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Jotte, nee, was biste jroß jeworden,« sagte Frau Lämke, »nu wird man woll bald ›Sie‹ zu dich sagen müssen und ›junger Herr‹?!«
»Nie!« Wolfgang fiel ihr um den Hals.
Die Frau war ganz verdutzt: war das denn noch der Wolfgang? Der war ja kaum wiederzuerkennen seit der Krankheit – so umgänglich! Und war er auch immer ein guter Junge gewesen, so zärtlich war er früher doch nie gewesen?! Und wie lustig er war, er lachte, seine Augen blinkerten ordentlich wie geputzt!
Wolfgang war voll von Lebenslust und einer immerwährenden unbändigen Freude. Er wußte gar nicht wohin damit. Keinen Augenblick konnte er stille sitzen, in seinen Armen zuckte es, seine Füße scharrten den Boden.
Er war der Schrecken des Lehrers. Die ganze, sonst immer so musterhafte Quarta brachte der Junge aus Rand und Band, der eine Junge! Und dabei konnte man ihm eigentlich nicht einmal so recht von Herzen böse sein. In die Rügen des müden Mannes, der alle Tage dieselben Stunden, jahraus jahrein, auf demselben Katheder sitzen, dieselben Diktate diktieren, dieselben Aufgaben aufgeben, dieselben Lesestücke lesen lassen, dieselben Wiederholungen wiederholen mußte, mischte sich etwas wie eine leise Wehmut, die den Tadel milderte: ja, das war Daseinsfreudigkeit, Gesundheit, Frische, unverbrauchte Kraft – das war Jugend!
Wolfgang kehrte sich nicht an die Vorwürfe, die man ihm machte, er hatte nicht den Ehrgeiz, unter den Ersten der Klasse zu sein. Er lachte den Lehrer aus und konnte sich nicht einmal zwingen, betrübt den Kopf zu senken, als ihm die Mutter, in nervöser Erregtheit, eine schlechte Zensur vorm Gesicht hin und her schwenkte: »Also dafür quält man sich so mit dir?!«
Wie ehrgeizig die Frauen sind! Schlieben lächelte; er nahm's ruhiger. Nun, er hatte ja auch nicht die Plage davon gehabt wie Käte. Sie hatte sich, seitdem der Junge so viel durch seine Krankheit versäumt hatte, jeden Tag mit ihm hingesetzt und geschrieben und gelesen und gerechnet und Vokabeln gelernt und Regeln und unermüdlich wiederholt und, neben den Schulaufgaben, selber noch Übungsaufgaben gestellt, und es so durchgesetzt, daß Wolfgang, trotz der wochen- und wochenlangen Schulversäumnis, doch Ostern mit nach Quarta versetzt wurde. Erleichtert hatte sie aufgeatmet: ah, ein Berg war erklommen! Aber der Weg ging trotzdem jetzt nicht eben fort. Als die ersten Amseln im Garten sangen, war er als fünfzehnter versetzt worden – also ein Durchschnittsschüler –, als die erste Nachtigall schlug, war er nicht mehr in diesem Durchschnitt, und als der Sommer kam, gehörte er zu den Letzten der Klasse.
Es war zu verlockend, im Garten zu säen, zu pflanzen, zu gießen, auf dem Rasen zu liegen und sich den warmen Sonnenflimmer über den Leib rinnen zu lassen; besser noch, draußen umherzuschwärmen an den Waldrändern, oder im See zu baden, weit hinauszuschwimmen, so weit, daß ihm die andern Jungen zuschrien: ›Komm zurück, Schlieben, du versäufst!‹
»Freu dich doch, daß er so munter ist,« sagte Paul zu Käte. »Denke doch dran, wer hätte, vor einem halben Jahr noch, gedacht, daß er sich so erholen würde?! Es ist ein Glück, daß er kein Stubenhocker ist. ›Viel frische Luft,‹ hat Hofmann gesagt, ›viel freie Bewegung. Ohne Schädigungen der Konstitution geht eine so schwere Krankheit nicht ab!‹ Also wählen wir von zwei Übeln doch das kleinere – freilich, der Bengel muß wissen, daß er nebenbei doch seine Schuldigkeit zu tun hat!«
Das ließ sich schwer vereinen. Käte fühlte sich machtlos werden. Wenn des Knaben Augen, blank wie dunkle Beeren, begehrten: ›laß mich hinaus‹, wagte sie ihn nicht zurückzuhalten. Sie wußte, er hatte seine Arbeiten noch nicht fertig, vielleicht noch nicht einmal begonnen; aber hatte Paul nicht gesagt: ›man muß von zwei Übeln das kleinere wählen‹, und der Sanitätsrat: ›ohne Schädigungen geht eine so schwere Krankheit nicht ab, viel Freiheit‹ – ?!
Eine jähe Angst erfaßte sie um sein Leben: noch waren die Schrecken der Krankheit nicht verwunden. Ach, diese Nächte! Diese letzten furchtbaren Stunden, in denen nach dem heißen Bad das Fieber höher und höher gestiegen war, der Puls gerast und das arme Herz gejagt hatte, bis endlich, endlich das Eis aus dem See Kühlung gebracht und ein Schlaf sich gesenkt hatte, der, als im Osten der Himmel rot zu werden begann und ein neuer Tag durch's Fenster hereinschaute, sich in einen wohltätigen, wunderwirkenden Schweiß löste.
Sie mußte den eben Genesenen laufen lassen.
Aber daß er sich Cilla an den Arm hing, wenn die abends noch einen Gang zu machen hatte, daß er ihr schleunigst nachlief, wenn sie nur einen Brief zum Kasten trug, oder daß er ihr einen Stuhl heranschleppte, wenn sie sich mit ihrem Flickkorb unter den Fliederbusch an der Küchentür setzen wollte, das war nicht zu dulden. Als Käte erfuhr, daß Cilla an ihrem Ausgangssonntag nicht weiter gegangen war als bis zu den nächsten Kiefern am Waldrand und dort mit dem Knaben stundenlang im Grase gesessen hatte, gab es eine Szene.
Cilla weinte bittere Tränen. Was hatte sie denn getan?! Sie hatte Wölfchen doch nur von ›zu Hause‹ erzählt!
