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VII

Das waren Tage reinsten Glücks in der Villa Schlieben. Man hatte sie nun gekauft, noch ausbauen lassen und auch zum Garten noch ein Stück Land als Spielplatz dazu erworben. Es war nicht zu denken, daß der Junge nicht Platz genug haben sollte, sich auszutummeln. Sand wurde gefahren, ein Berg, so hoch wie eine Düne, darin er buddeln konnte. Und als er anfing, zum Turnen groß genug zu sein, wurden eine Schaukel angeschafft, ein Reck und ein Barren.

Aber dies alles war doch noch nicht ausreichend. Er stieg über sämtliche Zäune der Nachbarvillen, über alle die mit Stacheldraht und Glasscherben bewehrten Mauern.

»Herrlicher Junge,« sagte Geheimrat Hofmann, wenn er von Wolfgang sprach. Sprach er mit ihm, so sagte er freilich: »Du bist ein ganzes Rauhbein! Warte nur, wenn du in die Schule kommst, da werden sie dich das Stillesitzen lehren!«

Wolf war wild – ›etwas zu wild‹ fand die Mutter. Schlieben machte der Übermut des Jungen Spaß, es steckte eben so viel überschüssige Kraft in ihm. Aber Käte fühlte sich ein wenig befremdet durch so viel Wildheit. Nein, befremdet war sie eigentlich nicht, wußte sie doch nur zu gut, woher diese Wildheit stammte; bange machte ihr die.

Sie schalt nicht über zerrissene Hosen – o, die konnten ja wieder ersetzt werden! – aber als er heimkam mit dem ersten Loch im Kopf, da wurde sie ganz unglaublich erregt. Sie schalt heftig, sie wurde ungerecht. Es war ihr nicht möglich, ihm das Blut zu stillen – huh, wie es rann! – wie einen Krampf begann sie's am Herzen zu fühlen, mühselig schleppte sie sich in ihr Zimmer und blieb da stumm in einem Winkel sitzen, die Blicke starr ins Leere gerichtet.

Als ihr Mann ihr, solcher Übertreibung wegen, einige Vorwürfe machte, sagte sie kein Wort dawider. Er tröstete sie dann: sie konnte ja nun ganz ruhig sein, die Sache war weiter nicht von Belang, das Loch genäht und der Junge seelenvergnügt, als sei nie etwas gewesen!

Aber sie fröstelte in einem nervösen Schauer und blieb blaß. Ach, wenn Paul wüßte, an was sie dachte, immerfort denken mußte! Daß sich ihm nicht die gleiche Erinnerung aufdrängte?! – – – O, Michel Solheid hatte blutend auf dem Venn gelegen – Blut war zur Erde getropft heute wie damals! Der kleine Knabe hatte sich nicht beklagt, ebensowenig, wie sein – sie sträubte sich selbst in Gedanken gegen dieses Wort – wie sein Vater, wie Michel Solheid geklagt hatte! Und doch war das rote Blut hervorgespritzt wie ein Springquell; wieviel natürlicher wäre dabei ein Weinen gewesen! Empfand Wolf denn anders, wie andre Kinder empfanden?!

Käte ging die Reihe ihrer Bekannten durch: da war kein einziges Kind, das bei solcher Verwundung nicht geweint hätte, und es brauchte deshalb noch lange kein Feigling zu sein. Es war gewiß, Wölfchen war weniger feinfühlig. Nicht nur stumpfer gegen körperlichen Schmerz, nein – und das hatte sie schon mehrmals zu bemerken geglaubt – auch stumpfer in den Regungen der Seele. Selbst bei Freuden. Zeigten nicht andere Kinder ihr Beglücktsein, indem sie jubelnd in die Hände klatschten? Den begehrten Gegenstand: das Spielzeug, die Puppe, den Kuchen mit Rufen des Entzückens umhüpften? Er hatte nur ein stummes Danachgreifen; nahm's an sich, eben weil es ihm geboten ward, ohne all die kindliche Geschwätzigkeit, ohne dies anmutig-jauchzende Erfreutsein, das es so unendlich dankbar macht, Kinder zu beschenken.

›Wie ein Bauer,‹ pflegte Schlieben zu sagen. Das gab ihr jedesmal einen Stich durchs Herz. War Wölfchen wirklich aus so anderm Holz?! Nein, ›Bauer‹ durfte Paul nicht sagen! Wölfchen war doch nicht stupide, nur vielleicht ein wenig langsam im Denken, aber doch schlau genug! Und er war eben kein Großstadtkind; man lebte ja hier ganz wie auf dem Lande.

»Du Bauer!« Bei der nächsten Gelegenheit, als der Vater es wieder sagte – es war diesmal zum Lobe gesagt und nicht zum Tadel, aus Freude darüber, daß der Knabe sein Gärtchen so gut im Stande hielt – brauste die Mutter auf. Warum?! Schlieben begriff den Grund nicht. Warum sollte er sich nicht freuen? Hatte der Junge seinen kleinen Garten denn nicht allerliebst eingefriedigt? Aus Haselstöcken hatte er sich ein Staket errichtet, das zur Verdichtung mit biegsamen Weidenruten durchflochten und mit Kiefernzweigen belegt war. Und Bohnen und Erbsen hatte er gesteckt, die er sich von der Köchin erbettelt hatte; und nun würde er auch noch Kartoffeln legen. Hatte ihn's jemand so tun geheißen? Nein, niemand! Die perfekte Köchin und das Hausmädchen waren Großstadtkinder, was wußten die von Erbsenstecken und Kartoffellegen?!

