sie emporzuziehen: »Nur eine Stunde Ruhe, nur eine halbe! Nebenan oder auch hier auf dem Sofa!«
Aber sie schüttelte den Kopf und blieb auf den Knieen: »Ich halte ihn, ich halte ihn!« –
Es wurde Abend. Es wurde Mitternacht. Es hatte vordem stark geweht draußen, nun war es sehr still geworden. Totenstill. Kein Wind rüttelte mehr an den Kiefern, die ums Haus standen; kerzengerade gereckt standen sie gegen den hellen Frosthimmel, ihre Kronen waren steif wie aus unbiegsamer Pappe geschnitten. Unbarmherzig flinzelten die Sterne; in der schimmernden Silberplatte des gefrorenen Sees, den das starke Wehen reingefegt hatte vom feuchten Schnee der vorhergehenden Tage, spiegelte sich der Vollmond. Eine grimmige Kälte war urplötzlich gekommen, die alles einzufangen schien mit ihrem Todeshauch.
Fröstelnd schauerten die Wachenden zusammen. Als Schlieben auf den Thermometer sah, war er erschrocken, wie wenig der selbst hier im Zimmer zeigte. Versagte die Heizung? Man sah ja den eignen Atem. Hatten die Leute nicht neue Kohlen aufgeschippt?
Er ging selber hinab ins Souterrain, er hätte klingeln können, aber es war ihm ein Bedürfnis, etwas zu tun. O, wie war man doch so schrecklich tatenlos! Stumm kauerte seine Frau jetzt im Lehnstuhl, mit großen starren Augen; die Pflegerin schlief halb, nichts regte sich im Zimmer. Auch das Kind lag so still, als wäre es schon tot.
Eine große Bangigkeit befiel den Mann, der jetzt durch das nächtliche Haus tappte. Es war etwas so Lähmendes in dieser Stille; alles – die Zimmer, die Treppe, die Halle – alles kam ihm auf einmal so fremd vor. Fremd und leer. Wie waren sie doch vordem belebt gewesen vom Hauch der Jugend, erfüllt von der ganzen unbändigen Unbekümmertheit eines wilden Knaben!
Schwer stützte er sich aufs Treppengeländer, unsicher tastete er sich hinab. Ob die Leute unten noch auf waren?!
Er fand sie noch alle. Um den Tisch in der Küche, die jetzt so kalt war, als hätte nicht den ganzen Tag ein helloderndes Feuer im Herd gebrannt, saßen sie frierend beisammen. Die Köchin hatte einen starken Kaffee gekocht, aber auch der hatte ihnen nicht wärmer gemacht. Durchs ganze Haus schlich eine Todeskälte; es war, als seien Eis und Schnee von draußen hereingekommen, als fege der Todeshauch der erstarrten Natur auch hierinnen vom Giebel bis zum Keller.
Es nützte nichts, daß noch mehr Kohlen dem großen Ofen in den Rachen geschüttet wurden, nichts, daß das Wasser heißer durch alle Röhren strömte. Kein Mensch bekam wärmere Füße, wärmere Hände.
»Wir wollen es bei dem Patienten mit einem sehr heißen Bad versuchen,« sagte die Pflegerin. Sie hatte schon oft in ähnlichen Fällen dieses letzte Mittel von Erfolg gekrönt gesehen.
Alle Hände rührten sich. Die Köchin feuerte, die beiden andern schleppten das kochende Wasser hinauf; aber Cilla trug mehr und rascher wie der Friedrich. Sie fühlte ihre ganze unerschöpfliche, schaffensfreudige Jugendkraft. Wie gern tat sie das für den guten Jungen! Und bei jedem Eimer, den sie in die vors Bett gestellte Wanne schüttete, murmelte sie leise ein Stoßgebet; sie konnte sich nicht bekreuzen, sie hatte keine Hand frei, konnte auch nicht niederknieen, aber sie war gewiß, die Heiligen würden sie doch erhören.
»Heilige Maria! Heiliger Joseph! Heilige Barbara! Heiliger Schutzengel! Heiliger Michael, streite für ihn!«
Unten hatte sich die Köchin ihr Gesangbuch vorgesucht; sie war eine Protestantin und brauchte es nicht alle Tage. Nun schlug sie es auf, aufs Geratewohl: wie es traf, so traf's! O weh! Zitternd zeigte sie es dem Friedrich. Da stand:
›Wenn ich einmal soll scheiden,
So scheide nicht von mir –‹
O weh, der Junge mußte sterben! Sie waren beide wie gelähmt vor Schreck.
Derweilen flog die flinke Cilla treppauf, treppab. Ihr war nicht mehr so bange. Er würde nicht sterben, des war sie jetzt sicher.
Als sie ihn drinnen in die Wanne hoben, Schlieben und die Pflegerin, und die Mutter die schwachen Hände unterhielt wie zur Unterstützung, stand Cilla draußen vor der Tür und rief wieder ihre Heiligen an. Gern hätte sie ihr Andachtsbüchlein, ihr ›Brot der Engel‹, zur Hand gehabt, aber es fehlte an Zeit, es zu holen. So stammelte sie nur ihr ›Hilf‹ und ›Erbarme dich‹, ihr ›Gegrüßet‹ und ›Streite für ihn‹ mit der ganzen Hingabe ihrer Gläubigkeit.
