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Die Freundschaft mit Lämkes wurde eingeschränkt.
Nie mehr sollte ihr Kind dorthin gehen! Eine Art von Eifersucht war in Käte aufgequollen gegen diese gewöhnliche Frau, die so unpassende Sachen sprach, die vor Kinderohren sich so gar keinen Zwang antat.
Frau Lämke konnte sich jetzt nicht mehr des freundlichen Grußes der feinen Dame rühmen; diese ging jetzt am Hause vorüber und sah sie nicht mehr an, schien es nicht zu hören, daß sie respektvoll grüßte: ›Juten Tag, jnäd'ge Frau!‹
»Du, wat habe ick denn eijentlich deine Mama jetan?« fragte sie eines Tages Wolfgang, als sie, vom Einholen zurückkehrend, ihn nach langer Zeit einmal wieder sah. Er lehnte am Gitter des schrägüberliegenden Grundstücks und starrte unverwandten Blickes nach ihrer Haustür.
Er fuhr zusammen; er hatte sie gar nicht kommen hören. Und dann tat er, als bemerke er sie nicht und schnippte mit der Gerte, die seine Hand hielt, in die Luft.
»Kommste denn jar nich mehr bei uns?« fragte sie weiter. »Haste dir mit Atur'n jehauen oder mit Frida'n jezankt? Nee, wat denn, det kann ja nich sind, die hat ja schonst so sehr uf dir jelauert! Die Jnädige läßt dir woll nich, was?! Nanu, wir sind woll nich mehr jut jenug? Nee freilich, wir sind nur Portjehs und unsre Kinder Portjehskinder!«
In ihren gutmütigen Ton mischte sich die Gereiztheit der Kränkung, und der Knabe horchte auf. Er wurde glühend rot.
»Na ja, ick sehe schon, du därfst nich! Na, meintwejen, denn nich!« Erbittert wendete sie sich zum Gehen.
»Na, was 's denn noch?!« Er hatte sie durch einen Laut zurückgehalten; sie blieb stehen – wider Willen. Es war etwas in dem Blick der Knabenaugen, die sie jetzt voll ansahen, das sie festhielt. »Nee, nee, mein Sohn,« sagte sie gutmütig, »du kannst ja nich dafor, ick weeß ja!«
»Sie läßt mich nicht,« murrte er zwischen den Zähnen und hieb mit der Gerte durch die Luft, daß es sauste.
»Warum denn nich?« forschte die Frau. »Hat se nich jesagt, warum de nich mit Atur'n und Frida'n mehr spielen sollst? Atur hat jetzt 'nen neuen Triesel – ei weih, der tanzt! Un Frida von die Dame oben bei uns 'nen wunderscheenen Ball!«
Des Knaben Augen flammten. Er holte mit dem Fuß aus und stieß ein Steinchen, das vor ihm lag, so heftig von sich, daß es im Schwung hinüberflog bis zur andern Seite der Straße. »Und ich spiele doch mit ihnen!«
»Na, na, man nich so trotzig,« ermahnte jetzt die Frau. »Et kann ja sind, vielleicht waren die Jöhren unjezogen – lieber Jott, man kann doch nich for allens ufkommen, wat se treiben – weeßte, Wolfjangchen, Mama'n mußte doch jehorchen, wenn se 't nu mal durchaus nich will!« Sie seufzte. »Wir haben dir sehr lieb jehabt, mein Sohn! Aber det is immer so: erst is de Freundschaft jroß, aber denn besinnen sich die Reichen uf eenmal! Du bist ja ooch jetzt eijentlich schonst zu jroß, um in'n Keller bei uns zu sitzen –«
Sie wollte noch weiter schwatzen, da fühlte sie sich an der Hand gefaßt. Es war ein sehr fester Griff, mit dem die Knabenhand die ihre hielt. Sich zu ihm herunterneigend, denn sie war groß und hager und ihr Auge vom ewigen Halbdunkel der Portierwohnung nicht mehr scharf, sah sie, daß er Tränen in den Augen hatte. Sie hatte ihn noch nie weinen sehen und bekam förmlich einen Schrecken.
