Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

VI

Schliebens hatten glücklich Berlin erreicht. Frau Käte war angegriffen, als sie aus dem Coupé stiegen; ihr Haar war verwirrt, ihre Eleganz ein wenig mitgenommen. Es war doch keine Kleinigkeit gewesen, mit dem Kinde die weite Reise zu machen. Ein Glück nur, daß sie in Köln so rasch eine gute Wärterin gefunden hatten – eine Witwe, kinderlieb und wohlerfahren, eine echte rundlich-behäbige Kinderfrau – aber es hatte für die Mutter doch noch genug zu sorgen gegeben. Ob das Kind sich erkältet hatte oder ob ihm die Flasche nicht schmeckte? Es hatte geschrieen, mit der ganzen Kraft seiner Lungen – kein Umhertragen half, kein Schaukeln, kein Wiegen, kein Singen – es hatte geschrieen aus vollem Halse während der ganzen Fahrt nach Berlin.

Aber, Gott sei Dank, nun war man ja zu Hause! Und wie mit Zauberschnelle ordnete sich alles. Die behagliche Wohnung von früher war freilich vermietet; aber im Grunewald entstand Villa neben Villa, und da man ja jetzt ja so viel mehr Platz brauchte, bezog man eine dieser Villen. Erst zur Miete; dann würde man sie wohl kaufen, denn es war wirklich nicht möglich, ein Kind wie dieses in eine Stadtwohnung zu bringen. Einen Garten mußte es doch haben.

Sie nannten ihn Wolfgang. ›Wolf‹ hatte etwas so Kurzes, Kraftvolles, Energisches, und – mit einem leisen wohligen Schauer dachte es Käte – es war wie eine geheime Erinnerung an das Venn, jene Wildnis, über die sie triumphiert hatten, und der sie nur dies eine kleine Zugeständnis machten. Und ›Wölfchen‹ – wenn man so das ›Wolf‹ verkleinerte – klang es nicht unendlich liebevoll?!

›Wölfchen‹ – das sagte die junge Mutter wohl hundertmal am Tag.

Die junge Mutter! Frau Käte fühlte es: ach ja, sie war wieder jung geworden in ihrem Kinde, ganz jung. Ihre fünfunddreißig Jahre hätte ihr niemand geglaubt, und sie selber am wenigsten. Wie konnte sie laufen, wie die Treppe hinaufhuschen, wenn es hieß: »Das Kind ist aufgewacht! Es schreit nach der Flasche!«

Sie, die früher so viele Stunden auf der Chaiselongue zugebracht hatte, kam jetzt keine Minute im Tag zum Hinlegen; dafür schlief sie des Nachts um so fester. Es war doch so, wie sie andre Frauen hatte sagen hören: ein Kleines nimmt die Mutter ganz und gar in Anspruch. O, was waren es für inhaltleere, farblose Tage gewesen, die sie früher so hingelebt hatte! Jetzt erst hatte ihr Leben Inhalt, Wärme, Glanz.

Jeden Tag ging sie neben dem Kinderwagen her, den die Wärterin schob, spazieren, und es machte ihr ein besonderes Vergnügen, selber einmal den leichten kleinen Wagen mit seinem weißen Lack, den vergoldeten Knöpfen und den blauen Seidengardinen zu fahren. Wie die Leute nach dem eleganten Wagen sahen – nein, nach dem schönen Kinde drehten sie sich um! Ihr Herz klopfte vor Freude, ihr geschmeicheltes Ohr fing die Rufe der Bewunderung auf – ›Das reizende Kind!‹ – ›Wie elegant!‹ – ›Die prachtvollen Augen!‹ – und dann schlug ihr Herz noch geschwinder, ein Gefühl seligen Stolzes erfüllte sie, so daß sie einher ging, den Kopf frei gehoben, die Augen voll Glück. Alle hielten sie ja für die Mutter, für des jungen Kindes junge Mutter, für des schönen Kindes schöne Mutter! Wie oft hatten Fremde ihr schon von der Ähnlichkeit gesprochen: ›Ihnen wie aus den Augen geschnitten, gnädige Frau, nur das Haar ist dunkler als das Ihre!‹ Dann hatte sie jedesmal gelächelt mit einem tiefen Erröten. Sie konnte den Leuten doch nicht sagen, daß er ihr eigentlich gar nicht ähnlich sehen konnte! Wußte sie es jetzt doch selber kaum mehr, daß kein Tropfen ihres Blutes in Wölfchens Adern floß.