»Der geborene Landwirt,« sagte lachend der Vater.

Wie im Schmerz aber wandte sich die Mutter ab; viel, viel lieber hätte sie gesehen, ihres Sohnes Garten wäre ein Unkrautfeld gewesen, als daß er so emsig pflanzte, jätete und begoß.

Sie hatte ihm Blumen geschenkt; aber für die hatte er weniger Interesse, sie gediehen ihm auch nicht so. Nur eine große Sonnenblume wuchs und wuchs; sie war bald so hoch wie der Knabe, bald noch höher, und er stand oft davor, das kindliche Gesicht ernst erhoben, und sah lange in ihr goldenes Rund.

Als der Sonnenblume goldene Blätter verschrumpften, dafür aber ihr Same reif ward – jeden Tag wurde der prüfend betrachtet und dann endlich eingeerntet –, kam Wolfgang zur Schule. Er ging schon ins siebente Jahr und war groß und stark; warum sollte er jetzt nicht mit andern Kindern lernen?

Die Mutter hatte es sich zwar wundervoll gedacht, ihm selber die Anfangsgründe beizubringen, hatte sie doch als junges Mädchen, das zu Hause nichts zu tun fand und sich gern weiterbilden wollte, das Seminar besucht und das Lehrerinnenexamen sogar mit Auszeichnung bestanden; aber – es war wohl schon zu lange her – hier versagte ihre Kraft. Besonders die Geduld. Das ging so langsam voran, so unsäglich langsam! War der Junge unbegabt? Nein, aber schwerfällig, von einer zu großen Schwerfälligkeit. Und ihr war oft, als redete sie an wie gegen eine Mauer.

»Du bist viel zu lebhaft,« sagte ihr Mann. Aber Gott im Himmel, wie sollte sie's ihm denn klarmachen, daß das ein ›A‹ war und das ein ›O‹, und wie sollte sie's ihm erklären, daß, legt man zu eins noch eins, es zwei sind, wenn sie nicht lebhaft dabei wurde?! Sie ereiferte sich, sie nahm die Rechenmaschine und zählte dem Knaben die blauen und roten Kugeln vor, die wie runde Perlen an einer Schnur saßen; sie wurde heiß und rot dabei, fast heiser, und hätte zuletzt vor Ungeduld und Verzagtheit weinen mögen, wenn Wölfchen dasaß und sie mit seinen großen dunklen Augen so interesselos ansah und nach Stunden der Arbeit doch noch nicht wußte, daß eine Perle und noch eine Perle zwei Perlen sind.

Mit Schmerz sah sie's ein, sie mußte den Unterricht aufgeben. »Beim Lehrer wird es schon besser gehen,« tröstete Schlieben. Und es ging besser, wenn man auch nicht gerade ›gut‹ sagen konnte.

Wolfgang war nicht faul. Aber seine Gedanken wanderten. Das Lernen interessierte ihn nicht. Er hatte andres zu denken: ob die letzten Blätter im Garten wohl gefallen sein würden, wenn er am Mittag aus der Schule nach Hause kam?! Und ob im nächsten Frühjahr der Star, dem er das Kästchen hoch oben in die Kiefer genagelt hatte, sich wohl wieder einfinden würde? Alle schwarzen Beeren hatte der abgepickt vom Holunderbaum und war dann fortgezogen mit Geschrei; wenn der nun keine Holunderbeeren mehr fand, was fraß er dann?! Und bange Sorge rüttelte des Knaben Herz – hätte er ihm doch noch ein Säckchen voll Beeren mitgegeben! –

Jetzt lag der Schnee auf den Kiefern des Grunewalds. Als Wolfgang heute morgen zur Schule gegangen war, das Ränzel auf dem Rücken, das Hausmädchen als Begleitung neben sich, hatte die weiße Decke unter seinen Stiefelchen geknirscht und geknackt. Es war sehr kalt. Und da hatte er einen Schrei gehört, einen hungrigen krächzenden Schrei. Das Hausmädchen meinte, es sei eine Eule gewesen – pah, was die wußte! Ein Rabe war's, der hungrige Bettelmann im kohlschwarzen Röcklein, wie in der Fibel stand!

Und an den dachte jetzt der Knabe, als er in der Schulbank saß und mit großen Augen auf die Wandtafel starrte, an die der Lehrer Wörter schrieb, die man ergründen sollte. Wie angenehm mußte es jetzt unter den Kiefern sein! Da flog der Rabe und streifte mit seinen schwarzen Flügeln den Schnee von den Ästen, daß der stäubte. Wohin er dann fliegen mochte?! Wie dem Star, so eilten dem Raben die Gedanken nach, weit, weit fort! Des Knaben Blick erglänzte, seine Brust hob sich unter einem tiefen Atemzug – da rief ihn der Lehrer an.

»Wolfgang, schläfst du mit offenen Augen? Wie heißt das hier?!« Der Knabe fuhr zusammen, wurde rot, dann blaß und wußte nichts.