»Laß man jut sind, laß man, Wölfchen! Nee aber, so weene doch nich, um Jottes willen nich, det wär't noch jrade wert!« Den Zipfel ihrer groben blauen Arbeitsschürze nehmend – sie war nur eben mal vom Waschfaß fortgelaufen – wischte sie ihm die Augen, und dann die Backen herunter, und dann strich sie ihm übers Haar, das so straff und dicht auf dem runden Kopfe lag.
Er stand still, wie angewurzelt, auf der schon frühlingslichten, sonnenhellen Straße; er, der so scheu vor Zärtlichkeiten war, ließ sich also streicheln und scheute es auf einmal nicht, wenn dies auch andre Leute sahen.
»Ich komme doch wieder in den Keller, Frau Lämke! Da kann sie sagen, was sie will. Ich komme doch zu Ihnen!«
Als er nun davonging, nicht trabend, wie es sonst seine Art war, sondern langsam, mit einem bedächtigen Tritt, wunderte sich die Frau, die ihm nachsah, wie groß er schon war. –
Frau Käte hatte einen schweren Stand. Wie sie sich auch wehrte, förmlich dagegen stemmte, daß der Verkehr mit Lämkes wieder aufgenommen wurde, der Knabe war stärker als sie. Er setzte es durch, daß die Kinder, wenn er denn nicht zu ihnen hin sollte, wenigstens zu ihm kommen durften. In den Garten wenigstens – das hatte er der Mutter abgerungen.
Es war wie ein Kampf gewesen zwischen ihm und ihr, zwar ohne laute Worte und heftige Szenen, ohne direkte Verbote von ihrer Seite, ohne Bitten von der seinen; es war ein weit ernsteres, stummes Ringen. Sie hatte den Trotz in ihm gefühlt, der sich gegen sie bäumte, den Widerstand in ihm, der immer weiter und weiter sich erhob bis zur Abneigung – ja, Abneigung gegen sie! Oder bildete sie sich das etwa nur ein?!
Gern hätte sie sich mit ihrem Manne darüber ausgesprochen – ach, es war ihr ein solches Bedürfnis! – aber sie fürchtete dessen Lächeln. Oder dessen indirekten Vorwurf. Er hatte erst neulich einmal gesagt: ›Es ist keine Kleinigkeit, ein Kind zu erziehen. Schon ein eignes ist schwer, wie viel schwerer noch ein‹ – nein, ein ›fremdes‹ sollte er nicht wieder sagen, nein, dies nicht noch einmal! Dieses Kind war ihr kein fremdes, es war ihr eignes! Ihr geliebtes Kind!
Sie gab Wolfgang nach. Es war ja auch nicht gefährlich, wenn die Kinder hierher zu ihm kamen in den Garten, da hatte sie sie ja immer unter Augen und Ohren. Und gut wollte sie zu ihnen sein, das nahm sie sich vor, es die Kinder nicht entgelten lassen, daß sie ihrer Freundschaft wegen schon manch heimliche Träne hatte am Abend in ihr Kissen weinen müssen. Lieb wollte sie ihrem Knaben den Garten machen, so lieb, daß er nie mehr hinaus verlangte auf die Straße!