Nach ihr schaute er zuerst, wenn er erwachte. Zwar stand sein mullverhangenes Bettchen neben dem Bett der Wärterin, aber der Mutter galt doch sein erster Blick, und auch sein letzter, denn niemand verstand es so gut wie sie, ihn in Schlaf zu singen.

»Schlaf, mein süßes Kind,
Draußen geht der Wind.
Höre, wie der Regen fällt
Und wie Nachbars Hündchen bellt!
Hündchen hat den Mann gebissen,
Hat des Bettlers Kleid zerrissen –«

das tönte Abend für Abend leise und schmeichelnd aus der Kinderstube, und der kleine Wolf schlief sanft dabei ein, beim Lied von Wind und Regen ob schutzlosen Häuptern und von Bettlern, deren Kleider der Hund zerreißt. –

Schlieben hatte jetzt keine Veranlassung mehr, sich über die Stimmungen seiner Frau zu beklagen. Alles war anders geworden – auch ihre Gesundheit – gleichsam neu, als sei noch einmal ein zweites Leben begonnen. Und er selber? Er selber hatte jetzt viel mehr Lust zur Tätigkeit. Nun er wieder ins Geschäft eingetreten war, fühlte er ein sonst nicht gekanntes Behagen, wenn er sah, daß neue Unternehmungen glückten. Unternehmungsgeist hatte er früher nie gehabt – wozu auch? Was er und seine Frau brauchten, hatten sie reichlich. Natürlich war es ihm angenehm gewesen, gut abzuschließen, aber daß es ihm Freude gemacht hätte, Geld zu verdienen, hätte er nicht sagen können. Er hatte immer mehr Vergnügen daran gefunden, es auszugeben.

Der alte Schlieben war darin ganz anders gewesen, von einer viel weniger großen Leichtigkeit, und er hatte sich, solange er lebte, stets darüber Vorwürfe gemacht, daß er den einzigen Sohn bei einem Kavallerieregiment hatte dienen lassen; da war dem von der kavalleristischen Flottheit etwas kleben geblieben, was mit den Ansichten des ursoliden, behäbig-bürgerlichen Kaufmanns nicht recht stimmen wollte. Und die Schwiegertochter? Nun, die war auch nicht so ganz nach dem innersten Herzen des alten Herrn gewesen, die hatte zu viel modernes Zeug im Kopf, und der Paul wurde ganz davon angesteckt. Man konnte ja ein gebildeter Mensch sein – warum nicht? – und sich auch für die Kunst interessieren, ohne darum so wenig realen Sinn zu besitzen!

Der biedere Mann, der Kaufmann von echtem Schrot und Korn und Urberliner, hatte nicht mehr die Freude gehabt, an seinem Sohn zu erleben, was jetzt dessen Sozien mit Verwunderung und ungemessenem Erstaunen wahrnahmen. Sie brauchten jetzt nicht mehr über Schliebens mangelndes Geschäftsinteresse die Achseln zu zucken und eine gewisse Spitze auf die Frau zu haben, die ihn so ganz in Beschlag nahm; jetzt hatte er das Interesse, das sie wünschten. Jetzt machte es ihm Freude, auf ihre Projekte einzugehen; es erschien ihm selber Bedürfnis, ja geradezu geboten, neue Verbindungen anzuknüpfen, den ruhigen, von lange her eingeschlagenen Geschäftsgang nach rechts und links, nach allen Seiten zu erweitern. Er zeigte Geschäftsgeist und wurde auf einmal praktisch. Und mitten in seinen Berechnungen, vertieft am Pult sitzend, konnte Schlieben sich dabei ertappen, daß er dachte: ›das wird dem Jungen einmal von Nutzen sein!‹ Dann aber konnte ihn dieser Gedanke doch wieder so irritieren, daß er die Feder hinwarf und unwirsch vom Pult aufsprang: nein, nur seiner Frau zu Gefallen hatte er den Jungen angenommen, lieben wollte er ihn nicht!

Und doch, wenn er zu Tisch nach Hause kam, an jenen köstlichen Nachmittagen, in denen die Kiefern um sein Haus dufteten und die reine Luft den nach angespannter Arbeit erwachten Appetit noch verstärkte, wenn ihm dann der Junge mit Geschrei entgegenzappelte, seinen kleinen Bauch klopfend: »Papa – essen – gut mecken,« und Käte sich lachend am Fenster zeigte, dann konnte er sich nicht enthalten, den hungrigen Schreier hoch in die Luft zu schwingen und ihn erst nach einem freundschaftlichen Klaps wieder auf die Füße zu stellen. Er war doch ein famoser Kerl! Und immer bei Appetit. Nun, Gott sei Dank, satt zu essen würde er ja auch immer haben!

