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Erstes Buch

I

Sie waren ein schöngeistig veranlagtes Ehepaar, und da sie das Geld hatten, künstlerische Neigungen zu pflegen, schriftstellerte er ein wenig, und sie malte. Sie spielten auch vierhändig und sangen Duette, wenigstens hatten sie das in der ersten Zeit ihrer Ehe getan; jetzt besuchten sie um so fleißiger Konzerte und die Oper. Überall, wohin sie kamen, gefielen sie; sie besaßen Freunde, man nannte sie ›scharmante Leute‹, und doch fehlte ihnen etwas zum Glück – sie hatten keine Kinder.

Und sie würden wohl auch keine mehr bekommen, waren sie doch nun schon über die Zeit hinaus verheiratet, in der einem die Kinder geboren werden.

In unbewachten Augenblicken, wenn er in seinem Bureau am Schreibtisch saß, besonders aber, wenn er auf seinen Ritten, die er, teils seiner Gesundheit wegen, teils noch aus Liebhaberei von der Kavalleristenzeit her, in die weitere Umgebung Berlins machte, märkische Dörfer passierte, wo auf sandigen Straßen Scharen von kleinen Flachsköpfen sich tummeln, seufzte er wohl und zog die Stirn in Falten. Aber er ließ es seine Frau nicht merken, daß er etwas vermißte, denn er liebte sie.

Sie aber konnte sich nicht so beherrschen; je höher die Zahl ihrer Ehejahre stieg, desto nervöser wurde sie. Ohne Grund war sie zuweilen gereizt gegen ihren Mann; über die Geburtsanzeigen in der Zeitung sah sie mit einer gewissen Scheu beharrlich weg, und fiel doch einmal ihr Blick auf: ›Die glückliche Geburt eines Knaben zeigen hocherfreut an‹ und so weiter, so legte sie hastig das Blatt hin.

Früher hatte Käte Schlieben allerlei niedliche Kindersachen gestrickt, gehäkelt, gestickt, genäht, – sie war ordentlich berühmt wegen der Zierlichkeit ihrer mit blau und rosa Band ausgeputzten Erstlingsjäckchen, jede ihrer jungverheirateten Bekannten erbat von ihr solch ein Wunderwerk – nun hatte sie diese Art von Handarbeit endgiltig aufgegeben. Sie hoffte nicht mehr. Was half es ihr, daß sie ihre Zeigefinger in die winzigen Ärmelchen des Erstlingsjäckchens steckte und, es so vor sich hinhaltend, dieses mit träumerischem Blick lange, lange ansah?! Es machte ihr nur Pein.

Und die Pein ward doppelt fühlbar in jenen grauen Tagen, die ohne Grund plötzlich da sind, die auf leisen Sohlen auch mitten im Sonnenschein gehuscht kommen. Dann lag sie auf dem Ruhebett in ihrem mit allem Geschmack, wahrhaft künstlerisch ausgestatteten Zimmer und kniff die Augen zu – von der Straße herauf, von der Promenade unter den Kastanienbäumen, stieg ein Ruf auf, hell, durchdringend, jauchzend wie segelnder Schwalben Schrei. Sie hielt sich die Ohren zu vor diesem Schrei, der weiter drang als jeder andre Ton, der sich pfeilschnell hinauf in den Äther schwang und hoch und selig sich wiegte. Sie konnte so etwas nicht hören. Das wurde krankhaft.

Ach, wenn sie nun beide alt waren, schwer aufnahmefähig, zu müde, um sich die Anregung außen zu holen, wer würde ihnen die dann ins Haus bringen?! Wer würde ihnen etwas zutragen von all dem da draußen? Ihnen mit seiner Frische, mit der Freudigkeit, die die Zwanzig umhüllt wie ein köstliches Gewand, die wie Wärme und Sonne von faltenlosen Stirnen strahlt, einen Hauch der Jugend wiedergeben, die ihnen nach den Gesetzen der Zeit schon entschwunden war?! Wer würde sich begeistern an dem, was sie einst begeistert hatte und das sie nun wiederum genossen, als wäre es auch ihnen neu?! Wer würde mit seinem Lachen Haus und Garten füllen, mit jenem sorglosen Lachen, das so ansteckend wirkt?! Wer würde sie mit warmen Lippen küssen und sie froh machen mit seiner Zärtlichkeit?! Wer würde sie auf seinen Schwingen mittragen, so daß sie nicht fühlten, daß sie müde waren?!