»Was geht ihn Ihr ›zu Hause‹ an?! Er soll sich um seine Sachen kümmern, und Sie kümmern sich um die Ihren!« Käte war im Zuge, noch mehr herauszusprudeln, zu schreien: ›Lassen Sie solche Vertraulichkeiten, ich dulde sie nicht‹, aber sie bezwang sich, wenn auch nur mit Mühe. Sie hätte dieses rundwangige, helläugige Mädchen, das so dreist blickte, ins Gesicht schlagen mögen. Da war selbst Frida Lämke noch vorzuziehn!
Aber Frida ließ sich jetzt nicht mehr oft sehen. Sie trug schon den Rock lang bis zum Knöchel und ging in den Freistunden, die ihr die Schule ließ, zum Nähkursus, und wenn sie eingesegnet war, Ostern übers Jahr, dann sollte sie, wie sie mit großer Wichtigkeit sagte, ›nach's Jeschäft‹.
»Ich kündige ihr,« sagte Käte eines Abends, als Cilla eben den Tisch abgedeckt hatte und sie ganz allein mit ihrem Mann saß.
»So?« Er hatte gar nicht recht hingehört. »Warum denn?«
»Darum!« Ein unterdrückter Ärger vibrierte im Ton der Frau – mehr als das, eine leidenschaftliche Erregung. Ihre sonst goldbraunen, milden Augen wurden dunkel und blickten finster in sich hinein.
»Du zitterst ja förmlich! Was ist denn nun schon wieder?!« Verstimmt legte er die Zeitung hin, die er eben hatte lesen wollen. Da war wieder etwas mit dem Jungen los; nur dann erregte sie sich so!
»Es geht nicht länger!« Ihre Stimme war hart, hatte jeden Schmelz verloren. »Und ich dulde es nicht! Denke dir, als ich heute nach Hause komme – ich war gegen Abend eine Stunde fort, kaum eine Stunde –, Gott, Gott, man kann sich doch nicht immer zur Aufpasserin machen, man erniedrigt sich ja vor sich selber!« Leidenschaftlich verschlang sie die Hände, preßte sie so heftig ineinander, daß die Knöchel ganz weiß wurden. »Ich hatte ihn an seinem Pult gelassen, er hatte so viel auf, und als ich wiederkomme, war kein Strich gemacht! Aber unten, hinten vor der Küchentür, da – da höre ich sie!«
»Nun, Wolfgang und die – die Cilla! Kaum bin ich fort!«
»Nun – und?!«
Sie hatte geschwiegen, seufzend, in einem tiefen Kummergefühl, das den Zorn aus ihren Augen verjagte.
»Er legte ihr von hinten die Arme um den Hals! Und hat sie geküßt! ›Liebes Cillchen!‹ Und sie zog ihn an sich, nahm ihn fast auf den Schoß – dazu ist er viel, viel zu groß – – und redete immer in ihn hinein!«
»Hast du verstanden, was sie sagte?«
»Nein. Aber sie lachten. Und dann gab sie ihm einen Klaps gegen die Kehrseite – du hättest es nur sehen sollen! – und dann er ihr. Hin und her ging das. Ist das passend?!«
»Das geht zu weit, da hast du recht! Aber schlimm ist es nicht. Sie ist eine gute, noch ganz unverdorbene Person, er ein dummer Junge. Darum wirst du das Mädchen doch nicht entlassen? Ich bitte dich, Käte! Haben sie dich bemerkt?«
»Nein!«
»Nun, dann tu auch nicht desgleichen. Das ist viel klüger. Ich werde mir den Jungen schon mal bei Gelegenheit vornehmen!«
»Und du meinst, ich könnte – ich kann – ich muß sie nicht entlassen?« Käte war ganz kleinlaut geworden gegenüber seiner Ruhe.
»Dazu liegt gar kein Grund vor!« Er war völlig überzeugt von dem, was er sagte, und wollte wieder zu seiner Zeitung greifen. Da fing er ihren Blick auf und streckte ihr die Hand über den Tisch hin: »Liebes Herz, nimm nicht alles so schwer! Du verkümmerst dir ja das Dasein – dir – dem Jungen – und – ja, auch mir! Nimm's leichter! – So. Und nun will ich endlich mal zu meiner Zeitung kommen!«
Käte stand leise auf – er las ja! Sie hatte ihm ihre Hand nicht gelassen. Seine Ruhe verletzte sie. Das war schon mehr wie Ruhe, das war Gleichgiltigkeit, Lässigkeit! Aber sie wollte nicht lässig sein, nein, sie wollte nicht müde werden!
Und sie ging ihrem Knaben nach.
Wolfgang war schon oben in seinem Zimmer. Er war zwar noch an Cilla, die unten in der Küche das Geschirr abtrocknete, leise von hinten herangeschlichen, hatte sie gezwickt, sie dann mit beiden Armen umfangen und um eine Geschichte gebettelt: »Erzähl mir was!« – aber sie hatte nicht gewollt.
»Ich weiß nichts!«
»Och, erzähl' mir doch! Von der Prozession! Oder wenn's nur von eurer Sau ist! Wieviel Ferkel hatte die doch 's letzte Mal geworfen?«
»Dreizehn!« Der Frage war zwar nicht zu widerstehen, aber doch blieb Cilla wortkarg.
»Kalbt eure Kuh auch dieses Jahr? Wieviel Kühe hat denn der größte Bauer bei euch? Weißt du, der unten an der Warthe, der Hauländer! Sag doch?!« Er wußte ganz genau Bescheid, kannte alle Leute bei ihr zu Hause, und alles Vieh. Er konnte nie genug davon erzählen hören und von dem Land, über das die Glöckchen bimmeln zur Frühmesse und zur Vesper oder tief und feierlich rufen am Sonntage um die Hochamtszeit. Vom Lande hörte er zu gern erzählen, von Ackerbreiten, auf denen blauer Flachs und goldner Roggen steht, von blauenden Waldstrichen am Horizont, von weiten, weiten Heidestrecken, auf denen die Bienen emsig über blühendem Kraut summen und abends an stillen Wassern, wenn Himmel und Sonne sich rot darin spiegeln, der Sumpfvogel schreit.
»Erzähl' davon!« Er bettelte und drängte.
Aber sie blieb unlustig und schüttelte den Kopf: »Nee, geh schon, nee, ich will nich! Die Frau hat mer heute abend wieder so angesehn – ach, so – nee! Ich glaube, sie will mer wohl kündigen!«
Verdrießlich war er in sein Zimmer hinaufgeschlichen und hatte sich ausgekleidet. Er war so daran gewöhnt, er konnte gar nicht gut schlafen, wenn Cilla ihm nicht vorher etwas erzählt hatte. Dann schlief er so sanft ein und träumte so wunderschön von weiten Heidestrecken, die rot blühten, von stillen Wassern, an denen der Sumpfvogel schrie, den er jagen ging.