Aber als sie am Ostertag, an dem sie Wolfgang erlaubt hatte, seine Freunde, die Lämkes und auch den Kutschersohn, in den Garten zu laden, die bunten Eier versteckte, die Nestchen und Häschen und Küken in den treibenden Buchsbaum bettete und zwischen die ersten blühenden Büschelchen der blauen Scylla, erhob sich in ihrem Herzen etwas wie Zorn. Nun würden diese Kinder mit ihren schlechten Manieren und ihren trappsigen Schuhen kommen und ihr die Beete vertreten, diese sorgsam gepflegten Rabatten, auf denen unter deckendem Reisig schon die Hyazinthen Knospen trieben und die Tulpen sich reckten. Schade darum! Und daß man diesen ersten wirklichen Frühlingstag nicht still genießen konnte, ungestört dem flötenden Amsellied lauschen! Und gesperrt hatten sie sich noch! Hans Flebbe freilich hatte ohne Empfindlichkeit zugesagt – der Kutscher wenigstens wußte, was sich schickte –, aber die Lämkes hatten durchaus nicht kommen wollen; das heißt ihre Mutter hatte es nicht gewollt. Zweimal hatte man Lisbeth hinschicken müssen; das zweite Mal war die ganz empört zurückgekommen: ›ne, was solch ein Volk sich einbildet!‹ »Lieber Junge, ich kann dir nicht helfen, sie wollen doch nicht,« hatte Käte sagen müssen, aber da hatte sie's ihm angemerkt, wie niedergeschlagen er war, und in der Nacht hörte sie ihn seufzen und sich rastlos werfen. Nein, das durfte nicht sein! Seinen Arm, der sich so stürmisch um ihre Taille geschlungen hatte, als sie ihm die Erlaubnis gegeben hatte, die Kinder zu laden, wollte sie auch um ihren Nacken fühlen. Und so hatte sie sich denn hingesetzt und geschrieben – an diese ungebildete Frau geschrieben: ›Geehrte Frau Lämke,‹ und sie gebeten, den Kindern doch das Eiersuchen zu erlauben, Wolfgang zur Freude.
Nun waren sie da. Angetan mit ihren besten Sachen, standen sie steif und still auf dem Gartenweg und sahen nicht einmal nach den Rabatten hin. Käte hatte sich immer eingebildet, es besonders gut zu verstehen, Kinder aus sich herauszulocken. Hier verstand sie es nicht. Sie hatte Fridas ganz neues, buntkariertes Kleid gelobt und ihr den blonden Zopf, an dem die blaue Schleife baumelte, in die Höhe gehoben: »Ei, wie dick!« – auch Arturs blanke Stiefel hatte sie beachtet und Flebbes pomadisiertes Haar, das er, mit einem Scheitel in der Mitte, wie angeklebt über seinem blühenden Lakaiengesicht trug. Auch nach den Osterzensuren hatte sie gefragt, ohne doch längere Antworten herauszubekommen, als ›ja‹ und ›nein‹.
Die Kinder waren befangen. Besonders Frida; sie war die Älteste, und sie fühlte heraus, was da Gezwungenes in den freundlichen Fragen war. Sie machte ihren Knicks wie immer, schnell und schnippisch wie eine Bachstelze, die eilig auf und nieder wippt, aber ihre hohe Mädchenstimme klang heute nicht so hell; sie sprach gedämpfter, fast bedrückt. Und sie lachte nicht. Artur richtete sich nach der Schwester, und auch Hans Flebbe nach dem Mädchen, an dem er ohnehin alles nachahmenswert fand. Wie die armen Schlucker standen die beiden Jungen da, guckten unverwandt auf ihre Stiefelspitzen und schnüffelten, da sie es nicht wagten, ihre Taschentücher herauszuziehen und zu benutzen.
Käte verzweifelte. Sie konnte es nicht begreifen, daß ihr Wolfgang an solchen Gespielen ein Gefallen fand; heute war er übrigens genau so wie die andern, wortkarg und ungeschickt. Selbst als das Eiersuchen anhub, stellten sich die Kinder dumm an; man mußte sie förmlich auf den Versteck stoßen.
Müde, fast gereizt wandte sich Käte endlich dem Hause zu; nur ein Weilchen wollte sie drinnen bleiben. Nein, das hier war auf die Dauer nicht auszuhalten, immer in die Kinder hineinzureden und ihnen doch keine Gegenäußerung zu entlocken!