Ach, den Kinderlosen blüht keine zweite Jugend! Niemand würde das Erbe antreten, das sie hinterließen an Schönheitsfreude, an Schönheitssinn, an Begeisterung für Kunst und Künstler; niemand würde ein pietätvoller Hüter sein all jener hundert Sachen und Sächelchen, die sie mit Geschmack und Sammlerfreude in den Räumen ihrer Wohnung zusammengetragen hatten. Ach, und niemand würde, wenn jene letzte schwere Stunde kommt, vor der alle bangen, mit liebenden Händen die erkaltende Hand festhalten wollen: ›Vater, Mutter, geht nicht! Noch nicht?‹ – O Gott, o Gott, solch liebende Hände würden ihnen nicht die Augen zudrücken – – –!

Wenn jetzt Schlieben aus dem Kontor nach Hause kam – er war Mitinhaber einer großen Handelsfirma, die sein Großvater einst begründet und sein Vater zu hohem Ansehen gebracht hatte – fand er das liebenswürdige Gesicht seiner Frau oft rotfleckig, den ganzen zarten Teint durch anhaltendes Weinen zerstört. Und der Mund zwang sich nur zum Lächeln, und in den schönen braunen Augen lauerte es wie Trübsinn.

Der Hausarzt zuckte die Achseln: die gute Frau war eben nervös, sie hatte zu viel Zeit zum Grübeln, war zu sehr sich selbst überlassen!

Um dies zu ändern, schied der besorgte Ehemann für unbegrenzte Zeit aus dem Geschäft aus: seine Sozien machten das ja auch ebensogut ohne ihn, der Arzt hatte recht, er mußte sich mehr seiner Frau widmen; sie waren ja beide so allein, so ganz und gar aufeinander angewiesen!

Man beschloß, auf Reisen zu gehen; es war ja durchaus kein Zwang da, zu Hause zu bleiben. Die schöne Wohnung gab man auf; die Möbel, die ganze kostbare Einrichtung kam zum Spediteur. Wenn es einem gefiel, konnte man nun Jahre fortbleiben, Eindrücke sammeln, sich zerstreuen; Käte würde in schönen Gegenden landschaftern, und er, Schlieben, nun, wenn ihm die gewohnte Arbeit fehlte, konnte er ja leicht in schriftstellerischer Tätigkeit Ersatz finden!

Sie reisten nach Italien und Korsika, noch weiter, nach Ägypten und Griechenland; sie sahen das schottische Hochland, Schweden und Norwegen, unendlich viel Herrliches.

Dankbar drückte Käte ihrem Paul die Hand; sie schwelgte. Ihr empfängliches Gemüt begeisterte sich, und ihr nicht ganz unbedeutendes Maltalent fühlte sich auf einmal mächtig angeregt. Ach, all das malen können, auf der Leinwand festhalten, was an Farbenglut und Stimmungszauber sich dem entzückten Auge enthüllte!

Am Morgen schon zog die Eifrige mit ihren Malsachen aus, ob's nun auf dem Felsen von Capri, am blauen Bosporus oder im gelben Sand der Wüste, ob's angesichts der schroffen Zinken der Fjorde oder in den Rosengärten der Riviera war. Ihr zartes Gesicht verbrannte; selbst auf ihre Hände, die sie sonst sorgfältig gepflegt hatte, achtete sie nicht mehr. Das Fieber der Betätigung hatte sie erfaßt. Gott sei Dank, jetzt konnte sie etwas schaffen! Das klägliche Gefühl eines nutzlosen Lebens war nicht mehr da, nicht mehr das peinigende Bewußtsein: dein Leben hört auf mit dem Augenblick, in dem deine Augen sich schließen, da ist nichts von dir, was dich überdauert! Jetzt hinterließ sie doch wenigstens etwas Selbstgeborenes – wenn's auch nur ein Bild war. Die Werke mehrten sich; eine ganze Menge von Rollen bemalter Leinwand schleppte man nun schon mit sich herum. Es hatte Schlieben anfänglich große Freude gemacht, seine Käte so eifrig zu sehen. Galant trug er ihr Feldstuhl und Staffelei nach und verlor nicht die Geduld, Stunden und Stunden bei ihrer Arbeit zugegen zu sein. Er lag im spärlichen Schatten einer Palme und folgte, über sein Buch wegblickend, den Bewegungen ihres Pinsels. Welch ein Glück, daß sie so viel Befriedigung in ihrer Kunst fand! Wenn es auch für ihn ein wenig ermüdend war, so untätig umherzuliegen – nein, er durfte doch kein Wort sagen, hatte er ihr doch nichts, gar nichts als Ersatz zu bieten!