Ach, die Cilla, was die nur heut hatte! Wie dumm! ›Die Frau wird mer kündigen‹ – Unsinn, als ob er das litte! Und er ballte die Faust.
Da knarrte die Tür.
Er reckte den Hals: war sie's, kam sie doch noch?! Die Mutter war's. Geschwind schlüpfte er ins Bett und zog die Decke bis an die Stirn. Mochte sie denken, er schliefe schon!
Aber sie dachte das nicht, sondern sie sagte: »So, bist du noch wach?« und setzte sich auf den Stuhl beim Bett, auf dem seine Sachen lagen. Da saß auch sonst immer die Cilla. Er verglich im stillen die beiden Gesichter. Ah, die Cilla war doch viel hübscher, so weiß und rot, und hatte Grübchen in ihren dicken Backen, wenn sie lachte, und war so vergnügt! Häßlich war die Mutter zwar auch nicht!
Er hatte sie aufmerksam betrachtet; und da überkam es ihn plötzlich mit einem ihm sonst gänzlich unbekannten Gefühl: ach, sie hatte ja so schmale Bäckchen! Und an den Schläfen herunter das weiche Haar – das war ja – das –
»Du wirst ja grau,« sagte er auf einmal, förmlich erschrocken, und streckte den Finger aus: »Da, ganz grau!«
Sie nickte. Ein Zug des Unbehagens verlängerte ihr zartes Gesicht und ließ es noch schmäler erscheinen.
»Du müßtest mehr lachen,« riet er. »Dann sähe man gar nicht, daß du Falten hast!«
Falten – ach ja, Falten! Mit einer nervösen Bewegung fuhr sie über die Stirn. Was Kinder für unbarmherzige Augen haben! Mit Jugend und Schönheit war's wohl endgiltig vorbei – den letzten Rest aber, den hatte der Knabe hier genommen! Und wie ein Vorwurf klang's: »Das machen die Sorgen. Deine schwere Krankheit und – und –« sie stockte, sollte sie jetzt von dem anfangen, was sie so beunruhigte? »Und da ist noch manches andre,« schloß sie mit einem Seufzer.
»Das glaub' ich wohl,« sagte er unbefangen. »Du bist ja auch schon alt!«
Nun, ehrlich war er, das mußte man gestehen; aber ohne eine Spur von Zartgefühl! Sie konnte eine leise Gereiztheit nicht unterdrücken; es war nicht angenehm, sich von seinem Kinde an sein Alter erinnern zu lassen. »So alt bin ich denn doch noch nicht,« sagte sie.
»Na, so alt meine ich ja auch gar nicht. Aber doch viel älter als ich oder die Cilla zum Beispiel!«
Sie zuckte zusammen – immer kam er mit dieser Person!
»Die Cilla ist ein hübsches Mädchen, findest du nicht, Mutter?«
Der Ärger überkam sie so heftig, daß sie sich nicht mehr in der Gewalt hatte. »So?« sagte sie kurz und stand auf. »Sie zieht zum ersten Oktober!«
»Sie zieht?! Och nee!« Er starrte sie ungläubig an.
»Doch, doch!« Sie kam sich grausam vor, aber konnte sie denn anders sein? Es lag ein so großes Erschrecken in seiner Ungläubigkeit. »Sie zieht; ich kündige ihr!«
»Och nee, das tust du ja nicht!« Er lachte. »Das tust du ja doch nicht!«
»Ja, das tue ich!« Auf jedes Wort legte sie einen besonderen Nachdruck; es klang unumstößlich.
Er schüttelte noch immer ungläubig den Kopf: das konnte ja gar nicht sein! Aber dann fiel ihm auf einmal Cillas gedrücktes Wesen wieder ein und ihre Worte am heutigen Abend – ›Sie will mer wohl kündigen!‹ »Nein, das tust du nicht!« Mit einem Ruck setzte er sich im Bette auf.
»Ich werde dich nicht fragen!«
»Nein, du tust es nicht, du tust es nicht,« schrie er. Cillas Gestalt stand aus einmal vor ihm, ihre treuherzigen Augen sahen ihn traurig an – sie gefiel ihm so wohl – und die sollte gehen?! Eine Wut kam über ihn.
»Sie soll nicht gehen, sie soll nicht gehen,« heulte er auf und schrie es laut und lauter: »Sie soll nicht gehen!« Er warf sich hintenüber, reckte sich lang, stieß in einem sinnlosen, nicht zu bezeichnenden Empfinden mit den Füßen gegen die Bettstatt, daß die in allen Fugen krachte.
Käte war erschrocken; so heftig hatte sie ihn nie gesehen. Aber wie recht hatte sie! Sein Benehmen zeigte ihr's deutlich. Nein, sie durfte sich nicht grausam schelten, wenn auch seine Tränen flossen; es war notwendig, daß die Cilla ging! Aber er tat ihr leid.
»Wölfchen,« sagte sie überredend, »aber, Wölfchen!« Sie versuchte ihn zu besänftigen und zog ihm mit liebevoller Hand die heruntergefallene Decke wieder herauf. Aber sowie sie ihn berührte, stieß er sie von sich.
»Wölfchen – Wölfchen – du mit deinem Wölfchen! Als ob ich noch ein kleines Kind wäre! Ich heiße Wolfgang. Und du bist ungerecht! Neidisch! Du willst nur, daß sie geht, weil ich sie lieber habe, viel lieber als dich!«
Er schrie es ihr ins Gesicht, das tief erblaßte. Sie hatte das Gefühl, als müßte sie aufschreien vor Schmerz. Sie, die sie so viel um ihn gelitten hatte, setzte er hintenan?! Jetzt fielen ihr auf einmal, brennend und unaustilgbar, alle die Tränen ein, die sie schon um ihn vergossen hatte. Und von all den schweren Stunden der Krankheit war keine so schwer gewesen wie die jetzige.
Sie vergaß, daß er noch ein Kind war, ein ungezogener Junge. Hatte er es denn nicht selber gesagt: ›Ich bin kein Kind mehr – ?!‹ Unverzeihlich erschien ihr sein Benehmen. Ohne Wort ging sie zur Tür hinaus.