Die andern Jungen wollten sich totlachen – ›schläfst du mit offenen Augen?‹ – das war zu drollig gewesen!

Der Lehrer strafte nicht, aber Wolfgang schlich doch nach Hause, als hätte er Strafe bekommen. Vor dem Hausmädchen, das ihn immer abholen kam, hatte er sich versteckt – nein, mit der ging er heute nicht! Auch den Kameraden war er davongelaufen – mochten sie sich heute mal ohne ihn balgen, morgen würde er ihnen desto mehr Schneeballen aufbrummen!

Er ging ganz allein, bog von der Straße ab und wanderte planlos zwischen die Kiefern hinein. Er suchte den Raben, aber der war weit fort, und so begann auch er zu rennen, zu rennen, so rasch er nur konnte, riß den Tornister vom Rücken und schleuderte ihn mit einem lauten Schrei weit von sich in die breiten Äste einer Kiefer hinein, daß er da hängen blieb, und nur Schnee in ganzen Stücken lautlos herunterklexte. Das machte ihm Spaß. Er raffte beide Hände voll Schnee, drehte feste Bälle und begann nun die Kiefer, die seinen Tornister gefangen hielt, regelrecht zu bombardieren. Aber sie gab den Tornister nicht her, und als er heiß und rot und müde war, aber sehr erheitert, mußte er ohne Ränzel nach Hause gehen.

Das Hausmädchen war längst da, als er ankam; mit rotem Kopf – so war sie nach ihm umhergerannt – und mit bösem Blick öffnete sie ihm die Tür. »Na,« sagte sie ärgerlich, »wohl nachsitzen müssen?«

Er stieß sie zur Seite: »Halt deinen Mund!« Sie war ihm unleidlich in diesem Augenblick, da er von draußen hereinkam, wo es so still, so frei gewesen war.

Die Eltern saßen schon bei Tisch. Der Vater betrachtete ihn mit Stirnrunzeln, die Mutter fragte mit sanftem Vorwurf, der nicht frei von Besorgnis war: »Wo bist du so lange gewesen? Lisbeth hat dich überall gesucht!«

»Nun?« Schliebens Stimme klang streng.

Der Knabe hatte keine Antwort gegeben, es war ihm auf einmal, als sei ihm die Zunge gelähmt. Was sollte er denen hier drinnen denn von draußen erzählen?!

»Er hat sicher in der Schule nachsitzen müssen, gnäd'ge Frau,« flüsterte das Hausmädchen beim Präsentieren der Bratenschüssel. »Ich werde es morgen schon von den andern Jungens 'rauskriegen und gnäd'ge Frau dann Bescheid sagen!«

»O du!« Der Knabe war aufgefahren; so leise sie das gelispelt hatte, er hatte es doch gehört. Der Stuhl polterte hinter ihm zu Boden, mit geballter Faust stürzte er auf das Mädchen los, packte es so gewaltig an, daß es gellend aufschrie und die Schüssel aus der Hand fallen ließ.

»Du Gans, du Gans!« Er heulte es laut heraus und wollte sie schlagen; nur mit Mühe zerrte ihn der Vater zurück.

»Wölfchen!« Käte war die Gabel klirrend aus der Hand gefallen, mit weiten Augen, ganz starr, sah sie auf ihren Jungen.

Das Mädchen beklagte sich bitter: so war er immer, es war nicht auszuhalten, vorhin hatte er erst gesagt: ›Halt dein Maul!‹ Nein, das konnte sie sich nicht gefallen lassen, lieber zog sie! Und weinend lief sie aus dem Zimmer.

Schlieben war empört. »Du sollst gegen Untergebene manierlich sein! Gerade weil sie dienen müssen, sollst du höflich sein! Hörst du?« Und er faßte den Jungen mit kräftiger Hand, zog ihn übers Knie und gab ihm die wohlverdienten Schläge.

Die Zähne zusammenbeißend, ohne Laut, ohne Träne, ließ Wolfgang die Strafe über sich ergehen.

Aber der Mutter fiel jeder Schlag aufs Herz. Sie war selber wie geschlagen, ganz zerschlagen. Als ihr Mann nach dem stürmischen Mittagessen seine Siesta hielt, rauchte, die Zeitung las und ein wenig dabei einnickte, schlich sie hinauf zur Kinderstube, in die der Junge eingeschlossen worden war. Ob er weinte?

Sacht drehte sie den Schlüssel – er kniete auf dem Stuhl am Fenster, die Nase platt an die Scheibe gedrückt, und sah aufmerksam hinaus in den Schnee. Er bemerkte sie gar nicht; da zog sie sich vorsichtig wieder zurück. Sie ging wieder hinunter, aber sie fand nicht die innere Ruhe, um in ihrem Zimmer zu lesen; auf leisen Sohlen, wie rastlos, glitt sie durchs Haus. Da hörte sie, mitten zwischen Tellergeklapper, in der Küche Lisbeth zur Köchin sagen: »Das lasse ich mir denn doch nicht gefallen! Von so 'nem Bengel nicht! Was hat denn der hier zu suchen?!«

Von einem lähmenden Schrecken befallen, stand Käte starr: was – was wußte die?! Es wurde ihr glühend heiß und dann eisig kalt. ›Von so einem Bengel nicht – was hat der hier zu suchen?‹ – o, um Gottes willen, so sprach die?!

