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Die Hütte der Solheid lag, wie alle Häuser des Dorfes, ganz für sich allein hinter einer giebelhohen Hecke. Aber die Hecke, die da schützen sollte gegen die Stürme des Venns und das wilde Schneetreiben, war nicht mehr dicht; man sah's, hier fehlte die sorgende Männerhand. Die Hainbuchen waren regellos in die Höhe geschossen; abgestorbene Zweige, die der Vennwind peitschte, reckten sich wie klagende Finger in die Luft.
Hu, hier mußte es eisig kalt sein im Winter! Unwillkürlich zog Käte den weichen, seidengefütterten Tuchmantel fester um sich. Und doppelt dunkel mußte es hier sein in dunklen Tagen! Die winzigen Fensterchen waren durch die Schutzhecke lichtlos gemacht, und tief hing das Dach über den Eingang. Ohne Stufen, gleich von der ebenen Erde ging's hinein.
Der Gemeindevorsteher rappelte am ›Jadder‹, der einstmals grün gestrichenen, jetzt farblos gewordenen Haustür mit dem eisernen Klopfer. Der Klopfer dröhnte durchs Haus, aber die Tür gab dem Druck nicht nach. Ei, die Solheid war wohl in den Beeren und die Kinder mit ihr! Man hörte drinnen im verschlossenen Hüttenraum nur das hungrige Schreien des Jüngsten.
Das arme Kind – o, sie hatte es wieder allein gelassen! Käte zitterte vor Erregung, wie Hilferuf erklang ihr das Geschrei.
Gelassen setzte sich der Gemeindevorsteher auf den Hauklotz vor der Tür und zog seine Pfeife aus der Tasche des faltigen blauen Leinenkittels, den er, der Herrschaft zu Ehren, rasch über das Arbeitswams gezogen hatte. Jetzt hieß es warten.
Enttäuscht sah sich das Ehepaar an – warten?! Käte hatte den Sitz ausgeschlagen, den ihr der Alte mit einer gewissen Galanterie auf dem Hauklotz angeboten; sie hatte keine Ruhe, rastlos schritt sie vor dem Fensterchen auf und ab und mühte sich vergebens, durch die blinde Scheibe hineinzuspähen.
Immer ungebärdiger schrie drinnen das Kind. Der alte Rocherath lachte: das war mal ein Brüllen, der Jean-Pierre hatte 'n kräftige Lung'!
Käte konnte das Schreien nicht mehr mit anhören, es machte ihr körperliche und seelische Qual. Ach, wie es ihr in den Ohren gellte! Sie preßte die Hände dagegen. Und ihr Herz zitterte vor Mitleid und Empörung: wie konnte die Mutter so lange ausbleiben?!
Der Angstschweiß trat ihr auf die Stirn; mit brennenden, ungeduldigen Augen starrte sie hinaus aufs Venn, auf den nackten, baumlosen, sich endlos hinschlängelnden Pfad. Da sah sie endlich Gestalten – endlich! – und doch blieb ihr auf einmal der Atem stehen, ihr Herz setzte den Schlag aus, um dann plötzlich, wie toll, ungestüm drauf los zu hämmern: da kam die Mutter!
Lisa Solheid trug eine Reisigwelle auf dem Rücken, um die Schultern mit einem Strick festgeschnürt. Die Last war so schwer, daß sie das Weib ganz vornüber drückte und ihm den Kopf tief duckte. Drei Kinder – die kleinen Füße in plumpen Nagelschuhen – trappten vor der Mutter her, während ein viertes an ihrem Rock hing. Das hatte auch schon Preißelbeeren gesucht, seine Händchen waren rot gefärbt wie die Hände der größeren Geschwister, die Eimer, Maß und Kamm schleppten.
Hübsche Kinder, alle vier! Sie hatten dieselben dunklen Augen wie der kleine Jean-Pierre, mit denen starrten sie halb dreist, halb scheu die fremde Dame an, die ihnen zulächelte.