Aber sie hatte kaum ihr Zimmer betreten, so horchte sie auf: von außen drang ein Schrei zu ihr, so hell, so jauchzend-schrill, wie segelnder Schwalben Schrei. So schrieen Kinder in höchster Lust – o, sie kannte das von früher her, von ganz früher, ehe noch Wölfchen gekommen war! Da hatte sie solchen Schreien oft sehnsüchtig gelauscht. Aha – ein bitteres Gefühl regte sich in ihr –, nur sie mußte gehen, dann waren die Kinder lustig, dann war Wolfgang lustig!
Sie war ans Fenster getreten und sah, die Stirn an die Scheibe gelehnt, hinaus in den Garten. Wie sie rannten, sprangen, hüpften, lachten! Wie losgelassen! Sie spielten Nachlaufen. Gleich einem Wiesel schoß Frida hinter die Büsche, um dann mit spitzem, durchdringendem Gelächter wieder aufzutauchen und, kreischend, aufs neue zu verschwinden. Wild setzte Wolfgang hinter ihr drein. Er achtete nicht auf die Rabatten mit den treibenden Blumen, der Mutter Freude; mitten hinein tappte er, unbekümmert, ob er die Hyazinthen knickte oder die Tulpen, einzig nur bedacht, der flinken Frida den Weg abzuschneiden.
Und die beiden andern machten es ihm nach. O, wie wurden jetzt die Beete zertrampelt! Alle drei Jungen waren hinter dem Mädchen her. Der blonde Zopf flog wie eine goldne Schnur im Sonnenschein – jetzt flog er hier, jetzt flog er da – nun hatte Wolfgang ihn erhascht und stieß ein Triumphgeschrei aus. Frida versuchte ihn loszureißen, der Knabe hielt fest. Da drehte sie sich blitzgeschwind um, und, übers ganze Gesicht lachend, faßte sie ihn mit beiden Armen fest um den Leib.
Es war eine harmlos lustige Umschlingung, ein Trick des Spiels – nicht zur Gefangenen wollte das Mädchen gemacht sein, es wollte so tun, als sei es selber die Fangende –, es war eine ganz kindlich-unbefangene Berührung, aber Käte wurde rot. Ihre Stirn zog sich in Falten: aha, das Mädchen von der Straße zeigte sich! Kaum daß man den Rücken gewendet hatte!
Und mit einem Gefühl des Hasses gegen dieses Mädchen, das, so jung es auch noch war, doch schon versuchte, ihren Knaben an sich zu locken, ging die Mutter wieder in den Garten. –
Wenn Käte gedacht hatte, heute abend, nachdem die Kinder, beladen mit Ostereiern und vollgesättigt, nach Hause gegangen waren, einen stürmischen Dank von ihrem Jungen zu ernten, so hatte sie sich getäuscht. Wolfgang sagte kein Wort.
Sie mußte ihn fragen: »Nun, war's denn schön?«
»Hm!«
Das konnte ebensogut ›ja‹ als ›nein‹ bedeuten. Aber daß es ›nein‹ bedeutet hatte, erfuhr sie, als er ihr gute Nacht sagte. Auf Wunsch des Vaters mußte er ihr immer die Hand küssen; er tat das auch heute mit der unfreien, schon so echt jungenhaften, etwas täppischen Bewegung. Sein dunkler glatter Kopf bückte sich einen Augenblick vor ihr – nur einen kurzen Augenblick – seine Lippen streiften flüchtig ihre Hand. Es war kein Druck in diesem Kuß, keine Wärme.
»Hast du dich denn gar nicht amüsiert?« Sie konnte es nicht unterlassen, sie mußte doch noch einmal fragen. Und er, der aufrichtig war, sagte geradezu:
»Immer, wenn's grade hübsch wurde, kamst du!«
»Nun, dann werde ich euch künftig nicht mehr stören!« Sie versuchte zu lächeln. »Schlaf wohl, mein Sohn!« Sie küßte ihn, aber als er gegangen, war neben dem Gefühl einer gewissen Eifersucht, überflüssig zu sein, von andern völlig ersetzt zu werden, eine große Angst in ihr: wenn er jetzt schon so war, o, wie würde er erst später sein?! –
Wolfgang konnte sich nicht beklagen, die Mutter ließ die Kinder so oft zu ihm in den Garten kommen, wie er sie haben wollte – und er wollte sie fast alle Tage. Die Freundschaft, die im Winter brach gelegen hatte, blühte im Sommer doppelt auf.