Sie lief wieder hinauf zur Kinderstube; dort kniete Wölfchen noch immer am Fenster.

Hier hemmte noch keine Nachbarvilla die Aussicht: man sah von diesem Fenster aus ein großes Stück unbebautes Feld, auf dem sommers Löwenzahn und Brennnessel zwischen wildem Hederich im Sande vegetierten, jetzt aber Schnee lag, hoch und rein, von keinem Fußtritt berührt. Es dunkelte schon der frühe Winterabend, nur dies weiße Feld schimmerte noch, und im bleichen Schein der Schneehelle dünkte der Mutter des Kindes Gesicht sehr blaß.

»Wölfchen!« rief sie sanft. Und dann: »Wölfchen, wie konntest du zu Lisbeth sagen: ›Gans‹ und ›Halte dein Maul?!‹ O Pfui! Woher hast du das?!« Sie fragte es leise-traurig.

Da drehte er sich nach ihr herum, und sie sah, wie seine Augen brannten. Es flackerte darin wie eine geängstete, unruhige Sehnsucht.

Sie sah auch das, und ganz gegen alle Regeln der Pädagogik öffnete sie die Arme und flüsterte – als es ihr entflohen war, war ihr's selbst nicht klar, warum sie es gesagt hatte, hatte er doch alles, alles, was sein Herz begehrte – flüsterte: »Du armes Kind!«

Und er lief in ihre Arme.

Sie hielten sich umfangen, Herz klopfte an Herz; sie waren beide traurig, aber keiner von ihnen wußte, warum er selber so traurig, und auch nicht, warum der andere so traurig war.

»Es sind nicht die Schläge,« murmelte er.

Sie strich ihm mit glättender Hand das straffe Haar aus der Stirn; sie fragte ihn jetzt nicht mehr. Denn – stieg dort aus dem Schneefeld nicht etwas auf, schwebte am Fenster empor und legte den Finger auf die Lippen: ›Still, nicht fragen, nicht daran rühren?!‹

Aber sie blieb bei ihm und spielte mit ihm, ihr war, als dürfe sie ihn heute nicht allein lassen. Ja, sie mußte sich von jetzt ab überhaupt noch mehr um ihn kümmern! Wie eine Last fiel es ihr plötzlich auf die Seele: sie hatte ihn schon viel zu viel sich selber überlassen! Aber dann tröstete sie sich wieder: er war ja noch so jung, er war ja noch ganz weiches Wachs, das sie formen konnte, wie sie wollte! So am Fenster stehen und mit so brennenden Augen hinaus ins öde Feld starren, durfte er nie mehr! Nach was sehnte er sich? Hatte er denn nicht Liebe die Fülle? Und alles andre, was ein Kinderherz erfreut?!

Sie sah sich um in seinem hübschen Zimmer; da waren so viele Spielsachen aufgestapelt: Eisenbahnen und Dampfschiffe, Bleisoldaten und Bilderbücher und die allerneuesten Spiele.

»Komm, wir wollen spielen,« sagte sie.

Da war er gleich dabei; sie erstaunte, wie rasch er seinen Kummer vergessen hatte. Gott sei Dank, er war doch noch ein ganz ahnungsloses, harmloses Kind! Aber mit welcher Unrast er die Spielsachen durcheinander warf! ›Das ist dumm‹ und ›das ist langweilig‹ – nichts fesselte ihn recht. Sie war bald ganz erschöpft von allem Vorschlagen und zu dem und jenem Spiel Animieren; sie glaubte nicht, daß sie je selber als Kind so schwer zu befriedigen gewesen war. Zehnmal schon hatte sie aufstehen wollen und fortgehen – nein, jetzt hielt sie's wirklich nicht mehr aus, der Kopf war ihr ganz toll, ihre Nerven sträubten sich, es war wahrhaftig leichter, am Kochherd zu stehen oder Hausarbeit zu verrichten, als mit einem Kind zu spielen! – aber zehnmal hielt ihr Pflichtgefühl sie wieder fest und ihre Liebe.

Sie durfte ihn nicht allein lassen, denn – mit dumpfer Angst fühlte sie's – denn dann kam jemand anders und nahm ihn ihr fort!

Blaß und abgemattet blieb sie bei ihm sitzen; er hatte sie sehr gequält. Zuletzt fand er, ganz vergessen im Winkel des Spielschranks, ein wolliges Schäfchen, ein nur mehr dreibeiniges, zerzaustes, altes Spielding aus seiner ersten Kinderzeit. Damit vergnügte er sich; das machte ihm mehr Spaß als die andern kostbaren Sachen. Wie ein ganz kleines Kind saß er auf dem Teppich, hielt das Schaf zwischen den Knieen und streichelte es.