Die Solheid erkannte die Herrschaften nicht, die ihr gestern auf dem Venn eine Gabe gereicht hatten – oder tat sie nur so?
Der Strick, der die Welle zusammenhielt, hatte ihr tief in Schultern und Brust eingeschnitten, jetzt löste sie ihn und schleuderte mit kraftvollem Ruck die Bürde ab; und jetzt griff sie nach der Axt, die neben dem Hauklotz lag, und begann, als sei niemand zugegen, mit mächtigen Hieben ein paar starke Aste zu zerkleinern.
»Heela, Lisa,« sagte der Gemeindevorsteher, »wenn du jenug Holz jehauen has', für die Jrumbieren zu kochen, paß ens op!«
Sie sah flüchtig von ihrer Arbeit zu ihm auf. Die Fremden waren beide – ohne Verabredung – ein wenig auf die Seite gegangen: mochte es der Gemeindevorsteher ihr erst einmal sagen! Es war doch nicht so einfach, wie sie sich's gedacht hatten. Die war nicht leicht zugänglich!
Der Solheid verschlossenes Gesicht veränderte keinen Zug; stumm, mit zusammengepreßten Lippen verrichtete sie ihre Arbeit weiter. Das Holz barst unter ihren kraftvollen Hieben, die Stücke flogen um sie herum. Ob sie überhaupt auf das hörte, was der Mann zu ihr sprach?!
Ja – die Beobachtenden wechselten einen raschen Blick – und jetzt antwortete sie auch! Lebhafter, als man es bei ihrer verdrossenen Art vermutet hätte.
Lisa Solheid hob den Arm und wies nach ihrer Hütte, darinnen der Kleine noch immer unerhört schrie. Rauh klang ihre Rede, in einem schier barbarischen Dialekt, man verstand nichts davon, nur ab und zu ein französisches Wort. Auch der Gemeindevorsteher sprach wallonisch. Sie wurden beide lebhaft, erhoben ihre Stimmen und redeten laut gegeneinander an; fast klang es wie Zank.
Sie schienen nicht einig zu werden! Käte lauschte in verhaltner Angst. Würde sie es geben? Würde er's von ihr losbekommen?!
Heimlich zupfte sie ihren Mann. »Biete mehr, gib ihr doch mehr, hundert Taler sind viel zu wenig!« Und dem Bauer da mußte er auch etwas versprechen für seine Bemühung. Hundert, zweihundert, dreihundert, hundert mal hundert waren nicht zu viel! Ach, wie das arme Kindchen schrie! Es litt sie fast nicht mehr so tatenlos vor der Schwelle.
Die Geschwister des kleinen Jean-Pierre – ein schönes Mädchen mit wirren Haaren und drei jüngere Knaben – standen, den Finger im Mund, die schmutzigen Näschen ungewischt, und rührten sich nicht vom Fleck.
Da fuhr die Mutter sie an: »Heela,« und sie stoben davon, eines fast über das andre purzelnd. Aus der kleinen Höhlung unter der Schwelle scharrten sie den Schlüssel vor, und die Größte stieß ihn ins rostige Schloß und drehte ihn, auf den Zehen stehend, mit aller Kraft ihrer beiden Händchen um.
Die Solheid wandte sich nun gegen die Fremden; ihre hagere braune Rechte machte eine einladende Bewegung: » Entrez!«
Sie traten ein. Innen war's so niedrig, daß Schlieben den Kopf bücken mußte, um ihn nicht wider die Balkendecke zu stoßen, und so dunkel, daß sie geraume Zeit brauchten, bis sie nur irgend etwas unterscheiden konnten. Ärmlicher konnte es nirgendwo sein – alles in allem ein einziger Raum. Der Herd war von rohen Steinen kunstlos gemauert, darüber hing vom geschwärzten Balken an eiserner Kette der Kessel herab; offen stieg der Qualm der langsam schwelenden Torfglut hinauf in den rußigen Rauchfang. Ein paar irdene Teller im Schüsselbrett – buntblumig aber rissig – ein paar verbeulte Zinngefäße, ein Melkeimer, ein hölzerner Bottich, eine lange Bank hinterm Tisch, auf dem Tisch ein halber Laib Brot und ein Messer, wenige Kleider an Nägeln, in die Wand halb hineingebaut das Ehebett, darin jetzt wohl die Witwe mit den Kindern schlief, und davor die plumpe Holzwiege des kleinen Jean-Pierre – das war alles.