»Laß sie doch nur,« hatte Paul zu seiner Frau gesagt, als sie ihn mit gespannt gehobenen Augenbrauen ansah: was würde er sagen, würde er's wirklich gern sehen, daß Wolfgang mit diesen Kindern in seinem Garten tobte?! »Ich finde es nett, wie der Junge mit den Kindern ist,« sagte er. »Ich hätte nie gedacht, daß er sich so anschließen könnte!«
»Du findest es nicht nachteilig, daß er immer nur mit diesen – diesen – nun, mit diesen Kindern umgeht, die doch einer ganz andern Sphäre angehören?«
»Ach was! Nachteilig?!« Er lachte. »Das hört später schon ganz von selber auf. Es ist mir bedeutend lieber, er hält sich an solcher Leute Kinder als an die von Protzen. Er bleibt so eben viel länger ein einfaches Kind!«
»Meinst du?!« Nun ja, in gewisser Beziehung mochte Paul recht haben! Wölfchen war anspruchslos, ein Apfel, eine einfache Brotschnitte waren ihm ebenso lieb wie Torte. Aber es wäre doch besser und ihr lieber gewesen, er hätte sich wählerischer gezeigt – hierin wie auch in anderm. Sie gab sich alle Mühe, ihm eine feinere Zunge anzuerziehen.
Als die Köchin eines Tages ganz empört kam: »Gnädige Frau, nu will der Wolfgang schon nich mehr von der guten Zervelatwurst, un Braten von Mittag will er auch nich mehr auf die Stulle – ›immer dasselbe‹, räsonniert er – was denn nu?« – da freute sie sich. Endlich war es ihr gelungen, ihm beizubringen, daß man nicht sinnlos in sich hinein ißt, ohne jede Wahl, nur um des Essens willen!
Hätte sie gesehen, wie er bei Frau Lämke Schmalzbrot mit Zwiebelleberwurst stopfte, oder Kartoffelkuchen in Öl gebacken heiß aus der Pfanne hinunterschlang, sie hätte sich nicht mehr gefreut. Aber so war sie dankbar für jede noch so kleine, feinere Regung, die sie an ihm zu beobachten glaubte. Sie merkte gar nicht, wie sehr sie sich selber quälte.
Ach, warum unterstützte sie ihr Mann nicht in der Erziehung?! Wenn er's doch täte! Aber er verstand sie eben nicht mehr!
Schlieben hatte es aufgegeben, seiner Frau hineinzureden. Ein paar Mal hatte er's versucht, aber seine Einwendungen waren gescheitert an der Hartnäckigkeit, mit der sie an ihren Prinzipien festhielt. Warum sollte er sich mit ihr entzweien?! So viele Jahre hatten sie glücklich miteinander gelebt – bald waren sie ein Silberpaar – und nun sollte dieses Kind, dieses Bürschchen, das noch kaum orthographisch schreiben konnte, dem der Lehrer eben die ersten lateinischen Regeln eindrillte – dieses Kind, das im Grunde weder sie noch ihn etwas anging – dieses fremde Wesen sollte sie beiden alten Eheleute auseinander bringen?! Da ließ man eben viel lieber manches geschehen, was Käte vielleicht besser anders gemacht hätte. Mochte sie sehen, wie sie auf ihre Weise mit dem Jungen fertig wurde – sie hatte ihn ja so unendlich lieb! Und wenn der dann einst, nicht mehr das Spielzeug, ihren zarten Händen entwachsen war, dann war er, der Mann, ja noch immer da, um ihn die kräftigere Hand fühlen zu lassen. In dem Jungen war ja zum Glück kein Falsch!