Als er endlich im Bette lag, saß sie noch bei ihm und hielt ihm die Hand. Sie sang, wie sie ihn so oft eingesungen hatte:

»Schlaf, mein süßes Kind,
Draußen geht der Wind,
Höre, wie der Regen fällt
Und wie Nachbars Hündchen bellt!
Hündchen hat den Mann gebissen,
Hat des Bettlers Kleid zerrissen –«

Immer leiser hatte sie gesungen; jetzt glaubte sie ihn eingeschlafen, da riß er ungestüm seine Hand aus der ihrigen: »Hör auf mit dem Lied! Ich bin kein kleines Kind mehr!«

* * *

Es war ein Glück, daß es in der Grunewaldkolonie keine Straßenjungen gab, sonst hätte Wölfchen sicherlich mit denen gespielt; so waren es doch nur Portierkinder. An besserem Verkehr fehlte es ihm freilich nicht; von Schulkameraden, deren Eltern gleich den seinen in Villen wohnten, wurde er eingeladen, und auch die Berliner befreundeten Familien, die es gerne sahen, wenn ihre Kinder an Ferientagen hinaus konnten in den Grunewald, forderten ihn zu fleißigem Besuche auf.

Alle Kinder kamen gern in den schattigen Garten, wo Tante Schlieben immer so freundlich war. Kuchen und Obst gab's da genug und Reifen und Bälle und Krocket und Tennis, Kegel und Turngeräte. An sonnigen Nachmittagen stieg helles Gelächter und Gekreisch bis hoch hinauf in die grünen Wipfel der Kiefern, aber – Frau Käte sah's mit Befremden – ihr Junge, der sonst doch immer so wilde, war dann der stillste. Er machte sich nichts aus dem Besuch. Die Knaben in weißen und blauen Matrosenanzügen, deren frische Gesichter sich so wohlgesittet über blendenden Kragen erhoben, waren ihm nicht lieb; er gewann keine rechte Fühlung mit ihnen. Am liebsten wäre er davongelaufen, da weit draußen hin, wo niemand anders ging, als ab und zu mit einem großen Sack ein Strolch, der mit seinem Drahthaken jedes Stullenpapier wendete, um zu sehen, ob vom Sonntag nicht vielleicht doch etwas Kostbares übrig geblieben sei. Dem hätte er gern geholfen. Oder Kienäpfel in den großen Sack gesammelt.

Aber Freunde hatte Wolfgang doch auch. Da war Hans Flebbe – sein Vater war Kutscher bei dem Bankier, der schrägüber die prachtvolle Villa hatte und im Winter in der Bellevuestraße in Berlin wohnte –, da waren auch noch Artur und Frida; aber deren Eltern waren nur Portierleute in einer Mietvilla, die von verschiedenen Parteien bewohnt wurde.

Sobald diese drei aus der Schule nach Hause gekommen waren, fanden sie sich vor der Schliebenschen Villa ein; sie waren nicht wegzutreiben, geduldig warteten sie, bis Wolfgang sich zu ihnen gesellte.

»Mit meinem Hans ist er wie 'n Bruder,« pflegte der Kutscher zu sagen und Wolfgang immer mit einem ganz besonders herablassenden Peitschenschwippen hoch vom Bock zu begrüßen. Und die Portierleute stellten befriedigt fest: »Was er, der olle Schlieben is, der faßt immer an 'n Hut, und sie, die Jnädige, jrüßt auch immer sehr freundlich, aber was der Kleene is, der is doch noch janz anders!«

Es waren wilde Spiele, bei denen Frida ganz als Junge gerechnet wurde, die die vier Kameraden spielten: Nachlaufen, Versteck, am liebsten Räuber und Gendarm. Ha, wie Wolfs, des Räuberhauptmanns, Augen funkelten, wenn er dem Gendarmen, Hans Flebbe, einen Tritt gegen den Bauch gab, daß der hintenüber zu Boden fiel und vor Schmerz eine Weile starr liegen blieb.

»Ich habe ihn erschossen,« sagte er stolz zu seiner Mutter.

Käte, durch das wilde Schreien der Kinder, die auf dem unbebauten Feld hinter der Villa rasten, ans Fenster gerufen, hatte ihren Knaben hereingewinkt. Widerwillig war er gekommen; aber er war doch gekommen. Jetzt stand er atemlos vor ihr, und sie strich ihm das feuchte Haar aus dem schweißüberströmten Gesicht: »Wie siehst du aus?! Und hier – sieh mal!«

Vorwurfsvoll wies sie auf seine weiße Bluse, die war von oben bis unten beschmutzt. Wo um alles in der Welt nur hatte er sich gesielt, es gab ja hier gar nicht solche Pfützen?! Und die Hose! Das rechte Bein war der Länge nach aufgeschlitzt, das linke Zeigte am Knie ein dreieckiges Loch.

Pah, das machte nichts! Schon wollte er wieder fortstürmen, er zitterte vor Ungeduld: die Kameraden hockten ja hinterm Busch, die trauten sich nicht eher heraus, als bis er, ihr Hauptmann, wieder bei ihnen war! Er wehrte sich gegen die haltende Hand; aber sein Sträuben half diesmal nichts, der Vater kam aus dem Nebenzimmer.

»Du bleibst hier! Pfui, schäme dich, dich der Mutter zu widersetzen! Marsch, auf dein Zimmer, mach deine Schularbeiten für morgen!«

Schlieben sagte es barsch. Es hatte ihn empört, zu sehen, wie der Junge sich mit Händen und Füßen der zarten Frau widersetzte.