Wirklich alles?! Von einem Frösteln im dämmerkalten, kellerdumpfen Raum geschüttelt, sah sich Käte um. O wie trostlos arm! Da war kein Schmuck, keine Zier! Doch, dort ein schreiend buntes Marienbildchen – ein roher Farbendruck auf dünnem Papier – ein Weihwasserkesselchen aus weißem Porzellan darunter – und dort, auf der andern Seite der Wand, dicht beim Fenster, so daß das wenige Licht darauf fiel, ein Soldatenbild. Unter Glas und Rahmen, in drei Abteilungen, dreimal derselbe Infanterist. Links: das Gewehr geschultert, auf Posten vorm schwarzweißen Schilderhaus – rechts: marschbereit, Tornister und Kochgeschirr aufgeschnallt, Brotbeutel und Feldflasche an der Seite, Gewehr bei Fuß – in der Mitte: in Parademontur als Gefreiter, die Hand grüßend an den Helm gelegt.
Ah, das sollte wohl der Mann sein, Michel Solheid als Soldat?! Einen scheuen Blick warf Käte auf das Bild – der da, der war ja erschossen worden beim Schmuggeln auf dem Venn! Wie schrecklich! Sie hörte wieder den Alten erzählen, sah den blutenden Mann im Heidekraut liegen, und das Grausen des Abenteuerlichen rüttelte sie. Ihr Blick glitt wieder und wieder hin zu dem Bilde, dem üblichen Soldatenbild, das in seiner stereotypen Nichtigkeit so gar nichts sagte, und von da zu der Wiege des kleinen Jean-Pierre: ob der viel vom Vater hatte?!
Schlieben hatte gewartet, daß seine Frau das Wort nehmen sollte – sie würde ja am besten wissen, wie mit der andern zu reden sei – aber sie schwieg. Und der Gemeindevorsteher sagte auch nichts; nun er die Verhandlung eingeleitet hatte, hielt er es für höflich, dem Herrn das Wort zu lassen. Und die Solheid sprach auch nicht. Sie scheuchte nur mit einer stummen Gebärde die Kinder, die sich mit Gier über das harte Brot auf dem Tisch hermachen wollten. Dann stand sie still bei der Wiege; ihre Rechte, die noch das Beil vom Holzspalten hielt, hing schlaff herunter am armseligen Rock. Finster war ihr Gesicht, unnahbar, und doch spiegelte sich ein Kampf darin.
Schlieben räusperte sich. Er hätte es lieber gehabt, wenn ein andrer für ihn die Sache erledigt hätte, aber da dieser andre nicht da war, der Gemeindevorsteher ihn nur erwartungsvoll anblickte, so sah er sich gezwungen, zu sprechen. Mit einer Freundlichkeit, die wie Herablassung erscheinen mochte und doch nur Verlegenheit war, sagte er: »Frau Solheid, der Gemeindevorsteher wird Ihnen gesagt haben, was uns zu Ihnen führt – verstehen Sie mich, gute Frau?«
Sie nickte.
»Wir haben die Absicht, Ihr jüngstes Kind an« – er stockte, sie hatte eine Bewegung gemacht, als wolle sie verneinen – »an Kindes Statt anzunehmen, adopter! Sie verstehen?«
Sie antwortete nicht; aber er fuhr fort, so rasch, als habe sie ›ja‹ gesagt: »Wir werden es halten, als wenn es unser eigenes wäre, es wird es so gut haben, wie Sie es ihm natürlich nicht geben können, und wir –«
»O, und wir werden es so liebhaben !« fiel Käte ihm ins Wort.