Er sah ihr betroffen nach: hatte er sie gekränkt?! Plötzlich kam ihm das Bewußtsein davon – o nein, das wollte er nicht! Schon hob er die Füße aus dem Bett, um ihr auf nackten Sohlen nachzulaufen, sie am Kleide festzuhalten, zu sagen: ›Du, bist du böse?!‹ – da fiel ihm die Cilla wieder ein. Nein, das war doch zu schlecht von ihr, daß sie die gehen hieß!
Sich weinend unter die Decke verkriechend, faltete er die Hände. Cilla hatte ihm gesagt, daß man zur heiligen Jungfrau beten müsse, zu jener lächelnden Frau im blauen Sternenmantel, die, mit der Krone auf dem Haupt, über dem Altar thront. Die heilte alles. Und wenn die Gott im Himmel um etwas bat, so tat der's. Zu ihr wollte er jetzt beten.
Cilla hatte ihn damals, als die Mutter im Bade und der Vater in Tirol war, einmal mitgenommen in ihre Kirche. Er hatte ihr versprechen müssen, niemandem etwas davon zu sagen, und der Reiz des Geheimnisvollen hatte den Reiz jener Kirche erhöht. Eine unbewußte Sehnsucht zog ihn nach jenen Altären, wo die Heiligen prangten und wo man Gott, den man doch bitten soll wie einen Vater, leibhaftig schauen konnte. In der Kirche, die die Mutter zuweilen besuchte und in der er auch schon gewesen war, hatte es ihm nie so gut gefallen.
Jene Sehnsucht, die ihm wie ein Märchen im Sinn schwebte, kam jetzt mit Gewalt und lebendig über ihn. Ja, so hinknieen können vor der lieben Frau, die reizender war als alle Frauen auf Erden sind, und kaum daß man seine Bitte vortrug, auch schon der Erfüllung gewiß sein, das war schön! Herrlich!
»Gegrüßet seist du, Maria!« So fing der Cilla Gebet an; weiter wußte er es nicht, aber er wiederholte das, viele Male. Und nun roch er wieder den Weihrauch, der die Kirche durchduftet hatte, hörte wieder das Schellchen der Wandlung, sah den Geweihten des Herrn, dem die prächtige Stola überm Meßgewand hing, sich verneigen, bald links am Altar, bald rechts. O, wie er es den Knaben in den weißen Chorhemden neidete, die neben ihm knieen durften! Seliger Wohlklang schwebte unterm hochgewölbten Kuppeldach:
›Procedenti ab utroque
Compar sit laudatio –‹
so ähnlich hatten sie gesungen. Und dann hatte der Priester die strahlende Monstranz hoch erhoben, und alle Leute hatten sich tief gebeugt. › Qui vivis et regnas in saecula saeculorum!‹ Ja, das Latein hatte er gut behalten! Das würde er auch sein Leben nicht vergessen!
Anstoßen hatte ihn die Cilla müssen und flüstern: ›Komm, wer gehn jetzt,‹ sonst wäre er damals noch lange knieen geblieben in der prächtigen und doch so heimeligen Kirche, in der nichts kalt war und fremd.
Wenn er da doch wieder einmal hinkönnte! Cilla hatte es ihm freilich versprochen zu gelegener Zeit – aber sie sollte ja jetzt weg, und die gelegene Zeit würde nie kommen! Schade! Ein großes Bedauern erhob sich in ihm und zugleich ein Trotz: nein, in die Kirche, wohin die Mutter ging und wohin die aus seiner Schule gingen, dahin ging er nicht!
Und er flüsterte wieder: »Gegrüßet seist du, Maria,« und bei diesem Flüstern fingen die Tränen, die heiß und zornig über sein Gesicht gelaufen waren, an zu versiegen.
Er war aus dem Bett geklettert und hatte sich auf den Teppich davor niedergekniet, die zusammengelegten Hände in Anbetung erhoben, so wie er es bei den Engeln auf dem Altarbild gesehen hatte. Seine Augen waren glänzend und weit aufgeschlagen, sein Trotz zerfloß in Hingabe.
Als er endlich ins Bett zurückstieg und endlich die übergroße Müdigkeit seine Aufregung niederschlug und er einschlief, träumte er von der reizenden Jungfrau Maria, die wohlbekannte Züge trug, und fühlte sein Herz zu ihr entbrennen.
* * *
Es war vierzehn Tage später, am 1. Oktober, daß Cilla den Dienst verließ. Frau Schlieben hatte ihr ein gutes Zeugnis geschrieben; warum sie eigentlich entlassen war, das war dem Mädchen noch nicht recht klar, selbst als es auf der Straße stand. Die Frau wollte ein älteres erfahrenes Mädchen haben – so hatte sie gesagt –, aber das glaubte Cilla doch nicht recht, sie fühlte unbestimmt einen andern Grund heraus: die mochte sie eben nicht leiden. Nun wollte sie erst einmal nach Hause fahren, ehe sie einen neuen Dienst annahm, sie fühlte Heimweh, und der Abschied hier aus der Stelle war ihr schwer geworden – des Jungen wegen. Wie hatte der geweint! Gestern abend noch. Er hatte sich an ihren Hals gehängt und sie vielmals geküßt, der große Junge, wie ein kleines Kind! Und so viel hatte er ihr noch sagen wollen. Oben auf dem dunklen Flur hatten sie gestanden miteinander gestern abend, da scheuchte sie der Tritt der Frau, die die Treppe heraufkam; gerade noch, daß er in seine Stube hatte entwischen können.
Und nicht einmal Adieu hatte sie ihm heute sagen können, dem guten Jungen! Denn als er kaum in der Schule war, hatte die Frau gesagt: »So, nun können Sie gehen!« Ganz verdutzt war sie gewesen, hatte sie doch darauf gerechnet, erst am Nachmittag fortzukommen. Aber nun war das neue Hausmädchen, eine Ältliche mit spitzem Gesicht, auch schon eher angezogen; was sollte sie da auch noch? So hatte sie nur noch rasch die Heiligenbildchen aus ihrem Gebetbuch alle in ein Papier gewickelt und in die Schublade von des Jungen Nachttisch gesteckt – da würde er sie gewiß finden – und ›Gruß von Cilla‹ darauf geschrieben. Dann war sie abgezogen.
Ihren Korb hatte Cilla als Frachtgut aufgegeben, nun hatte sie nichts zu tragen als ein kleines Ledertäschchen und einen Pappkarton mit Stricken verschnürt. So konnte sie rasch vorankommen. Aber als sie dem Stadtbahnhof zuging, blieb sie auf einmal stehen: um ein Uhr war die Schule aus, nun ging es gegen elf, es kam wirklich nicht darauf an, wenn sie etwas später abfuhr. Wie würde er sich freuen, wenn sie ihm noch Adieu sagte und ›Vergiß mich auch nicht!‹
Sie drehte um. In der Nähe der Schule würde sich schon eine Bank finden, da wollte sie auf ihn warten.