Und drinnen begannen sich die Wangen des todbleichen Knaben zu röten. Die Lippen, die sich so lange zu keinem Laut geöffnet hatten, stießen jetzt einen Seufzer aus. Er war warm, als sie ihn ins Bett zurücklegten. Bald war er heiß; das Fieber setzte wieder ein.
Die Schwester blickte besorgt: »Jetzt Eis! Wir müßten es mit Eisblasen versuchen!«
Eis! Eis!
»Ist Eis im Hause?« Hastig kam Schlieben aus der Krankenstube heraus, er stieß fast die Tür gegen die Stirn des betenden Mädchens.
Eis! Eis! Sie waren beide miteinander hinuntergelaufen. Aber auch die Köchin wußte keinen Rat: nein, Eis war nicht da, man hatte nicht geglaubt, welches nötig zu haben.
»Schnell, zur Apotheke!«
Der Diener stob davon, aber – großer Gott – ehe der zur Apotheke gelangte, jemanden weckte und wieder zurück war, konnte die Flamme da oben so hoch aufgeflammt sein, daß die arme kleine Kerze schon aufgezehrt war! Ganz wirr vor Angst blickte der Mann umher, da sah er, wie Cilla mit Fleischbeil und Wassereimer zur Hintertür lief.
»Ich hole Eis!«
»Wo denn?!«
»Da!« Sie lachte und hob den bewehrten Arm, daß das Beil blitzte. »Unten im See ist ja Eis genug. Ich geh', welches hacken!«
Schon war sie hinaus; er lief hinter ihr drein, ohne Hut, ohne Mütze, nur mit dem leichten Hausrock bekleidet, den er im Zimmer trug.
Vor der aufglimmenden Hoffnung wichen die Schrecken der Nacht, er fühlte augenblicklich die Kälte gar nicht. Aber als nun die Villen so ganz verschwunden waren hinter den Kiefern, als er nun so einsam am Rande der eisigen Seefläche stand, die wie ein hartes Metallschild glänzte, von schwarzen, schweigsamen Riesen drohend umgeben, da fror ihn doch, daß er glaubte, erfrieren zu müssen. Und er fühlte eine Bangigkeit, wie er sie noch nie gefühlt hatte. Eine tödliche Angst.
Kam nicht eine Stimme zu ihm? He! Dort aus dem Walde, der wie ein Dickicht erschien im blauen, verwirrenden Schimmer des Mondlichts?! Und höhnte und foppte, lachte halb, klagte halb! Schrecklich – wer schrie so?!
»Der Kauz schreit,« sagte Cilla jetzt, hob mit beiden Händen das Beil rücklings über die Schulter und ließ es niedersausen mit Kraft. Das Eis am Rande splitterte. Es knackte und krachte; bis weit in den See hinaus ging der Ton: ein Murren, ein Grollen, eine Stimme aus der Tiefe.
Würde der Knabe sterben – würde er leben?!
Verstört sah Schlieben sich um. O Gott ja, auch das war umsonst! Würde umsonst sein! Trotz all seiner Mannhaftigkeit empfand er eine Schwäche – heute, hier war er schwach. Hier war die Nacht und die Einsamkeit und der Wald und das Wasser – all das hatte er schon oft gesehen, es war ihm vertraut gewesen –, aber so war es noch nie gewesen, so still und doch so schreckhaft belebt. So hoch waren die Bäume noch nie gewesen, so groß noch nie der See, so fern noch nie die bewohnte Welt!
Es schien ihm etwas zu lauern hinter jener dicken Kiefer – stand da nicht ein Jäger und legte an, bereit, ihm einen Pfeil durchs Herz zu schießen?! Das Schweigen beängstigte ihn. Dieses große Schweigen war furchtbar. Dröhnend zwar hallten die Hiebe der Axt und lockten drüben über dem See ein Echo, unbeirrt zwar tat Cilla ihr Werk – er bewunderte die Kaltblütigkeit des Mädchens –, aber die Drohung, die in diesem Schweigen lag, minderte sich nicht.
Schauer auf Schauer durchrann den verstörten Mann: nein, jetzt wußte er's, – ach, wie fühlte er's deutlich – gegen diese unsichtbare Gewalt kam niemand an. Hier war alles vergebens!
Ein großer Schmerz überkam ihn. Mit beiden Händen packte er in die eiskalten Schollen, die das Mädchen losgehackt hatte, und sammelte sie in den Eimer: er riß sich, er schnitt sich an den zackigen Rändern, die scharf waren wie Glas, aber er fühlte den körperlichen Schmerz nicht. Das Blut rann ihm in Tropfen über die Finger.
Und aus seinen Augen begann jetzt auch etwas zu rinnen, schwer und zäh tropfte es über seine Wangen – langsame, fast widerwillige Tränen. Aber doch heiße Tränen eines Vaters, der um sein Kind weint.