»Du Rüpel, ich will dich lehren, wie man mit seiner Mutter umgeht! Hier« – er packte ihn ins Genick und schleifte ihn wieder näher heran – »hier, bitt ab, küsse der guten Mutter die Hand! Und versprich, daß du nicht mehr so wildern wirst, wie ein Straßenjunge! Voran – nun, wird's bald?!«

Die Zornesader auf des Mannes Stirn fing an zu schwellen. War das ein bockiger Bengel! Da stand er, die Bluse vorn auseinander gerissen, daß man das Fliegen der verschwitzten Brust sah – noch hatte er nicht ruhigen Atem gefunden, er keuchte noch vom wilden Lauf – und sah so verwildert aus, so verwüstet, so gar nicht wie guter Leute Kind! Das ging nicht länger so!

»Du wirst nicht mehr so toben – nie mehr – hörst du?« sprach der Vater streng. »Ich verbiete es; spiele andre Spiele! Du hast deinen Garten, Turngeräte, hundert Sachen, um die dich andre beneiden würden. Und jetzt voran, bitte ab!«

Der Knabe ging zur Mutter. Sie kam ihm auf halbem Wege entgegen, sie hielt ihm schon die Hand hin. Er küßte diese, er murmelte auch: »Ich will es nicht wieder tun,« aber Schlieben hörte keine Reue heraus. Es war etwas in dieser verdrossenen Art, das ihn reizte. Und er ließ sich hinreißen.

»Das war keine Abbitte! Wiederhole die Bitte um Verzeihung – und deutlich!«

Der Knabe wiederholte sie.

»Und nun versprich, daß du nicht mehr so toben wirst! ›Liebe Mutter, ich verspreche‹ – nun?!«

Kein Wort, kein Versprechen.

»Was soll das heißen?« Außer sich schüttelte Schlieben den Jungen. Der aber preßte die Lippen aufeinander. Von unten herauf traf ein Blick seiner dunklen Augen den Vater.

Frau Käte fing den Blick auf – o Gott, das war der Blick – jener Blick – der Blick des Weibes!

Schützend hielt sie beide Arme über den Knaben: nicht, nicht, o nicht ihn reizen! Sie zog ihn näher zu sich und legte ihre Hände über seine Augen, daß er sie schließen mußte, und flehte dabei mit den Blicken ihren Mann an: Geh, geh du!

Schlieben ging, aber er schüttelte unwillig den Kopf. »Du wirst sehen, was du aus dem Jungen erziehst!« Drohend hob er noch einmal die Hand: »Junge, ich sage dir, du wirst parieren!« Und dann machte er die Tür hinter sich zu – nicht einmal seine Mittagsruhe konnte man mehr ungestört halten!

Vom Nebenzimmer aus hörte er die Stimme seines Weibes. Die klang so weich und dabei zitternd, wie in geheimer Angst: »Wölfchen, Wölfchen, bist du nicht mein gutes Kind?«

Keine Antwort. Herr des Himmels, dieser fühllose Rüpel, hatte er auf diese Frage, in diesem Ton, keine Antwort?!

Nun wieder die weiche, zitternde Stimme: »Willst du denn nicht mein gutes Kind sein?«

Wenn der Bengel jetzt nicht antwortete, dann –! Dem wider Willen Zuhörenden stieg das Blut zu Kopf, es zuckte in seinen Fingern, er wollte aufspringen, wieder hineineilen und – aha, jetzt mußte er geantwortet haben! Freilich wohl nur durch ein stummes Nicken, aber Kätes Stimme klang innig erfreut: »Siehst du, ich wußte es ja, du bist mein gutes Kind, mein geliebtes Kind, mein – mein –!«

Nun, das war wahrhaftig auch nicht vonnöten, daß, nachdem der Junge eben noch so ungezogen gewesen war, Käte jetzt solche Liebestöne an ihn verschwendete! Und geküßt mußte sie ihn haben, umarmt! Ihre Stimme war erstorben wie in einem zärtlichen Hauch.

Nun hörte Schlieben gar nichts mehr; kein Rauschen ihres Kleides, keinen Laut – aha, jetzt flüsterte sie wohl in ihn hinein?! Wie sie den Bengel verwöhnte!

Doch jetzt – ein leises Weinen! War das noch Wolfs etwas harte, trotzige Knabenstimme? Wirklich, er weinte jetzt laut, und unterm Schluchzen stieß er kläglich hervor, kaum, daß man's verstehen konnte: »Ich mußte ihn – aber doch erschießen – er ist doch der Gendarm!«

Und nun war alles wieder still. Schlieben nahm die Zeitung auf, die er vorhin weggeworfen hatte, und begann zu lesen. Aber er war nicht recht bei der Sache, hartnäckig wanderten seine Gedanken immer wieder ins Nebenzimmer. War der Bengel nun vernünftig, sah er seine Ungezogenheit ein? Und war Käte nicht gar zu schwach?! Es war nichts, gar nichts mehr zu hören. Oder doch – knarrte jetzt drinnen nicht die Tür? Nein, Täuschung, alles still!

Nachdem Schlieben noch eine Weile gewartet hatte, ging er hinüber. Da war es in der Tat sehr still, denn Käte war ganz allein. Sie saß am Fenster auf dem erhöhten Tritt, hatte die Hände in den Schoß gelegt und sann vor sich hin. Sie schien ganz abwesend.