Und er seufzte. Das war derselbe Seufzer, der ihm entfahren war, wenn auf den sandigen Straßen der Mark die unzähligen Flachsköpfe spielten, derselbe Seufzer, den ihm die Sonntage entlockten, an denen er das ganze städtische Proletariat – Mann und Weib und Kinder, Kinder, Kinder – hatte nach dem Tiergarten wallen sehen. Ja, schon recht – ein wenig nervös fuhr er sich über die Stirn – jener Schriftsteller hatte schon recht – welcher war es doch gleich? – der da einmal irgendwo sagte: ›Warum heiratet der Mann? Nur um Kinder zu haben, Erben seines Leibes, seines Blutes. Kinder, denen er weitergeben kann, was in ihm ist an Wünschen, Hoffnungen und auch an Errungenschaften; Kinder, die von ihm abstammen wie die Schößlinge von einem Baum, Kinder, die dem Menschen ein Fortleben in Ewigkeit ermöglichen.‹ So allein war das Leben nach dem Tode aufzufassen – das ewige Leben! Die Auferstehung des Fleisches, die die Kirche verheißt, war zu verstehen als das Sicherneuen der eignen Persönlichkeit in folgenden Geschlechtern. Ach, es war doch etwas Großes, etwas unbeschreiblich Beruhigendes in solchem Fortleben!

»Grübelst du?« fragte Frau Käte. Sie hatte für einen Augenblick von ihrer Staffelei aufgesehn.

»Was – wie – sagtest du was, mein Herz?« Erschrocken fuhr er auf, wie ein auf verbotenem Wege Schweifender.

Sie lachte über seine Zerstreutheit: die wurde ja immer schlimmer! Woran dachte er nur? Geschäfte – sicher nicht! Aber vielleicht wollte er eine Novelle schreiben, einen Roman? Warum sollte er's nicht einmal damit versuchen?! Das war doch noch etwas andres, als kleine Reiseplaudereien an die ›Vossische‹ oder an die ›Frankfurter Zeitung‹ schicken! Und es würde ihm schon glücken; Leute, die nicht halb die Bildung hatten, nicht halb das Wissen, nicht halb das ästhetische Feingefühl wie er, schrieben doch ganz lesbare Bücher!

Sie redete heiter auf ihn ein, aber er schüttelte mit einer gewissen Resignation den Kopf: ach was, Romane, schriftstellern überhaupt! Und er dachte: da sagt man immer, ein Werk ist wie ein Kind – aber, wohlverstanden, nur ein echtes, großes Werk –, das, was er und seine Frau schufen, waren das Werke in diesem Sinne, Werke, die Ewigkeitsbestand in sich trugen?! Er fand plötzlich an ihrem Bild, das er gestern noch galant bewundert hatte, heute streng zu tadeln.

Sie war ganz erschrocken darüber: warum war er nur heute so gereizt? Wurde er am Ende gar nervös? Ja, es war augenscheinlich, die laue Luft des Südens taugte ihm nicht, er sah abgespannt aus, so müde in den Mienen. Da half nichts, ihr Mann war ihr denn doch lieber als ihr Bild, sofort würde sie abbrechen!

Und so geschah es denn auch, sie reisten ab, reisten von einem Ort zum andern, von einem Hotel zum andern, an den Seen entlang, über die Grenze, bis sie auf einer Schweizer Alpenhöhe längere Rast machten.

Statt unter einer Palme lag er hier nun wieder im Schatten einer Tanne – seine Frau malte – und er folgte über das aufgeschlagene Buch weg mit den Blicken den Bewegungen ihres Pinsels.

Sie malte emsig, hatte sie doch ein reizendes Motiv entdeckt: diese grüne Alpenmatte mit einem Blumenflor, bunter denn bunt, mit den sonnbeglänzten Rücken der braunen Kühe, war anmutvoll wie der Paradiesesgarten am ersten Schöpfungstag! Im Eifer des Sehens hatte sie den breitrandigen Schutzhut nach hinten geschoben, die warme Sommersonne sengte ungehindert goldne Tüpfchen auf ihre zarten Wangen und den schmalen Sattel der feinen Nase. Den Pinsel, den sie ins Grün ihrer Palette getaucht hatte, hielt sie prüfend gegen das Grün der Matte und blinzelte mit halb geschlossenen Augen, ob die Farbe auch stimmte.

Da schreckte ein Laut sie auf – halb war's ein Murren des Unwillens über die Störung, halb ein Brummen des Beifalls – ihr Mann hatte sich aufgerichtet und blickte auf ein paar Kinder, die sich ihnen lautlos genähert hatten. Sie boten Alpenrosen zum Kauf an, das Mädchen hatte ein Körbchen davon voll, der Junge trug seinen Strauß in der Hand.