Eine gewisse Behäbigkeit kam dabei über den Mann. Was er früher nie so gefühlt hatte: daß ein eignes Heim ein Glück bedeutet – das fühlte er jetzt. Und er empfand die Wohltat des gesicherten Besitzes, der es gestattet, sich das Leben mit allen möglichen Annehmlichkeiten auszugestalten. Hübsch war das Haus! Aber wenn er es demnächst kaufte, baute er doch noch an, und das Grundstück daneben kaufte er auch noch zu. Es wäre doch höchst fatal, wenn sich da etwa einer einem dicht auf die Nase setzte!

Es war Schlieben seinerzeit schwer geworden, hier draußen Wohnung zu nehmen, nachdem er, solange er denken konnte, in einer Berliner Stadtwohnung gelebt hatte. Nun aber pries er den Gedanken seiner Frau, hier herauszuziehen, als sehr glücklich. Nicht nur des Kindes wegen! Man hatte selber hier draußen ja einen ganz andern Genuß seines Heims; man kam viel mehr zum Bewußtsein eines solchen. Und wie viel gesünder war's – wahrhaftig, der Appetit war kolossal! Man wurde noch der reine Materialist! Und von seinem knurrenden Magen getrieben, folgte Schlieben dem eßlustigen Jungen ins Haus. – –

Wolfgang Solheid, genannt Schlieben, bekam die ersten Hosen. Es war ein Fest fürs ganze Haus. Käte ließ ihn heimlich photographieren, denn hübscher hatte nie ein Junge in ersten Hosen ausgesehen. Und sie stellte ihrem Mann das Bild des noch nicht Dreijährigen – weiße Hosen, weißer Faltenkittel, Pferdchen im Arm, Peitsche in der Hand – von einem Rosenkranz umgeben, in die Mitte seines Geburtstagstisches. Das war ja unter all den vielen Geschenken das Beste, was sie ihm geben konnte. Wie kräftig Wölfchen war! Hier auf dem Bilde sah man's erst: so groß wie ein Vierjähriger! Und trotzig sah er aus, unternehmend wie ein Fünfjähriger, der schon an Streit mit andern Buben denkt.

Glückselig wies die Frau dem Manne das Bild, und ein solches Leuchten war dabei in ihren Augen, daß er sich innig freute. Er dankte ihr, sie küssend, viele Male für diese Überraschung: ja, dieses Bild sollte neben dem ihren auf seinem Schreibtisch stehen! Und dann schäkerten sie beide mit dem Knaben, der sich in seinen ersten Hosen, die ihm noch unbequem waren, ungebärdig über den Teppich wälzte.

Schlieben konnte sich nicht entsinnen, je seinen Geburtstag so angenehm verlebt zu haben wie dieses Mal. Es war so viel Heiterkeit um ihn, so viel Freude. Und wenn auch Wolf schon am Mittag die ersten Hosen zerrissen hatte – wie und wo war der bestürzten Wärterin ganz unbegreiflich –, so störte das den Festtag nicht, im Gegenteil, das Lachen wurde noch heller. »Zerreiße Hosen, mein Junge, zerreiße,« flüsterte die Mutter lächelnd in sich hinein, als ihr der Schaden gezeigt wurde, »sei du nur froh und stark!«

Am Abend war Gesellschaft. Die Fenster der hübschen Villa waren hell erleuchtet, und im Garten war italienische Nacht. Lau war die Luft; unbeweglich breiteten die Kiefern ihre Äste unterm Sternenhimmel, und großen Glühwürmern gleich schimmerten bunte Lampions in Büschen und Laubgängen.

Im Oberstock der Villa, im einzigen nicht hell beleuchteten, nur von einer Milchglasampel matt beschienen, durch dichte Vorhänge und Jalousien still gehaltenen Gemach, lag Wölfchen und schlief. Aber unten ließ man ihn leben.

An der Festtafel war der Hausherr schon betoastet worden und dann seine liebenswürdige Gattin – mit was konnte man den Gefeierten nun noch mehr feiern, als daß man den Jungen leben ließ, seinen Jungen?!