»Wo ist der Junge?«

Erschrocken fuhr sie zusammen und hob wie abwehrend beide Hände.

Nun sah er, daß sie blaß war. Der Ärger mit dem Jungen hatte sie doch wohl sehr angegriffen – wart', das sollte er büßen, doppelt so viel Exempel rechnete er heute zur Strafe!

»Ist der Junge bei der Arbeit?«

Sie schüttelte den Kopf und errötete. »Nein!«

»Nein –?! Warum denn nicht?« Er sah sie sehr erstaunt an. »Habe ich ihm denn nicht gesagt: sofort an die Arbeit?!«

»Das hast du gesagt. Aber ich habe ihm gesagt: lauf! – Paul, sei nicht böse!« Sie sah, daß er auffahren wollte und legte beschwichtigend die Hand auf seinen Arm. »Wenn du mich lieb hast, laß ihn! Ach, Paul, glaube mir, glaube mir doch: er kann ja nicht dafür, er muß sich ausrennen, austoben, draußen sein – er muß!«

»Du hast immer Entschuldigungen! Denke doch nur an die Geschichte mit dem Tornister, aus seiner ersten Schulzeit – oben in die Kiefer hatte der Bengel den geworfen. Hätte nicht zufällig ein Arbeiter den Ranzen entdeckt und zu uns gebracht, weil er den Namen auf der Fibel las, hätten wir lange suchen können. Du hast es entschuldigt – nun, das war auch weiter nichts Schlimmes – ein Übermut – jetzt entschuldigst du aber ganz anderes! Und alles!« Der seiner Frau sonst so nachgiebige Mann erzürnte sich in seiner ernstlichen Besorgnis. »Ich bitte dich, Käte, sei nicht so unglaublich schwach mit dem Jungen! Wo soll das hin mit ihm?«

»Dahin!« Ernst zeigte sie auf ihn und sich. Und dann, mit einem Ausdruck tief-innerster Empfindung legte sie die Hand auf ihr Herz.

»Wieso? Ich verstehe dich nicht! Bitte, habe die Güte, dich etwas deutlicher auszudrücken, zum Rätselraten bin ich nicht gelaunt!«

»Wenn du's nicht errätst, wirst du's auch nicht verstehen, wenn ich dir es deutlicher sage!« Sie senkte den Kopf, und dann nahm sie wieder ihren früheren Platz ein; aber sie sann nicht mehr vor sich hin, sondern es schien ihm, als lausche sie mit geneigtem Ohr dem gellenden Triumphgeschrei, das hinterm Haus von dem wüsten Feld her bis übers Dach stieg.

»Du wirst nie mit dem Jungen fertig werden!«

»O, ich werde schon!«

»Natürlich, wenn du ihm allen Willen läßt!« Mit eiligem Schritt ging Schlieben aus dem Zimmer; der Unwille wollte ihn übermannen.

Vielleicht zum ersten Mal in seiner Ehe war Schlieben ernstlich böse auf seine Frau. Wie konnte Käte so unvernünftig sein?! Seinen Befehl so wenig beachten, als wäre der gar nicht gegeben – ja, sich in direkten Gegensatz zu ihm stellen?! O, der Bengel war schlau genug, der zog schon seine Schlüsse daraus! Und tat er's noch nicht, so fühlte er doch instinktiv, welchen Rückhalt er an der Mutter hatte. Es war geradezu unglaublich, wie schwach Käte war!

Die weiche, sensitive Art, die den Mann zuerst an seiner Frau entzückt hatte, die den gleichen Zauber für ihn behalten hatte alle die Jahre hindurch, dünkte ihn jetzt auf einmal übertrieben – kindisch. Ja, kindisch war diese Ängstlichtuerei, diese ewige Angst vor dem, was vorbei und vergessen war! Von der Mutter hatten sie doch nie mehr etwas gehört, warum deren Schatten denn bei jeder Gelegenheit wieder heraufbeschwören? Geburtsschein und Taufattest des Jungen hatte man doch sicher in Händen, und das Venn war weit – er würde es nie sehen – warum denn nur immer dies zitternde Bangen? Es lag gar kein Grund dazu vor. Sie lebten in so angenehmer Umgebung, Wolf wuchs in so geordneten Verhältnissen auf, besaß alles, was ein Kindergemüt ausfüllt und beglückt, daß es eine wahre Manie von Käte war, bei ihm eine Art von Heimatsehnsucht vorauszusetzen. Wie sollte er überhaupt dazu kommen? Er hatte ja gar keine Ahnung, daß hier eigentlich nicht seine Heimat war. Es war traurig mit Kätes Übersensibilität – wahrhaftig, die Frau konnte einen mit nervös machen!

Und Schlieben fuhr sich über die Stirn, wie um unliebsame Gedanken mit einer Handbewegung fortzuscheuchen. Er zündete sich eine Zigarre an; heute eine extra feine, die er sonst seinen Gästen überließ, er hatte das Gefühl, sich über eine unangenehme Stunde forthelfen zu sollen. Denn unangenehm, wirklich unangenehm und schwierig blieb die Sache doch, wenn er auch hoffte, schon auf die richtige Lösung der Frage zu kommen: wie erzieht man solch ein Kind? Jedenfalls nicht so, wie Käte es tat! Das war ihm schon jetzt klar.