Das schwarze Weib drehte langsam den Kopf nach der Seite, wo die blonde Frau stand. Es war ein seltsamer Blick, der die Fremde maß, die jetzt näher zur Wiege herangekommen war. War's ein prüfender Blick, ein abwehrender, ein freundlicher oder unfreundlicher?!
Käte sah mit verlangenden Augen nach dem Kinde. Das weinte jetzt nicht mehr, es lächelte jetzt sogar, und jetzt – jetzt reckte es die Ärmchen! O, es war schon so klug, es sah sie an, merkte bereits, daß sie ihm gut war! Es versuchte sich aufzurichten – ah, es wollte zu ihr, zu ihr!
Das Rot der Freude schoß ihr zu Kopf, schon streckte sie die Hände aus, das Kleine aufzunehmen, da schob sich wie eine Wand die Mutter vor die Wiege.
» Neni,« Nein. sagte die Wallonin hart. Abwehrend hob sie die freie Linke. Und dann machte sie das Zeichen des Kreuzes auf die Stirn des Kindes, und dann auch auf seine Brust.
Aber warum denn nicht, warum wollte sie es denn nun auf einmal nicht geben?! Käte zitterte vor Schreck. Flehend suchte ihr Blick den ihres Mannes: hilf du mir! Ich muß, ich muß das Kind haben!
Und Schlieben sagte jetzt, was er schon vorhin hatte sagen wollen, als seine Frau ihm ins Wort gefallen war: »Wir stellen die Zukunft Ihres Kindes sicher. Wissen Sie, was das heißt, gute Frau? Es wird nie Sorge ums tägliche Brot haben – nie hungern müssen! Nie arbeiten müssen, um sein Leben zu fristen – nur arbeiten aus Freude an der Arbeit! Verstehen Sie?!«
Arbeiten – aus Freude an Arbeit?! Verständnislos schüttelte das Weib den Kopf. Aber dann fiel ihm ein: nie hungern! – und ein Licht glomm in seinem stumpfen Blick auf. Nie hungern – ei, das verstand die Witwe wohl, und doch schüttelte sie wieder verneinend den Kopf: » Neni!«
»Sie zeigte auf sich und die andern Kinder und dann mit einer umfassenden Bewegung hinaus aufs große Venn:
» Nos avans tortos faim!« Nous avons faim tous. Sie zuckte die Achseln mit dem Gleichmut der Gewöhnung, und es schien sogar, als ob sie lächeln wollte; die Mundwinkel ihres verdrossenen Mundes hoben sich ein wenig, ihre sonst herbgeschlossenen Lippen ließen die kräftigen, gesunden Zähne sehen.
Der Gemeindevorsteher mischte sich jetzt ein: »Lisa, wahrhaftiges Jotts, dat is doch kein Pläsier, zu hungere! Sackerment, dat du so jeckelig bis'! De Jung, de kömmt ja aus der Höll in der Himmel. Wat ich dir schon jesagt hab': die Herrschafte sin reich, sehr reich, un se sin jeck op dat Kind, – rasch, jib en ihnen, du has' 'r ja noch vier!«
Noch vier! Sie nickte nachdenklich, aber dann warf sie den Kopf in den Nacken, und ein Blick – jetzt war er deutlich, es flackerte darin etwas wie Haß – schoß zu der andern hinüber, die da stand so reich, so fein, mit Ringen an den Fingern, und nach der ihrem Jean-Pierre guckte. » Neni!« Sie sagte es noch einmal und noch abweisender und noch hartnäckiger denn zuvor.