Der Geheime Sanitätsrat Hofmann, der erprobte Arzt und langjährige Freund des Hauses, bat sich das Vorrecht aus, diese paar Worte sprechen zu dürfen. Er als Arzt, als Berater in mancher Stunde, er wußte ja am besten zu sagen, woran es hier noch gemangelt hatte. Alles war dagewesen: Liebe und innigstes Verstehen und auch das äußere Glück, aber – hier machte er eine kleine Pause und nickte der ihm gegenübersitzenden Frau des Hauses freundlich-verständnisinnig zu – das Kinderlachen hatte gefehlt! Und nun war auch das da!

»Kinderlachen – o du Erlösung!« rief er und zwinkerte, und eine Rührung kam dabei in seine Stimme, denn er gedachte auch seiner eignen drei, die freilich jetzt schon selbständig draußen im Leben ihren Weg gingen; aber ihr Lachen, das klang ihm noch immer in Herz und Ohr.

»Kein Kind – kein Glück! Aber ein Kind – ein Glück, ein großes Glück! Und hier zumal! Denn meine Doktoraugen haben sich noch kaum je an einem prächtigeren Brustkasten, an einem famoser entwickelten Schädel, an strammeren Beinen und blankeren Augen geweidet. Alle Sinne sind scharf; der Junge hört wie ein Luchs, sieht wie ein Falke, wittert wie ein Hirsch, fühlt – nun, ich habe mir sagen lassen, daß er schon auf die leiseste Berührung seiner Kehrseite lebhaft reagiert. Nur der Geschmack ist bis jetzt nicht in gleichem Grade fein entwickelt – der Junge ißt alles! Aber dies wiederum ist mir ein neuer Beweis seiner besonderen körperlichen Bevorzugung, denn, verehrte Anwesende –« hier kniff der Doktor scherzhaft blinzelnd das eine Auge zu – »wer von Ihnen spräche nicht mit mir: ein guter Magen, der alles verträgt, ist die größte Lebensmitgabe einer gütigen Vorsehung! Der Junge ist ein Glückskind. Ein Glückskind im doppelten Sinn des Wortes, denn nicht nur ist er selber alles Glückes voll, nein, das Glück ist auch bei denen, die um ihn sind, durch ihn eingekehrt. Hier, unsere liebe Frau, haben wir sie je früher so gesehen? So jung mit den Jungen, so froh mit den Frohen! Und hier, unser verehrter Freund – 's ist wahrhaftig nicht, als hätte der heute die Mitte der Vierzig erklommen – der steckt ja voll von Tatkraft, von Plänen und Unternehmungen wie einer mit zwanzig! Und hat dabei die schöne Ruhe, die behagliche Gesättigtkeit des glücklichen Hausvaters. Und das macht alles, alles der Glücksjunge! Darum, Dank sei der Stunde, die ihn bescherte, dem Winde, der ihn hergetragen hat! Woher –?!«

Der Doktor, der eine kleine, boshafte Ader hatte, machte jetzt geflissentlich eine Pause, räusperte sich und zupfte an seiner Weste, sah er doch so manches neugierige Auge erwartungsvoll auf sich gerichtet. Aber er sah auch den raschen, betroffenen Blick, den das Ehepaar miteinander tauschte, sah, daß Frau Käte erblaßt war und ängstlich, fast flehend an seinen Lippen hing, und so fuhr er geschwind mit einem gutmütig-einlenkenden Lachen fort: »Woher, meine Damen – nur Geduld! das will ich Ihnen jetzt sagen: vom Himmel ist er gefallen! Wie die Sternschnuppe fällt in der Sommernacht. Und unsre liebe Frau, die just spazieren ging, hat ihre Schürze aufgehalten und hat ihn sich heimgetragen in ihr Haus. So ist er denn der Stern dieses Hauses geworden, und wir alle und ich ganz besonders – wenn ich nun auch als Arzt hier überflüssig geworden bin – freuen uns seiner, ohne zu fragen, woher er uns ward. Alle gute Gabe kommt von oben, das haben wir schon in der Jugend gelernt – darum: auf das Wohl dessen, der unsern Freunden vom Himmel gefallen ist!«

Der Doktor war ernst geworden, es war eine gewisse Feierlichkeit darin, wie er jetzt seinen Champagnerkelch hob und ihn austrank bis zur Neige: »Prosit Rest! Auf das Wohl des Kindes, des Sohnes dieses Hauses! Der Glücksjunge, er wachse, blühe und gedeihe!«

Die schön geschliffenen Gläser klangen melodisch-hell aneinander. Es war ein Schwirren, ein Lachen, ein Hochrufen an der Festtafel, daß der kleine Junge oben in seinem Bettchen sich unruhig hin und her zu wälzen begann. Er murrte unzufrieden im Schlaf, warf die Lippen auf und zog die Stirn kraus zwischen den kleinen Brauen.