Waren das wunderhübsche Geschöpfe, das Mädchen so blauäugig sanft, der Junge ein Erzschelm! Der Frau schwoll das Herz; sie kaufte den Kindern all ihre Alpenrosen ab, gab ihnen sogar mehr dafür, als sie forderten.

Das war den kleinen Schweizern so recht ein Glück – noch mehr bekommen, als man fordert?! Vor Freude erröteten sie, und als die fremde Dame sie liebreich ausfragte, fingen sie freimütig an zu plaudern.

Die Kinder mußte sie malen, die waren zu entzückend, die waren ja tausendmal schöner als die schönste Landschaft!

Schlieben sah es mit einer seltsamen Unruhe, daß seine Frau die Kinder malte; erst das größere Mädchen, dann den kleinen Buben. Mit welcher Hartnäckigkeit hing ihr Blick an dem runden Knabengesicht! In ihren Augen war Glanz, sie schien nie müde zu werden, machte nur Pause, wenn die Kinder nicht mehr Geduld hatten. All ihr Denken drehte sich um diese Malerei: würden die Kinder heute auch kommen? War die Beleuchtung gut? Um Gottes willen, es würde doch kein Unwetter werden, das die Kinder abhielt?! Nichts andres hatte Interesse für sie. Das war eine große Hingabe. Und doch wurden es schlechte Bilder; die Züge ähnlich, aber keine Spur der Kindesseele darin. Er sah es klar: die Kinderlose kann nicht Kinder malen!

Arme Frau! Mit einem Gefühl tiefen Mitleids sah er ihren Bemühungen zu. Wurde ihr Gesicht nicht mütterlich weich, lieblich rund, wenn sie sich zu den Kindern neigte? Der Typus der Madonna – und doch waren dieser Frau Kinder versagt – – –!

Nein, er konnte dies nicht länger mehr mitansehen, es machte ihn krank! Unwirsch hieß Schlieben die Kinder nach Hause gehen. Die Bilder waren fertig, wozu noch länger daran herumpinseln, das machte sie nicht besser, im Gegenteil! –

An diesem Abend weinte Käte so, wie sie zu Hause geweint hatte. Und sie zürnte ihrem Manne: warum ließ er ihr nicht diese Freude?! Warum hieß es so plötzlich: abreisen!? Sie kannte ihn gar nicht wieder – waren die Kinder nicht lieb, entzückend, störten sie ihn denn?!

»Ja,« sagte er nur. Es war ein harter, trockener Klang in seiner Stimme – ein so mühsames ›Ja‹ –, sie hob das Gesicht aus dem Taschentuch, in das sie hineingeweint hatte, und sah zu ihm hin. Er stand am Fenster des teppichbelegten Hotelzimmers, die Hände auf die Fensterbrüstung gestützt und die Stirn gegen die Scheibe gepreßt. So sah er stumm hinaus in die große Landschaft, in der Berggipfel voll abendsonnenfrohen Firns von ewiger Unvergänglichkeit redeten. Wie kniff er die Lippen, wie nervös zuckte sein Schnurrbart!

Sie schlich zu ihm hin und legte ihren Kopf an seine Schulter. »Was fehlt dir?« fragte sie leise. »Entbehrst du die Arbeit – ja, die Arbeit, nicht wahr? Ich fürchtete es schon. Es wird dir langweilig, du mußt wieder in Tätigkeit. Ich versprech dir's, ich will verständig sein – nie mehr klagen – nur bleibe jetzt noch ein bißchen hier, nur noch drei Wochen – zwei Wochen!«

Er blieb stumm.

»Nur noch zehn – acht – sechs Tage! Auch das nicht mal?!« Sie sagte es schmerzlich enttäuscht, er hatte verneinend den Kopf geschüttelt. Ihre Arme schlangen sich um seinen Hals: »Ich bitte dich, nur noch fünf – vier – drei Tage! Warum denn nicht? Ich bitte dich, die paar Tage – nur drei Tage noch!« Sie feilschte förmlich um jeden Tag. »Ach, dann wenigstens zwei Tage noch!«

Sie schluchzte auf, ihre Arme lösten sich von seinem Halse – zwei Tage mußte er doch zugeben!

Ihre Stimme schnitt ihm durchs Herz; so hatte er sie noch nie bitten hören, aber er stemmte sich gegen die Nachgiebigkeit, die ihn beschleichen wollte: nur keine Sentimentalität! Es war besser, hier rasch aufzubrechen, viel besser für sie!

»Wir reisen morgen!«

Und als sie ihn ansah mit weitgeöffneten, schreckensstarren Augen, tief erbleicht, da entfuhr es ihm, ohne daß er es sagen wollte, herausgelockt von einer Bitterkeit, deren er nicht mehr Meister wurde: »Sie sind ja doch nicht dein!«


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