Die Vorüberkommenden schauten neugierig nach der jungen Person, die wie ein Soldat, still und steif, in der Nähe des Gymnasiums auf Posten stand. Eine Bank hatte Cilla nicht gefunden; sie traute sich nicht weit vom Eingang fort, aus Angst, ihn zu verpassen. So stand sie denn, mit ihrem kleinen Täschchen am Arm, den Karton hatte sie zur Erde gesetzt. Ab und zu fragte sie jemanden, wieviel Uhr es sei. Die Zeit verging langsam; endlich war es bald eins. Da fühlte sie ihr Herz klopfen: der gute Junge! Schon sah sie seine dunklen Augen freundlich aufglänzen, hörte sein erstauntes: ›Cillchen, du?!‹
Ihren Hut zurechtrückend auf dem schönen blonden Haar, ein höheres Rot auf den roten Wangen, sah Cilla unverwandt hin nach dem Schultor: gleich würde es klingeln – dann kam er angestürmt – da – auf einmal sah sie die Frau. Die –?! Mit schnellen Schritten kam Frau Schlieben aufs Schultor zu. O weh!
Mit ein paar raschen Sätzen sprang das Mädchen hinter ein Gebüsch: die holte heute selber ihren Wolfgang ab?! Ach, da mußte sie ja gehen! Und sehr betrübt schlich sie zum Bahnhof. All die Freude, in der ihr Herz geklopft hatte, war hin; aber einen Trost hatte sie doch: der Wolfgang würde sie nicht vergessen. Nein, nie! –
Wolfgang war sehr erstaunt, als er seine Mutter sah. Er brauchte doch nicht abgeholt zu werden?! Das hatte sie doch auch früher nicht selber getan?! Er war unangenehm berührt. War er denn ein kleines Kind? Die andern würden ihn auslachen! Ein Unmut brannte in ihm, aber der Mutter Güte entwaffnete ihn.
Sie war heute besonders weich und sehr gesprächig. Sie fragte ihn nach all dem, was sie heute in der Schule gehabt hatten, schalt auch nicht, als er gestand, er habe zehn Fehler im lateinischen Extemporale gemacht, im Gegenteil, sie verhieß ihm einen Ausflug nach Schildhorn am Nachmittag. Es war ja so ein schöner, sonnenheller, fast sommerlicher Herbsttag. Ganz vergnügt schlenderte der Knabe neben ihr her, seine Bücher am langen Riemen schlenkernd. Daß Cilla heute abgehen sollte, hatte er augenblicklich ganz vergessen.
Freilich, als sie nach Hause kamen und das fremde Mädchen ihnen öffnete, machte er große Augen, und als sie zu Tisch gingen und die neue mit dem spitzen Gesicht, die aussah wie ein Fräulein, die Speisen auftrug, hielt er sich nicht länger.
»Wo ist Cilla?« fragte er.
»Die ist fort – du weißt doch,« sagte die Mutter so nebenhin.
»Fort –?!« Er wurde blaß und dann glühend rot. Also gegangen, ohne ihm Adieu zu sagen?! Er hatte auf einmal keinen Appetit mehr, obgleich er vorher solchen Hunger gehabt hatte. Jeder Bissen würgte ihn; starr sah er auf seinen Teller, wagte nicht aufzublicken, denn er fürchtete, er könnte weinen.
Die Eltern sprachen über dieses und jenes – allerlei Gleichgiltiges –, und in ihm schrie es: ›Warum ist sie gegangen, ohne mir Adieu zu sagen?!‹ Das kränkte ihn zu tief. Er konnte es gar nicht fassen – sie hatte ihn doch so lieb gehabt! Wie hatte sie's nur übers Herz bringen können, fortzugehen, ohne ihn wissen zu lassen, wo er sie finden konnte?! Es konnte nicht sein, das hatte sie nicht aus freiem Willen getan – sein Cillchen so von ihm gehen?! O nein, nein! Und gerade während er in der Schule war?!
Ein plötzliches Mißtrauen befiel ihn: an so etwas hatte er bisher gar nicht gedacht, aber nun war's ihm auf einmal klar – oho, dumm war er denn doch nicht! – eben weil er gerade in der Schule war, hatte sie fortgemußt! Die Mutter hatte die Cilla immer nicht leiden können, die hatte auch nicht gewollt, daß Cilla ihm Adieu sagte!
Unter gesenkten Wimpern hervor schoß der Knabe böse Blicke nach seiner Mutter: das war eine Schändlichkeit von ihr!
In verhaltenem Ingrimm murmelte er: »Gesegnete Mahlzeit« und schlorrte die Treppe hinauf in sein Zimmer. Im Schublädchen fand er sofort die versteckten Heiligenbildchen – ›Gruß von Cilla‹ – da brach seine Wut aus und sein Schmerz. Er stampfte mit den Füßen und küßte die bunten Bildchen, und seine Tränen gaben lauter dunkle Flecke darauf. Dann polterte er die Treppe hinab ins Eßzimmer, wo der Vater noch am Tische saß und die Mutter am Büfett Obst und Kuchen in ihren Pompadour packte. Aha, sie hatte ja mit ihm spazieren gehen wollen! Das sollte ihm gerade einfallen!
»Wo ist die Cilla hin? Warum hast du sie mir nicht Adieu sagen lassen?!«
Die Mutter sah ihn wie erstarrt an: woher erriet der Junge ihre allergeheimsten Gedanken? Sie brachte kein Wort heraus. Aber er ließ sie auch zu gar keiner Äußerung kommen, seine noch hohe Knabenstimme überschlug sich in der Erregung und wurde dann tief und rauh: »Ja, du – o, ich weiß es ganz genau – du wolltest es nicht haben, daß sie mir Adieu sagte! Du hast sie fortgeschickt, damit ich sie nicht mehr sehen sollte – du, du! Das ist schändlich von dir – das ist – das ist gemein!« Er ging gegen sie an.
Langsam wich sie zurück – seine Hände hoben sich, wollte er sie schlagen?!