Unten rückten die Stühle. Man war aufgestanden, ging zu den Eltern hin und drückte ihnen, gleichsam gratulierend, die Hand. Das hatte Hofmann wirklich hübsch gemacht, wirklich riesig nett! Der kleine Kerl war aber auch allerliebst! Alle anwesenden Frauen waren sich darin einig, selten ein so hübsches Kind gesehen zu haben.

Kätes Herz, das bei dem Toast anfänglich ein wenig bang geklopft hatte – der gute Doktor würde doch, angeregt durch ein gutes Glas Wein und ein gutes Diner, nichts ausplaudern von dem, was man nur ihm und dem Anwalt anvertraut hatte?! – klopfte jetzt in einer lebhaften Empfindung von Glück. Ihre Augen suchten ihren Mann und sandten ihm heimlich-zärtliche, dankerfüllte Blicke. Und dann ging sie zu dem alten Freund hin und dankte ihm ›für all die guten, lieben Worte.‹ »Auch in Wölfchens Namen« sagte sie herzlich weich.

»Also hab' ich's doch recht gemacht? Na, das freut mich!« Der Freund zog ihren Arm in den seinen und ging ein wenig abseits von den übrigen mit ihr auf und ab. »Ich sah es, liebe Frau, Sie waren ängstlich, als ich von des Jungen Herkunft anfing. Was denken Sie denn von mir?! Aber es geschah mit Absicht, längst habe ich auf die Gelegenheit gebrannt. Glauben Sie mir, wenn ich jedesmal einen Taler kriegte, so oft ich nach des Jungen Herkunft – sei's offen oder hintenherum – ausgefragt werden soll, ich wäre jetzt schon ein vermögender Mann. Über manche Frage habe ich mich geärgert; das heut war die Antwort darauf. Hoffentlich haben sie sie verstanden! Sie sollen künftig ihre Vermutungen für sich behalten!«

»Vermutungen –?!« Käte zog die Augenbrauen zusammen und drückte des Arztes Arm. Was vermuteten die Leute – wußten sie schon etwas, ahnten sie das Venn?! Eine plötzliche Angst fiel sie an. Mit Blitzesschnelle tauchten Bilder vor ihr auf – hier mitten im festlich hellen Raum – dunkle Bilder, von denen sie nichts mehr wissen wollte.

»Um Gottes willen,« sagte sie leise, und ein Zittern war in ihrer Stimme. Wenn die Leute erst etwas wußten, o dann – sie sprach es nicht aus, die plötzliche Angst schnürte ihr die Kehle zusammen –, dann wurde man die Vergangenheit nicht los! Dann kam die und verlangte ihr Recht und war nicht mehr abzuschütteln! »Glauben Sie,« flüsterte sie stockend, »glauben Sie – daß man – das Richtige – vermutet?«

»I wo, keine Spur!« Hofmann lachte, wurde aber dann gleich ernsthaft. »Lassen wir doch die Leute und ihre Vermutungen, liebe Frau!« O weh, da hatte er sich auf ein heikles Thema eingelassen – ihm wurde ganz heiß – wenn sie wüßte, daß man ihrem Paul, dem treuesten aller Ehemänner, eine ganz besondere Verpflichtung gegen das Kind zuschrieb?!

»Vermutungen – ach, was vermutet man denn?« Sie drängte ihn, ihre Augen forschten angstvoll.

»Unsinn,« sagte er kurz. »Was wollen Sie sich darum kümmern?! Aber das habe ich Ihnen und Ihrem Gatten ja gleich gesagt: wenn Sie ein solches Geheimnis aus des Knaben Herkunft machen, wird viel daran herumgedeutelt werden. Nun, Sie haben es ja nicht anders gewollt!«

»Nein!« Und die Augen schließend, schauerte Käte leicht zusammen. »Er ist unser Kind – nur unser Kind –« sagte sie mit einer seltenen Härte im Ton. »Und etwas andres existiert nicht!«

Kopfschüttelnd und fragend sah er sie an, betroffen über ihren Ton.