Schlieben war nicht unzufrieden mit Wolfgang. Ein Überflieger war der freilich nicht in der Schule, gehörte durchaus nicht zu den ersten, hielt sich aber immerhin doch noch in einer anständigen Mitte. Nun, ein Gelehrter brauchte er ja auch nicht zu werden!
Von all dem, was Paul Schlieben einst in jüngeren Jahren nur einzig erwägenswert gefunden hatte – Wissenschaft, Kunst und deren Studium –, hielt er jetzt nicht mehr das gleiche wie früher. Jetzt war er zufrieden in seinem Kaufmannsberuf. Und da dieses Kind nun einmal in sein Leben hineingeraten war, ohne eignes Zutun in solche Verhältnisse gekommen war, war es auch die Pflicht dessen, der sich ›Vater‹ von ihm nennen ließ, ihm eine Zukunft zu gestalten. Und so machte sich Schlieben einen festen Plan. Wenn der Junge so weit war, daß er das Einjährigenzeugnis hatte, nahm er ihn aus der Schule, schickte ihn ein Jahr nach Frankreich, nach England, eventuell nach Amerika, immer in große Häuser, und wenn er dann vom untersten Lehrling angefangen und was gelernt hatte, dann nahm er ihn zu sich in die Firma. Er dachte es sich schön, manches dann auf jüngere Schultern wälzen zu können. Und verläßlich würde der Junge wohl sein, das merkte man ihm ja schon jetzt an!
Wenn Käte nur nicht so übertriebene Anforderungen stellen wollte! Immer war sie hinter dem Jungen her – wenn nicht in Person, so doch in ihren Gedanken. Sie quälte ihn – er war eben nun mal kein anschmiegendes Kind – und machte es sie denn selber glücklich?!
Manchmal, wenn des Knaben Blick, so über den Tisch weg, wie hilfesuchend zu dem Manne flog, nickte ihm dieser unmerklich, besänftigend zu. Ja, mit Käte war es wirklich je länger, desto weniger leicht auszukommen! –
* * *
Schliebens verreisten. Der Gatte hatte seiner Frau wegen den Sanitätsrat konsultiert, und dieser hatte Franzensbad verordnet. Nun dahin konnte er sie beim besten Willen nicht begleiten! Er würde die Zeit benutzen, und, da er auch lange nicht ausgespannt hatte, einige Fußwanderungen in Tirol unternehmen. Ein paar Pfund Gewichtsabnahme konnten nicht schaden.
Aber wo sollte währenddessen Wolfgang bleiben?!
»Nun, zu Hause,« sagte der Vater. »Er ist ja alt genug; elf Jahre. Die Vormittage ist er in der Schule, die Nachmittage im Garten, und alle paar Tage mag Hoffmann nach ihm sehen – dir zur Beruhigung!«
Es war der Mutter ein unerträglicher Gedanke, das Kind allein zurückzulassen. Am liebsten hätte sie es mit sich genommen. Aber Paul war ärgerlich geworden: »Das fehlte noch!« Und der Arzt hatte gesagt: »Durchaus nicht!«
Käte hatte dann ihren Mann veranlassen wollen, den Knaben mitzunehmen: »Wie gesund würde es ihm sein, sich mal so recht auszulaufen!«
»Nun, ich denke, das besorgt er schon gründlich hier. Ich bitte dich, Käte, der Junge ist kerngesund, gib doch nicht immer so an mit ihm! Und ich werde ihn doch auch nicht ganz unnützerweise aus der Schule nehmen!«
Freilich, zurückkommen, womöglich zu den Letzten gehören, durfte er nicht! Käte war ja so ehrgeizig für ihren Sohn. So würde sie eben, da die Juliferien schon beinahe verstrichen waren und sie in dieser passenderen Zeit nicht mit ihm gereist waren, nun auch zu Hause bleiben! Sie erklärte, nicht fort zu können.