»Bengel!« Des Vaters Faust packte ihn im Genick. »Was unterstehst du dich? Die Hand gegen deine Mutter zu heben?! Du – du!« Der empörte Mann rüttelte den Knaben, dem die Zähne zusammenschlugen, und schüttelte ihn wieder und wieder. »Du – du Rüpel, du Nichtsnutz!«
»Sie hat sie mir nicht Adieu sagen lassen,« schrie der Knabe dagegen, »sie hat sie weggeschickt, weil – weil –«
»Du willst dich noch erdreisten, ein Wort zu –«
»Doch! Warum hat sie die Cilla mir nicht Adieu sagen lassen, die hat ihr gar nichts getan, die hab' ich lieb gehabt, aber darum, gerade darum –«
»Schweig!« Ein heftiger Schlag traf des Knaben Lippen. Schlieben kannte sich selber nicht mehr; seine Ruhe hatte ihn verlassen, des Knaben Widersetzlichkeit jagte ihn in die Hitze. Wie der sich gegen seine haltende Hand sträubte, ihm mit dreisten Augen ins Gesicht sah! Wie der es wagte, die Stimme gegen ihn zu erheben! »Du« – er schüttelte ihn – »also so frech?! So undankbar?! Was wäre aus dir geworden – im Elend wärst du verkommen – ja – sie hat dich erst zum Menschen gemacht – dich aufgelesen aus dem –«
»Paul!« Der Schrei seiner Frau unterbrach Schlieben. Wie eine Sinnlose fiel ihm Käte in den Arm: »Nein, nein, laß ihn! Du sollst nicht, – nein!« Sie hielt ihm den Mund zu. Und als er sie im Ärger von sich schob und den Knaben wieder fester packte, entriß sie diesen ihm und drückte wie schützend seinen Kopf in ihr Kleid. Sie hielt seine Ohren zu. Und angstvoll, die überweit geöffneten Augen im tief erbleichten Gesicht nach ihrem Manne kehrend, flehte sie: »Kein Wort! Ich bitte, ich bitte dich!«
Sein Zorn war noch nicht verraucht. Wahrhaftig, Käte mußte nicht ganz bei sich sein! Was entzog sie denn den Knaben der wohlverdienten Züchtigung?! Mit hartem: »Aber Käte – kein Pardon!« ging er von neuem auf den Knaben zu.
Da flüchtete sie diesen zur Tür hinaus, riegelte ab und stellte sich vor die Tür, wie um den Ausgang zu versperren.
Nun war Wolfgang fort. Nun waren sie beide allein, sie und ihr Mann, und mit dem vorwurfsvollen Ruf: »Du hättest es ihm beinah verraten,« wankte sie nach dem Sofa. Sie fiel mehr hin, als daß sie sich setzte, und brach in fassungsloses Weinen aus.
Mit großen Schritten ging Schlieben im Zimmer auf und ab. In der Tat, da hätte er sich von seiner Empörung beinahe hinreißen lassen! Aber wäre es denn ein Unglück gewesen, wenn er dem Jungen ein Licht aufgesteckt hätte?! Mochte der nur wissen, woher er stammte, und daß er nichts, eigentlich gar nichts hier zu suchen hatte! Daß er alles aus Gnade empfing! Es war durchaus nicht nötig, eher nachteilig als wünschenswert, ihm das zu verheimlichen. Aber wenn sie es denn durchaus nicht haben wollte!
Er unterbrach sein Hin- und Hergehen, blieb vor der in der Sofaecke Weinenden stehen und sah auf sie nieder. Sie tat ihm so unendlich leid. Das hatte sie nun für all ihre Güte, ihre Selbstlosigkeit, für all ihre Aufopferung! Sacht legte er ihr, ohne Wort, die Hand auf den tiefgesenkten Scheitel.
Da richtete sie sich jäh auf und haschte nach seiner Hand: »Und tu ihm nichts, ich bitte dich! Schlage ihn nicht! Ich bin schuld – er hat's erraten. Ich konnte sie nicht leiden, ich habe ihr gekündigt, und dann habe ich sie heimlich fortgeschickt – nur, weil er sie lieb hatte, gerade darum! Ich fürchtete sie. Paul, Paul« – sie rang reuevoll die Hände – »o Paul, ich schäme mich vor dem Kinde, ich schäme mich vor mir selber!« – –
Wolfgang hockte oben in seiner Stube und hielt die Heiligenbildchen in der Hand. Die waren nun sein köstlichster, sein einziger Besitz; ein teures Andenken. Wo sie jetzt wohl sein mochte? Noch hier im Grunewald? Schon in Berlin? Oder noch viel weiter? Ach, wie er sich nach ihr sehnte! Ihr freundliches, ihm heimlich-zulächelndes Gesicht fehlte ihm, und dies Vermissen steigerte sich bis zur Unerträglichkeit. Hier war ja keiner, der ihn so lieb hatte, wie sie ihn lieb gehabt – den er so lieb hatte, wie er sie lieb gehabt hatte!
Nun Cilla fort war, vergaß er, daß er sie doch auch oft ausgelacht und gehänselt, sich auch jungenhaft mit ihr gezankt hatte. Nun wuchs seine Sehnsucht ins Unbegrenzte, und ihre Gestalt wuchs mit. Wurde so groß und stark, so übermächtig, daß sie ihm den Blick benahm auf alles andre, was noch um ihn war. Er warf sich auf den Teppich und krallte die Hände hinein; so mußte er sich halten, sonst hätte er alles um sich zerschlagen, alles, kurz und klein.
Das war der Tritt des Vaters auf der Treppe! Es rüttelte an seiner Tür. Mochte er rütteln! Wolfgang hatte sich eingeschlossen.
Aha, nun gab's Prügel! Hastig wischte sich Wolfgang die Tränen ab, biß die Zähne zusammen und kniff die Lippen aufeinander.
»Nun, wird's bald?!« Immer stärker wurde das Rütteln.
Da ging er und schloß auf. Der Vater trat ein; nicht mit dem Stock, den der Knabe in seiner Hand vermutet hatte, aber mit Zorn und Kummer auf der Stirn.
»Komm sofort herunter! Du hast deine arme, gute – nur zu gute Mutter tief gekränkt. Komm jetzt zu ihr und bitte ab. Zeige ihr, daß dir's leid tut – hörst du?! Komm!«
Der Knabe rührte sich nicht. Mit einem namenlos unglücklichen, zugleich aber auch verbissenen Ausdruck starrte er, am Vater vorbei, ins Leere.
»Du sollst kommen – hörst du nicht? Deine Mutter wartet!«
»Ich komm' nicht!« Wolfgang murmelte es; kaum daß er die Zähne voneinander brachte.