Da stieß sie hervor: »Ich habe Angst!«

Er fühlte, wie die Hand, die auf seinem Arm lag, leise bebte. –

Mitten in der Heiterkeit des Abends war es auf Kätes Freude wie eine Lähmung gefallen. Sie wurde viel nach dem kleinen Wolf gefragt – das war so natürlich, man zeigte ihr durch diese Fragen freundschaftliches Interesse – und man beobachtete sie dabei im stillen: ganz großartig, wie sie sich benahm! Man hätte der zarten Frau kaum solchen Heroismus zugetraut. Wie sehr mußte sie ihren Mann lieben, daß sie sein Kind – denn der Knabe mußte ja sein Kind sein, die Ähnlichkeit war zu augenfällig, ganz genau derselbe Gesichtsschnitt, das gleiche dunkle Haar – dieses Kind seiner schwachen Stunde an ihr Herz nahm, ohne Groll, ohne Eifersucht. Sie, die Kinderlose, das Kind einer andern! Das war großartig, fast zu großartig! Das begriff man denn doch nicht ganz.

Und Käte empfand instinktiv, daß in den Fragen, die man an sie richtete, etwas versteckt lag – war es Bewunderung oder Mitleid, Zustimmung oder Mißbilligung? – etwas, das man nicht fassen, nicht einmal nennen konnte, nur argwöhnen. Und das machte sie befangen. So gab sie auf freundliche Fragen nach Wölfchen nur zurückhaltende Antworten, war knapp in der Erzählung, kühl im Ton und konnte doch ein heimliches Vibrieren ihrer Stimme nicht hindern. Das waren die zärtliche Freude, der Mutterstolz, die sich nicht unterdrücken ließen, die Wärme ihres Gefühls, die ihrer Stimme den verborgenen Unterton der Erregung liehen. Andre nahmen's für eine ganz andre Erregung.

Die Damen, die nach aufgehobener Tafel sich noch im Garten ergingen, plauderten vertraulich. Die kiefernduftenden Gartengänge, in denen die Lampions nur bunt glühten, aber nicht erhellten, waren recht dazu geeignet. Man wandelte zu zweien und dreien, Arm in Arm, und sah sich vorsichtig erst nach Lauschern um: daß nur die gute Frau nichts hörte! Da war kaum eine unter den Frauen, die nicht ihre Beobachtungen gemacht hatte. Wie tapfer sie sich hielt, es war eigentlich ergreifend anzusehen, wie Empfindlichkeit und Neigung, Abneigung und Wärme in ihr rangen, so wie die Rede auf das Kind kam! Und wie sich dann in ihren heiteren Blick eine Unruhe stahl – ach ja, sie mochte viel durchgekämpft haben und noch immer durchkämpfen, die Arme!

Eine einzige meinte zwar, Schlieben viel zu lange und viel zu genau zu kennen, um nicht zu wissen, daß es zum Lachen – nein, daß es geradezu ungeheuerlich sei – von ihm so etwas anzunehmen. Von ihm, dem Korrekten, der nicht nur in der äußeren Haltung und Erscheinung, nein, ebenso innerlich allezeit der untadlige Kavalier war. Von ihm, dem treuesten Gatten, der heute noch, nach langer Ehe, so verliebt in seine Käte war, als hätten sie eben geheiratet. Die Sache lag ganz anders: sie hatten sich immer Kinder gewünscht, was war natürlicher, als daß sie sich, nun sie die Hoffnung endgiltig aufgegeben hatten, eins angenommen hatten?! Taten denn andre Leute das etwa nicht auch?!

Freilich, das kam schon vor, gewiß! Aber dann erfuhr man doch Näheres: ob es ein Waisenkind war oder der illegitime Abkömmling aus hohen Kreisen, ob es in der Zeitung ausgeboten worden war – ›an edeldenkende Menschen zu vergeben‹ – ob es das Kind eines verlassenen Mädchens oder der unerwünschte Spätling einer schon überreich mit Kindern gesegneten Proletarierfamilie war und so weiter, immer wußte man doch wenigstens einiges. Aber hier – warum denn hier ein solches Geheimnis?! Warum nicht offen erzählt: daher haben wir's, so und so trug's sich zu?!

Frau Käte ganz offen nach der Herkunft des Kleinen zu fragen, war schwer; man hatte sich schon früher einmal in dieser bestimmten Absicht zu ihr begeben, aber gleich nach den ersten einleitenden Sätzen war in die Augen der Frau etwas so Angstvolles gekommen, in ihr Wesen etwas so scheu Ablehnendes, daß es mehr als taktlos gewesen wäre, das Gespräch weiter zu verfolgen. Man sah sich gezwungen, das Fragen zu lassen – aber merkwürdig, merkwürdig!

Auch die Herren im Rauchzimmer, die der Wirt einen Augenblick allein gelassen hatte, behandelten das gleiche Thema. Der Doktor wurde ins Gebet genommen.