Aber der Gemeindevorsteher war zäh, er kannte hier die Art. »Du wirs' es dir überlejen,« sprach er überredend. »Un wenn ich dir sage, daß se dir reichlich jeben werden – nich wahr?« wandte er sich fragend zu Schlieben. »Habt Ihr nich jesagt, daß es Euch nich ankömmt op 'n Stück Jeld bei so 'ner armen Frau?!«
»Nein, gewiß nicht,« versicherte Schlieben. Und Käte war wieder voreilig: »Es kommt uns gar nicht darauf an – von Herzen gern, was sie verlangt – ach, das liebe Kind!«
» Dju n' vous nin, Je ne veux pas. murrte die Solheid.
»Du Wills' nich?! Ä wat!« Der alte Bauer lachte sie fast aus. »Du bis' ja wie mein' Maiblum, wenn die nich stehn will un mit dem Hinterbein jegen der Melkeimer haut! Stoß die Leut doch nich vor der Kopp! Wat haste dann, wenn se nu fortjehn un sin des satt?! Jar nix! Dann haste 'r fünf, die ›Brot‹ schreien, un der Winter is für der Tür! Willste wieder so 'ne Winter zubringen wie der vorige? Is dir der Jean-Pierre da nich bald befrore? Die vier andern sin schon jrößer, die bringste besser durch. Un du könnts' dir en Kuh anschaffen – denk ens, en Kuh! Un du könnts' dir en besser Dach op er Haus setzen lassen, wat der Regen un der Schnee nich durchläßt, un könnts' auch Jrumbieren jenug han. Sicher en jut Jeschäft, Lisa!«
Käte wollte noch etwas hinzufügen – ah, was wollte sie der Frau nicht alles Gutes tun, wenn die ihr nur das Kind überließ! – aber ein Räuspern des Alten und ein heimliches Zublinzeln seiner Augen mahnten sie, stille zu sein.
» Kubin m'è dinroz – ve?« Combien me donnerez-vous donc? fragte jetzt plötzlich die Solheid.
Sie hatte lange unschlüssig gestanden, den Kopf gesenkt, und es war ganz still um sie gewesen. Die Fremden hatten sich nicht gerührt, der Gemeindevorsteher nicht; kein Wind pfiff im Rauchfang, kein Feuer knisterte. Auf allem lastete stumme Erwartung. Nun hob sie den Kopf, und ihr düsterer Blick glitt wie musternd durch die armselige Stube, hin zu dem kargen Brot auf dem Tisch und dann zu den hungrigen Vier. Das fünfte sah sie nicht mehr an. Sie war erblaßt, das tiefe Sonnenbraun ihres Gesichtes war ganz fahlgrau geworden.
»Wat er dir jeben will?! – Nu, wat wollt Ihr jeben?« ermunterte der Bauer. »Ich rechne, Ihr werd't einsehen, dat zweihundert noch zu wenig sin! Die Solheid hängt sehr an dem Kind, et is nich leicht, wenn se 't herjeben tut!« Er blinzelte von der Seite beobachtend nach Schlieben und rief, wie man auf einer Auktion zu rufen pflegt: »Zweihundert, zweihundertfünfzig, dreihundert! Wahrhaftije's Jott's, nich zu viel! De Jean-Pierre is ene staatse Jung' – seht ens, die Fäust'! Un die Braden! Lenden. Ene höllische Jung'! Nich wahr, Madame« – er sah das Verlangen in Kätes Augen – »dreihundert Taler sin e so viel wie nichts für den?«
Käte hatte Tränen in den Augen und war sehr blaß. Die Luft in der Hütte beengte sie, sie fühlte einen unendlichen Widerwillen – nur fort, rasch fort von hier! Aber nicht ohne das Kind! »Vierhundert – fünfhundert« stieß sie hervor, und ihr Blick suchte flehend ihren Mann, wie: mach ein Ende, rasch!
»Fünfhundert, gern!« Schlieben zog seine Brieftasche hervor.
Der Bauer reckte den Hals, um besser sehen zu können, seine Blicke wurden ganz starr: das hatte er noch nicht erlebt, daß einer so bereitwillig zahlte! Auch die Kinder starrten mit großen Augen.