»Was –?!« Sprachlos, ganz benommen von so viel Frechheit, starrte der Mann den Knaben an.
Dieser erwiderte seinen Blick, groß und starr. Das junge Gesicht war so blaß, daß die dunklen Augen noch dunkler erschienen; abgrundschwarz.
›Böse Augen,‹ sagte sich Schlieben. Und von einem alten, längst vergessenen, aber trotz allem und allem immer noch in der tiefsten Seele schlummernden, jetzt plötzlich lebendig gewordenen Argwohn jäh übermannt, faßte er den Knaben vorn bei der Brust und hielt ihn so mächtig, daß es keinen Widerstand mehr gab.
»Bengel! Bursche! Hast du denn gar kein Herz? Sie, die dir so viel Gutes getan hat, sie, sie wartet auf dich – und du, du willst nicht?! Auf die Kniee, sag' ich! Voran – bitte ab! Sofort!« Und er faßte den keine Regung Zeigenden nun im Genick anstatt bei der Brust, und stieß ihn vor sich her, die Treppe hinunter, hinein ins Zimmer, wo Käte saß, versunken in ihren Kummer, die Augen rotgeweint.
»Hier kommt einer, der abbitten will,« sagte Schlieben und stieß ihr den Knaben vor die Füße.
Wolfgang hatte schreien wollen: ›nein, ich bitte nicht ab, nun erst recht nicht!‹ – da tat sie ihm auf einmal so leid. Ach, die war ja ebenso unglücklich wie er – sie paßten nun einmal nicht zueinander! Das war wie eine plötzliche Erkenntnis, die seinen Blick vertiefte, sein Kindergesicht so verschärfte in allen Linien, daß es alt wurde über seine Jahre.
Aufschluchzend stieß er heraus: »Verzeih!« Er hörte es selber nicht, wie viel Qual in seinem Ton lag, er fühlte auch kaum, daß ihre Arme ihn emporzogen, daß er für Augenblicke an ihrer Brust lag und sie ihm die Haare aus der glühenden Stirn strich. Er war wie halb bewußtlos; nur eine große Leere fühlte er und eine unklare Trostlosigkeit.
Wie im Traum hörte er den Vater sprechen: »So ist's recht! So, nun geh und arbeite! Und bessere dich!« Und der Mutter sanfte Stimme: »Ja, er wird schon!« Wie ein Nachtwandelnder ging er die Treppe hinauf. Er sollte jetzt arbeiten – wozu, warum?! Es war ja alles so gleichgiltig. Gleichgiltig war es, ob die hier ihn lobten oder tadelten – was ging ihn alles hier an?! Er mochte hier überhaupt nicht mehr sein, nicht länger mehr bleiben – nein, nein! Wie im Abscheu schüttelte er sich.
Lange stand er dann auf einem Fleck, ins Leere stierend. Und vor seinen starrenden Blicken erstand allmählich eine große, eine unermeßliche Weite – Kornfelder und Heide, rote blühende Heide, in der die Sonne versinkt, stille Wasser, an denen ein einsamer Vogel lockt und über all dem feierlich-schönes Glockengeläut. Da mußte er hin! Verlangend streckte er die Arme aus, seine verweinten Augen glänzten auf.
Wenn sie ihn hier hielten, festhielten – nein, sie konnten ihn nicht halten! Dahin mußte er!
Wie gezogen näherte er sich dem Fenster. Tief war's da hinunter, zu tief für einen Sprung, aber er würde doch hinabkommen. Über die Treppe ging es freilich nicht, da würden sie ihn hören, aber so – ha, so!
Sich auf das äußere Gesims des Fensters knieend, streckte er tastend die Füße nach der Wasserrinne aus, die, zur Seite des Fensters, die ganze Wand des Hauses hinablief. Ha, er fühlte sie! Da rutschte er vom Sims herab, hing nur noch mit den Fingerspitzen daran, baumelte für ein paar Momente in freier Luft, hatte dann die Wasserrinne zwischen den Knieen, ließ die Finger vollends vom Sims, umklammerte das Blechrohr und fuhr daran hinab, rasch und lautlos.
Scheu sah er sich um: es hatte ihn niemand gesehen! Niemand war auf der Straße, fern wanderten nur ein paar Spaziergänger. Geduckt schlich er unter den Parterrefenstern her – nun war er im Garten hinter den Bosketts – nun über den Zaun – seine Hose schlitzte, das machte nichts – nun sah er mit einem Gefühl wilden Triumphes nach dem Hause zurück. Er stand drüben auf dem öden Feld, das noch immer unbebaut lag; stand, gedeckt von einem wilden Hollunderbusch, dessen ersten Sprößling er vor Jahren, als Kind, hier eingesenkt hatte. Keine Empfindung des Bedauerns regte sich in ihm. Flüchtig wie ein Wild, das Schüsse hört, jagte er davon, dem deckenden Walde zu.
Er rannte und rannte, lief noch, als längst kein Laufen mehr not tat. Erst eine völlige Erschöpfung zwang ihn, innezuhalten. Er war immer quer durchgelaufen, ohne jeglichen Weg; nun wußte er nicht mehr, wo er war. So viel war sicher, er war schon weit fort; so weit war er auf seinen Räuberzügen mit den Spielgefährten nicht gekommen, so tief in den Wald hinein nicht, auch nie auf Spaziergängen so gänzlich ins Pfadlose, ins ganz Einsame. Hier konnte er ruhig eine Weile rasten.
Er warf sich auf den Boden, dessen Sand nur feinfädiges Gras und in kleinen Senkungen einige Bestände von Adlerfarrn wies. Um ihn reckten sich stille Bäume wie schlanke Säulen, die den Himmel zu tragen schienen.
Hier lag er eine Weile auf dem Rücken und ließ das Blut ausrasen, das ihm wie toll durch die Adern schoß. Er glaubte das unerklärlich heftige Pochen seines Herzens laut zu hören – o, wie unangenehm es ihm da in der Brust hämmerte und stach, so hatte er noch nie sein Herz gespürt! Freilich, so war er auch noch nie gelaufen, wenigstens seit der Krankheit nicht. Er mußte nach Luft ringen, er glaubte zu ersticken. Endlich konnte er wieder bequemer atmen; jetzt brauchte er nicht mehr die Nasenflügel zu blähen und mit offenem Munde zu schnappen. Jetzt genoß er ein Wohlbehagen, das allmählich über ihn kam.