»Hören Sie, verehrter Geheimrat, Ihr Toast war ja sehr famos, eines Diplomaten würdig, aber uns machen Sie nichts vor! Sie sollten auch nicht wissen, woher der Kleine stammt?! Na!« Besonders die beiden Sozien intrigierte es, daß Schlieben sie so wenig eingeweiht hatte. Wenn man allen Kix und Kax im Geschäftlichen zusammen besprach, hatte man doch auch ein gewisses Anrecht auf die Privatverhältnisse, zumal man schon mit dem alten Herrn zusammen gearbeitet hatte. Wo wäre der Paul heute, wenn sie beide nicht für ihn eingetreten wären mit ihrer ganzen Arbeitskraft, zur Zeit, als er noch an allem andern mehr Interesse fand und mehr Geschmack als am Geschäft?! Der schon ältliche Meier, der sein gutmütig-intelligentes, weinfrohes Gesicht über einem beträchtlichen Embonpoint trug, konnte sich ordentlich über einen solchen Mangel an Vertrauen kränken: »Als ob wir ihm was in den Weg gelegt hätten – lachbar! Doktor, sagen Sie mal wenigstens eins: hat er den Jungen von hier?!«

Aber der andre Kompagnon, der etwas gallige Bormann, der alle Jahre nach Karlsbad mußte, unterbrach schroff: »Ich bitte Sie, Meier – Sie sehn doch! Was geht's uns auch an?! Von der letzten großen Reise wollen sie sich ihn mitgebracht haben – na, schön! Wo waren sie denn eigentlich zuletzt? Nach der Schweiz doch im Schwarzwald und dann in Spaa?!«

»Nein, an der Nordsee,« sagte Hofmann ruhig. »Sie sehen's ja auch, der Junge hat ganz friesischen Typus!«

»Der –? Mit seinen schwarzen Augen?!« Nein, aus Hofmann war wirklich nichts herauszubekommen! Er machte ein so harmloses Gesicht, daß man hätte meinen können, es sei ihm Ernst anstatt Scherz. Aha, dahinter verschanzte er sich; er wollte eben nichts sagen! Man mußte das Thema fallen lassen.

Der Doktor, der sich im stillen schon der Ungeschicklichkeit geziehen – o weh, da hatte er, statt den guten Schliebens zu helfen, ihnen erst recht die Neugier auf den Hals gehetzt! – hörte voller Befriedigung, wie die Herren zur Politik übergingen. –

Es wurde Mitternacht, bis die letzten Gäste die Villa verließen; ihre heitere Unterhaltung und ihr Lachen war noch laut in der nächtlichen Stille und noch vom Ende der Straße her deutlich vernehmbar, als sich Mann und Frau am Fuß der Treppe, die zum Oberstock führte, trafen.

Noch standen alle Fenster der unteren Räume offen, das Silber lag noch auf dem Eßtisch, das kostbare Porzellan stand umher – mochte die Dienerschaft es vorläufig wegräumen! Käte fühlte eine große Sehnsucht, das Kind zu sehen. Sie hatte heute so wenig von ihm gehabt – den ganzen Tag Gäste! Und dann all die Fragen, die sie hatte hören, all die Antworten, die sie hatte geben müssen! Ihr Kopf brannte.

Als sie mit ihrem Mann zusammenstieß – Schlieben kam eilig aus seinem Zimmer, er hatte sich nicht einmal Zeit genommen, die Zigarren wegzuschließen – mußte sie lachen: aha, er wollte auch hinaus! Sie hing sich an seinen Arm, und so stiegen sie Stufe um Stufe im gleichen Tritt.

»Zu Wölfchen,« sagte sie leise und drückte seinen Arm. Und er sagte, wie sich entschuldigend: »Ich muß doch mal sehen, ob der Junge von dem Lärm nicht wach geworden ist!«

Sie sprachen mit gedämpfter Stimme und traten vorsichtig auf wie Diebe. Sie stahlen sich ins Kinderzimmer – da lag er so ruhig! Im Schlaf hatte er sich aufgedeckt, die Beinchen zeigten ihr nacktes rosiges Fleisch, und ein warmer, lebensvoller, unendlich frischer Duft stieg auf von dem reinen, gesunden Kinderkörper und mengte sich mit dem Kraftgeruch der Kiefern, den die Nacht durch die geöffnete Fensterspalte hereinsandte.

Käte konnte nicht an sich halten, sie bückte sich und küßte das kleine Knie, das Grübchen in seiner festen Rundung zeigte. Als sie wieder aufblickte, sah sie das Auge ihres Mannes mit nachdenklichem Ausdruck auf das schlafende Kind geheftet.