Aber Arzt und Mann bestimmten über sie weg; je nervös-ängstlicher sie sich weigerte, desto dringender erschien ihnen eine ernstliche Kur. Der Tag der Abreise wurde schon in Aussicht genommen.
Vorher kündigte aber noch Lisbeth: nein, wenn die gnädige Frau auf so lange fortging und der Herr auch, nein, dann ging sie auch! Mit Wolfgang, mit dem Jungen allein bleiben?! Nein, das tat sie nicht!
Sie mußte sich in den nahezu zehn Jahren, die sie im Hause gewesen war, ganz gut gespart haben, denn auch die Versicherung einer Lohnzulage konnte sie nicht halten. Sie beharrte bei ihrer Kündigung und warf einen bösen Blick nach dem Knaben, der eben von draußen übers Fensterbrett sein lachendes Gesicht hereinhob.
Käte war außer sich. Nicht nur, weil sie ungern die langbewährte Dienerin entbehrte, sie hatte auch so bestimmt darauf gerechnet, Lisbeth würde während ihrer Abwesenheit ein wachsames Auge auf den Knaben haben. Und es schmerzte sie, daß diese in einem so gehässigen Tone von Wolfgang sprach. Was hatte ihr das Kind denn getan?!
Aber Lisbeth zuckte nur wortlos die Achseln und setzte eine verdrossen-beleidigte Miene auf.
Der Hausherr nahm sich den Knaben vor: »Sage mal, Junge, was hast du eigentlich mit der Lisbeth gehabt? Sie hat gekündigt, und, wie mir scheint, geht sie wegen dir. Hör' mal –« er sah ihn scharf an – »du bist wohl frech gegen das Mädchen gewesen?«
Des Knaben Gesicht wurde ganz hell: »O, das ist gut, das ist gut, daß die geht!« Er beantwortete gar nicht die an ihn gestellte Frage.
Schlieben zog ihn am Ohrläppchen: »Antworte, bist du frech gegen sie gewesen?«
»Hm!« Wolfgang nickte und lachte den Vater an. Und dann sagte er, noch triumphierend in der Erinnerung: »Gestern erst! Da hab' ich ihr eine ins Gesicht gegeben. Warum sagt sie denn immer, ich hätte hier nichts zu suchen?!«
Schlieben erzählte seiner Frau nichts hiervon; sie würde sich ja nur wieder neue grüblerische Gedanken machen. Dem Jungen hatte er auch keinen Klaps gegeben, ihm nur ein wenig mit dem Finger gedroht. –
Lisbeth zog ab. Wie eine beleidigte Königin verließ sie das Haus, dem sie so lange treu gedient hatte und in dem sie sich so viel hatte gefallen lassen müssen, wie sie beim Abschied weinend ihrer ebenfalls ergriffenen Herrin versicherte.
Ein andres Mädchen war gemietet worden, freilich eins, auf das Käte von vornherein keine besondere Zuversicht setzte – Lisbeth hatte gleich einen ganz anders intelligenten Eindruck gemacht – aber es blieb keine Wahl, da keine Ziehzeit war; und sie sollte doch so rasch als möglich ins Bad.
So kam Cilla Pioschek aus der Warthegegend in die Villa Schlieben.
Sie war ein großes, starkes Mädchen mit einem Gesicht, rund und gesund, weiß und rot. Sie war erst achtzehn, aber sie hatte schon lange gedient, schon als sie noch in die Schule ging drei Jahre als Kindermädchen beim Gutsinspektor. Der Hausherr amüsierte sich über sie – sie verstand keinen Witz, nahm alles für wahr und sagte alles grade heraus, wie sie's dachte –, aber die Hausfrau nannte das ›dummdreist‹. Mit der alten Köchin und dem Diener stand die Neue dagegen auf besserem Fuß als Lisbeth, denn sie ließ sich vieles gefallen.
»Du kannst ganz beruhigt abreisen,« sagte Paul. »Tu mir den Gefallen, Käte, sperre dich nicht länger. In sechs Wochen, so Gott will, bist du mir ganz gesund wieder da, und ich sehe hier –« leicht tupfte sein Finger – »hier nicht mehr die kleinen Fältchen an den Augenwinkeln!« Er küßte sie.