Die Solheid hatte einen flüchtigen Blick auf die Scheine geworfen, die der Herr neben das Brot auf den Tisch breitete; aber das begehrliche Licht, das in ihren Augen aufgeblitzt war, erlosch jäh wieder. » Neni!« sagte sie mürrisch.
»Biet' ihr noch wat mehr – mehr!« raunte der Alte.
Und Schlieben legte noch ein paar Scheine zu den übrigen auf den Tisch; seine Finger bebten leicht dabei, die ganze Sache war ihm so unsäglich widerlich. Er dachte ja gar nicht daran, zu feilschen; was sie haben wollte, sollte sie haben, nur ein Ende gemacht!
Bei so viel Großmütigkeit hielt sich Nikolaus Rocherath nicht mehr – so viel bar Geld auf dem Tisch, und das Weibsbild konnte sich noch bedenken?! Er sprang auf sie zu und rüttelte sie an den Schultern: »Biste stabeljeck? Sechshundert Taler bar op den Tisch, un du nimmst se nich?! Wer hierzuland kann sagen, dat he sechshundert Taler bar hat?! Dat is e Stück Jeld, dat is en Jeld!« Sein abgemergeltes Gesicht, das von Jahren der Arbeit und von einem Leben in Wind und Wetter unendlich hager geworden war, so scharf umrissen, wie aus hartem Holz geschnitten, vibrierte in jeder Faser. Es zuckte ihm in den Fingern: wie konnte sich da nur ein Mensch noch bedenken?!
Polternd entfiel das Holzbeil, das sie bis dahin noch immer festgehalten hatte, der Hand der Solheid. Ohne den Kopf zu heben, ohne nach dem Tisch hinzusehen und ohne nach der Wiege, sagte sie laut – aber es war kein Klang in der Stimme –: » Allons bon! Djhan-Pire est dà vosse!« Eh bien! Jean-Pierre est à vous!
Und sie wendete sich ab, ging schweren Trittes zum Herd und störte den schwelenden Torf auf.
Welch eine Gleichgiltigkeit! Wahrhaftig, dieses Weib war nicht wert, eine Mutter zu sein! In Frau Kätens sanften Augen begann es zu funkeln. Auch Schlieben war empört: nein, hier brauchte man sich kein Gewissen daraus zu machen, das Kind fortzunehmen! Ein Ekel stieg ihm in die Kehle.
Die Solheid tat, als ginge sie nun alles nichts mehr an. Sie hantierte am Herd, während der Gemeindevorsteher, wiederholt die Daumen beleckend, die Scheine zählte – jeden derselben von beiden Seiten besehend – und sie dann sorgfältig in das Kuvert steckte, das ihm der Herr überließ.
»Da, Lisa, haste se, leg se in de Handpostill'!«
Mit einer heftigen Bewegung riß sie sie ihm aus der Hand, und ihren Oberrock hochhebend, versenkte sie sie in die Tasche eines armseligen zerlumpten Unterrocks. –
Nun war noch das Letzte zu erledigen. Wenn auch Schlieben sicher war, daß niemand hier mehr nach dem Kinde fragen würde, die Formalitäten mußten doch erledigt werden. Seinen Bleistift von der Uhrkette losnestelnd – denn wo sollte hier Tinte herkommen? – setzte er auf einem Blatt des Notizbuchs den Abtretungsschein der Mutter auf. Der Gemeindevorsteher als Zeuge unterschrieb. Nun setzte die Solheid noch ihre drei Kreuze darunter; sie hatte einmal schreiben gelernt, es aber wieder verlernt.
»So!« Mit einem Seufzer der Erleichterung erhob sich Schlieben von der harten Bank, auf die er sich während des Schreibens gesetzt hatte. Gott sei Dank, nun war alles erledigt, nun brauchte ihm der Gemeindevorsteher nur noch Geburtsattest und Taufschein zu besorgen und zuzustellen! »Hier – dies ist meine Adresse! Und hier – dies für etwaige Auslagen!« Er drückte dem Alten verstohlen ein paar Goldstücke in die Hand, und dieser schmunzelte, als er sie in seiner Hand fühlte.