Sie war so gewohnt, alles zu wissen, was ihn bewegte, daß sie fragte: »Was denkst du, Paul? Bist du verstimmt?«

Er sah sie ein paar Augenblicke mit einer gewissen Zerstreutheit an und dann an ihr vorbei; er war so in Gedanken, daß er ihre Frage gar nicht gehört hatte. Nun murmelte er: »Ob es nicht doch besser wäre, offen zu sein?! Hm!« Er schüttelte den Kopf und strich sich nachdenklich den Bart am Kinn spitz zu.

»Was sagst du, was meinst du? – Paul!« Sie legte ihre Hand auf die seine.

Das weckte ihn aus seinen Gedanken. Er lächelte ihr zu und sagte dann: »Käte, wir müssen den Leuten reinen Wein einschenken! Warum denn auch nicht sagen, woher er stammt? Ja, ja, es ist viel besser, ich fürchte, wir werden sonst noch rechte Unannehmlichkeiten haben! Und wenn's der Junge nun beizeiten erfährt, daß er eigentlich nicht unser Kind ist – ich meine, unser rechtmäßiges – was schadet das denn?«

»Um Gottes willen!« Sie erhob die Hände wie in Entsetzen. »Nein – um keinen Preis – nein! Nie, nie!« Sie sank am Bettchen nieder, breitete beide Arme wie schützend über den Kinderkörper und schmiegte ihren Kopf an die kleine warme Brust. »Paul, dann ist er uns verloren!«

Zitternd holte sie schwer Atem. Es lag ein solches Grauen in ihrem Ton, eine so große Angst, ein wahrhaft prophetischer Ernst, daß es den Mann stutzig machte.

»Ich dachte nur – ich meine – ich fühle eigentlich längst die Verpflichtung,« sagte er stockend, wie sich wehrend gegen ihre Angst. »Es ist mir unangenehm, daß die – daß die Leute – nun, daß sie reden! Käte, sei nicht so merkwürdig, warum sollen wir's denn nicht sagen?«

»Nicht sagen – warum nicht?! Paul, das weißt du doch selbst! Erfährt er's – o, diese Mutter – o, dieses Venn!«

Sie hielt den Knaben nur noch fester umschlungen; aber den Kopf hatte sie von seiner Brust gehoben. Aus dem blassen Gesicht sahen ihre Augen ganz verstört ihren Mann an: »Hast du die denn vergessen?!«

Ihr zitternder Ton wurde hart: »Nein, nie darf er's wissen! Und ich schwöre es, und du mußt es mir auch versprechen, heilig versprechen, heut an diesem Tage, hier an seinem Bettchen, bei seinem friedlichen Schlaf – Paul, und wenn ich sterben sollte, auch dann nicht –« sie steigerte sich immer mehr in ihrer Erregung, ihr harter Ton wurde fast schreiend – »nie werden wir's ihm sagen! Und ich gebe ihn nicht her! Er ist nur mein Kind, nur unser Kind allein!«

Ihr Ton schlug um: »Wölfchen, mein Wölfchen, du wirst doch nie von Mütterchen gehn?!«

Jetzt strömten ihre Tränen, und unter diesen Tränen küßte sie das Kind so heftig, so inbrünstig, daß es erwachte. Aber es weinte nicht, wie sonst wohl, wenn es im Schlaf gestört ward.

Es lächelte, und beide Armchen um den Hals der sich zu ihm Niederbeugenden schlingend, sagte es, schlaftrunken noch, aber doch deutlich-klar: »Mutti!«

Sie stieß einen Laut des Entzückens aus, einen Ruf triumphierender Freude: »Hörst du's? Er sagt: ›Mutti!‹«

Sie lachte und weinte durcheinander wie in einem Übermaß von Glück und haschte nach der Hand ihres Mannes und hielt ihn fest: »Paul – Väterchen! – komm, gib du unserm Kinde jetzt auch einen Kuß!«

Und Schlieben bückte sich auch nieder. Seine Frau schlang den Arm um seinen Hals und zog seinen Kopf noch tiefer herab, dicht neben den ihren. Da legte das Kind den einen Arm um seinen Nacken, den andern um den ihren.

Sie waren sich alle drei so nah in dieser stillen Sommernacht, in der alle Sterne glänzten und Mondstrahlen silberne Brücken schlugen vom friedvollen Himmel hinab zur friedvollen Erde.


 << zurück weiter >>