Und sie erwiderte seinen Kuß, nun, da sie sich von ihm trennen sollte, zum ersten Mal in ihrer Ehe auf so lange Zeit; denn früher waren sie immer, immer zusammengereist, und seit Wölfchen ins Haus gekommen war, hatte er auch nur auf höchstens vierzehn Tage einmal Urlaub von ihr erbeten. Sie hatte das Kind nie allein gelassen. Und nun sollte sie auf ganze sechs Wochen von den Ihren gehen?! Sie hing sich an ihn. Es drängte sich ihr förmlich auf die Lippen, zu fragen: ›Warum gehst du nicht mit mir wie früher? Franzensbad und Spaa – das ist doch ein so großer Unterschied nicht!‹ Aber wozu das sagen, wenn er nicht einmal mit dem leisesten Gedanken daran gedacht hatte?! Jahre waren hingegangen, von der Innigkeit, die sie einstmals so verbunden hatte, daß sie nur gemeinsam genießen konnten und sich nie getrennt hatten, war eben doch manches abgebröckelt unterm Flügelschlag der Zeit!
Sie seufzte und entzog sich sacht seinem Arm, der sie umschlang. »Wenn jemand hereinkommt, uns so miteinander sieht! So alte Eheleute!« sagte sie mit dem Versuch zu scherzen. Und er lachte, wie es sie dünkte, ein bißchen verlegen und machte nicht den Versuch, sie zu halten.
Aber als nun eines frühen Morgens der Wagen vor der Türe stand, der sie nach dem Berliner Abfahrtsbahnhof bringen sollte, als die zwei großen Koffer aufgeladen waren und das Handgepäck, als er ihr jetzt die Hand reichte zum Einsteigen und dann neben ihr Platz nahm, konnte sie doch nicht an sich halten: »Ach, wenn du doch mitführest! Ich mag nicht allein reisen!«
»Hättest du mir's doch ein bißchen eher gesagt!« Er war ganz betroffen; es tat ihm aufrichtig leid. »Wie gut hätte ich dich den einen Tag hinbringen, dort installieren, und den andern Tag wieder zurücksein können!«
O, er verstand es eben nicht, dieses: ›wenn du doch mitführest‹! Mit ihr auch dableiben – das hatte sie gemeint.
Schmerzlich suchte ihr Blick das Fenster oben im Hause, hinter dem Wölfchen noch schlief. Schon gestern abend hatte sie ihm Adieu sagen müssen, da die Abreise so sehr früh war. Vorhin hatte sie nur noch einmal mit einem stummen Lebewohl an seinem Bett gestanden, und vorsichtig, um ihn nicht zu wecken, war ihr Handschuh über seinen schwer auf dem Kissen ruhenden Kopf gefahren. Ach, wie gerne hätte sie jetzt noch ein liebes Wort mit ihm gesprochen!
»Grüßen Sie den Jungen, grüßen Sie den Jungen,« sagte sie ganz rasch, hastig mehrmals hintereinander zu der Köchin und zu Friedrich, die am Wagen standen. »Und sorgen Sie gut für ihn! Hören Sie?! Grüßen Sie den Jungen, grüßen Sie den Jungen!« Andres konnte sie nicht mehr sagen, auch nichts andres mehr denken. »Grüßen Sie den –«
Da klirrte oben das Fenster! Beide Arme ausstreckend hob sie sich halb vom Sitz.
Oben reckte der Junge den dunklen Kopf heraus. Seine Wangen blühten, heiß vom Schlaf, über dem weißen Nachthemd.
»Adieu! Adieu! Komm gesund wieder! Und schreib mir auch mal!«
Er rief es sehr vergnügt und nickte herunter; und hinter ihm hob sich, freundlich lachend, das runde, gesundweiß und rote Gesicht der Cilla.