Wie war's, nun würden sie ja wohl gleich den Knaben mitnehmen?
In Käte, die bis dahin regungslos dagestanden hatte, mit weit geöffneten Augen die Mutter anstarrend, als könne sie nicht begreifen, was sie sah, kam jetzt Leben. Natürlich würden sie das Kind gleich mitnehmen, nicht eine Stunde länger ließ sie's mehr hier! Und sie nahm es hastig aus der Wiege, preßte es kosend in ihre Arme und hüllte es in ihren warmen, weiten Mantel mit ein – es war ja nun ihr Kind, ihr so schwer erkämpftes, tausend Gefahren entrissenes, innig geliebtes, süßes kleines Kind!
Die Geschwister des kleinen Jean-Pierre standen stumm dabei mit großen Augen. Hatten sie's verstanden, daß ihr Bruder nun ging, auf immer ging? Nein, sie hatten es wohl nicht verstanden, sonst würden sie doch zeigen, wie leid es ihnen tat. Ihre großen Blicke galten nur dem Brot dort auf dem Tisch.
Schlieben fühlte lebhaftes Mitleid mit den Kleinen – die blieben nun hier in ihrem Elend, ihrem Hunger, ihrer Verkommenheit! Er steckte jedem der vier eine Gabe ins Händchen; keins der vier dankte, aber die kleinen Finger schlossen sich fest um das Geldgeschenk.
Auch die Solheid dankte nicht. Als die fremde Frau ihren Jean-Pierre aus der Wiege genommen – sie hatte das gesehen, ohne hinzublicken –, war sie zusammengezuckt. Jetzt aber stand sie regungslos bei der leeren Wiege, auf der Stelle, wo vorhin das Beil polternd ihrer Rechten entfallen war, und sah stumm zu, wie Jean-Pierre in den weichen Mantel gehüllt ward. Sie hatte ihm nichts mitzugeben.
Schlieben hatte, trotz aller Gleichgiltigkeit der Mutter, zu guter Letzt doch noch eine Szene befürchtet – es konnte ja nicht sein, daß sie so fühllos blieb, wenn man ihr Jüngstes davontrug! – aber die Solheid blieb ruhig. Unbeweglich stand sie, die Linke auf die Stelle ihres Rockes gedrückt, wo sie die Tasche fühlte. Dieses Geld in der Tasche da – Schlieben fühlte sich heftig erregt – strafte das nicht alle Tradition von Mutterliebe Lügen?! Und doch – diese war ja so verkommen in der großen Armut, halb vertiert im harten Kampf ums tägliche Brot, daß ihr selbst die Empfindung für das Eigengeborene darin untergegangen war! O, welch andre Mutter würde Käte nun dem Kinde sein! Und zärtlich besorgt schob er seine Frau, die den Kleinen auf dem Arme trug, dem Ausgang zu.
Nur fort, hier war nicht gut sein!
Sie eilten. Aber auf der Schwelle wendete Käte noch einmal den Kopf. Einen Blick mußte sie der doch noch schenken, der, die da hinten blieb, so starr und stumm. Wenn die ihr auch unbegreiflich war, ein Blick des Mitgefühls gehörte der doch noch!
Da – – – ein kurzer Schrei, aber laut, durchdringend, furchtbar in seiner markerschütternden Knappheit. Ein einziger, aus Qual und Haß herausgepreßter unartikulierter Schrei.
Die Solheid hatte sich gebückt. Ihre Hand hatte das Holzbeil aufgerafft. Sie holte aus wie zum Wurf – blitzend flog die scharfe Schneide am Kopf der enteilenden Frau vorüber und blieb krachend im Türpfosten haften.