Es war noch nicht dämmerig, als er wieder weiterging, aber doch schon begann der Spätnachmittag zu zeigen, daß es Oktober war. Der Sonnenschein, der durch die roten Kiefernäste fiel, hatte etwas unendlich Mildverklärtes, eine süße Sanftheit, die auch den wilden Durchgänger sänftigte. Er ging in einem Traum – wohin? Das wußte er nicht, daran dachte er auch nicht, er ging eben, ging. Ging einer Sehnsucht nach, die ihn unwiderstehlich zog, die wie eine ihr Nest suchende Taube vor ihm herflatterte, girrte und lockte. Und die Taubenschwingen waren stärker denn Adlerfittiche.
Wo die Sehnsucht flog, da waren keine Menschen. Da war es so friedlich-still. Nicht einmal der Fuß, der in Moos und kurzem Gras versank, machte ein Geräusch. Dünnen Kerzen gleich, die oben brannten, so standen die Kiefern in sonnigen Abendgluten. Kein herbstliches Blatt, in dem ein Wind hätte rascheln können, lag am Boden; über die glatten Nadeln und die farblosen Zäpfchen, die von den Kronen herabgesunken waren, strich die Luft hin ohne Laut.
Daß es so schön hier war! Mit einem staunenden Entzücken sah Wolfgang sich um. So schön hatte es ihn früher doch nie gedeucht! Freilich, da wo die Villen stehen und die Wege führen, da war's auch nicht so wie hier! Sein Blick glitt bald nach rechts, bald nach links, und mit Neugier voraus in den Dämmer des Waldes. Da, wo das letzte Sonnengold nicht wie rotes Blut an den rissigen Borken klebte, da, wo das Licht nicht mehr hin traf, war ein weiches, geheimnisvolles Dunkeln, in dem die moosigen Stämme mit ihrem tiefen Grün trotzdem leuchteten. Und ein Duften war hier, so feucht-kühl, herb und frisch, daß die Brust wie befreit aufatmete und eine neue Kraft durch die Glieder rann.
Wolfgang begann jetzt, hier in der großen Ruhe die Aufregungen des Tages zu empfinden. Er faßte sich nach der heißen Stirn – ah, jetzt merkte er, daß er nicht einmal eine Mütze hatte! Aber was machte das? Er war frei, frei! Mit einem Jauchzen schoß er dahin, und dann erschrak er über die eigne laute Stimme: st, still! Nur nicht wieder eingesperrt werden, frei sein, frei!
Nun fühlte er keine Sehnsucht mehr. Eine große Wonne durchrann ihn, eine schrankenlose Seligkeit. Die Augen strahlten ihm – er riß sie weit auf – er konnte gar nicht genug die Welt bestaunen, als sähe er sie heut zum ersten Mal. Er rannte gegen die himmeltragenden Stämme und umfing sie mit beiden Armen; er drückte sein Gesicht an die harzige Rinde. War diese Rinde nicht weich, schmiegte sie sich nicht an seine glühende Wange wie eine schmeichelnde Hand?!
Er warf sich aufs Moos und reckte sich lang und rekelte sich in höchstem Behagen und sprang dann wieder auf – es litt ihn doch nicht – er mußte sehen, genießen, seine Freiheit genießen.
Nur ein einziger roter Streif über dem blauenden Wald verriet noch, wo die Sonne gestanden hatte, als er sich erst bewußt wurde, wo er eigentlich war. Hier führte die ehemalige Heerstraße von Spandau nach Potsdam; rostbraune und gelbe Kastanien zogen eine Allee durch ödes Land. In selten mehr befahrenen Wegrinnen lag der Sand fußhoch. Aha, hier kam man also nach Potsdam oder nach Spandau, je nachdem! Jedenfalls zu Häusern und zu Menschen – o weh, hörte man da nicht schon Hahnenkrähen und ein Rattern wie von langsamen Rädern?!
Kurz entschlossen bog der Knabe links ab von der alten Fahrstraße, kroch durch einen verbogenen Stacheldrahtzaun, der ein Stück Rodung, das neu angeschont war, schützen sollte, sprang wie ein Hirsch in weiten Sätzen über die kaum handhohen Pflänzlinge dahin und suchte eine Deckung.
Er brauchte keine, hierher kam kein Mensch. Langsamer ging er zwischen den kleinen Bäumchen; er hütete sich wohl, sie zu treten, bückte sich und besah sie, schritt sie ab wie ein Ackerer seine Furchen.
Und auf einmal war es Abend. Über die Erde waren Nebel gekrochen, leicht und klein, waren dann aufgestanden und größer geworden, waren hingehuscht über die Rodung im sich erhebenden Nachtwind und hatten sich dort den einzelnen, stehengebliebenen Knorren wie der Gespenster winkende Schleier angehängt.
Aber Wolfgang fürchtete sich nicht; er empfand kein Grauen. Was konnte ihm hier geschehen, hier, wohin nur ab und zu der ferne Pfiff einer Eisenbahn tönte und der Wind ein wenig Rauch, der Lokomotive entrissen, wie ein leichtes, rasch sich lösendes Wölkchen trug?!
Als wäre man in der Prärie, in den Steppen, dachte sich der Junge, da, wo keine Hütten mehr sind, nur Lagerfeuer ihr bißchen Rauch zum Zeichen senden. In die Seligkeit seiner Freiheit mischte sich eine gewisse Abenteurerlust. Das hatte er sich immer einmal gewünscht, im Freien zu kampieren. Ein Feuer würde er freilich nicht anzünden können und daran kochen; er hatte nichts dazu. Aber Hunger empfand er auch nicht, nur jetzt das einzige Bedürfnis, recht tief und lange zu schlafen.
Ohne Bedenken streckte er sich hin; der Boden war schon kühl, aber sein Anzug war dick und ließ die Kälte nicht durch. Den Kopf ein wenig erhöht bettend, reckte er das Gesicht gegen den Nachthimmel. An dem zogen milde Sterne auf und lächelten zu ihm nieder.
Er hatte geglaubt, gleich einzuschlafen, überwältigt von Müdigkeit, aber nun lag er doch noch lange mit offenen Augen. Ein unerklärliches Empfinden hielt ihn wach: dies war zu schön, zu schön, dies war ja schon ein herrlicher Traum! Goldene Augen behüteten ihn, ein samtiger Mantel hüllte ihn ein, eine Mutter wiegte ihn weich.
Fort waren Sehnsucht, Trotz, Schmerz, Wut, alles, was weh tat. Nur ein Glück war geblieben im unendlichen Frieden.