Blaue Rauchkringel in die Luft blasend, saß Schlieben in der Sofaecke seines Arbeitszimmers. Seine Stirn blieb gerunzelt. Da war er heute recht abgespannt aus dem Kontor gekommen, hatte allerlei Verwicklungen gehabt – Ärger genug – hatte eilige Briefe diktieren müssen, sich keine Pause gegönnt, und hatte nun zu Hause ein angenehmes Ausruhen erhofft – vergebens! Merkwürdig, wie ein einziges Kind den ganzen Haushalt, das ganze Leben verändert! Wenn der Junge nun nicht da wäre – – –?! Ja, dann hätte er jetzt eine friedliche kleine Mittagsruhe – ausgestreckt auf dem Diwan, die Zeitung vorm Gesicht – hinter sich und ginge nun zu Käte hinüber, um bei ihr in höchst gemütlichem Tête-à-tête den Kaffee zu trinken, den sie mit so viel Anmut in der summenden Wiener Maschine selber bereitete. Er hatte immer so gern still zugesehen, wie ihre schlanken, gepflegten Hände sich geräuschlos dabei bewegten. Schade!

Er seufzte. Aber dann bezwang er sich: nein, einer augenblicklichen Verdrießlichkeit wegen durfte man ihn nicht wegwünschen! Wie viel frohe Stunden hatte ihnen das kleine Wölfchen doch bereitet! Es war reizend gewesen, seine ersten Schritte zu beobachten, seine ersten zusammenhängenden Worte zu belauschen. Und war nicht Käte in seinem Besitz so glücklich – oho, wer sagte da: glücklich gewesen?! – sie war es ja noch! Es ging ihr nichts über den Jungen. Und daß der Stunden des ungetrübten Beglücktseins durch ihn jetzt nicht mehr ganz so viele waren als vormals, das war ja nur natürlich. Er war eben nicht mehr das Bübchen, das dort, dort drüben aus jener Ecke, bis hierher zum Sofa den ersten kühnen Lauf gewagt und, jauchzend über den eignen Wagemut, des Vaters Bein umklammert hatte. Er fing jetzt an, ein selbständiger Mensch zu werden, einer mit eignen Wünschen, nicht mehr mit solchen, die in ihn hineingetragen worden waren; ureigne Willensäußerungen gaben sich kund. Jetzt wollte er dies und wollte jenes und nicht nur mehr das, was die Erzieher wollten. War das aber nicht natürlich? Überhaupt, wenn ein Kind erst in die Schule geht, was stellt sich da nicht alles ein?! Man mußte Nachsicht haben, wenn man sich nicht auch gleich die ganze Lebensführung beeinflussen lassen wollte – erst die Eltern, dann das Kind!

Schlieben fühlte, wie er sich nach und nach beruhigte. Ein Junge – welche Unsumme von Wildheit, Rüpligkeit, Ungebundenheit, ja Ungebärdigkeit ist nicht in dem Wort mit einbegriffen! Und alle, alle, die jetzt Männer waren, waren einst doch auch Jungen!

Die Zigarre ging ihm aus; er hatte vergessen, daran zu ziehen. Mit einem eigentümlich milden Gefühl, das nicht frei von einer leisen Sehnsucht war, gedachte Schlieben der eignen Knabenzeit. Nur ehrlich: hatte er nicht auch getobt und gelärmt, sich beschmutzt, erhitzt und Hosen zerrissen und dumme Streiche gemacht, mehr als genug?!

Wunderbar, wie genau er sich jetzt auf einmal einzelner Strafpredigten erinnerte und der Tränen, die er der Mutter ausgepreßt hatte; auch noch sehr deutlich der Tracht Prügel, die er einmal für eine Lüge erhalten hatte. Sein Vater hatte dazumal gesagt – plötzlich war's ihm, als hörte er die Stimme, die sonst gar nicht sonderlich feierlich, sondern recht alltäglich geklungen hatte, jetzt aber durch den Ernst geadelt wurde, hier in der Stube widerhallen –: ›Junge, alles kann ich dir verzeihen, nur das Lügen nicht!‹ Ah, es war damals recht unerquicklich gewesen in dem engen Kontor, wo der Vater am hölzernen Stehpult lehnte und den Stock auf dem Rücken hielt. Das Käppchen, das er seiner Glatze wegen trug, hatte er in der Erregung schief geschoben, seine blauen freundlichen Augen blickten scharfspähend und zugleich betrübt.

›Alles kann man verzeihen, nur das Lügen nicht‹ – ei, hatte der Junge, der Wolfgang, denn gelogen?! Bewahre! Einfach ungezogen war er gewesen, wie es auch die besten Kinder einmal sind!

Schlieben fühlte eine Beschämung: und er, er wollte dem Jungen diese einfache Ungezogenheit so übel nehmen?!

Er stand vom Sofa auf, stieß den Rest seiner Zigarre in den Aschenbecher und ging hinaus, um sich nach Wolfgang umzusehen.

Er traf die vier im vollen Glück des Spiels. Sie hatten sich ein Feuerchen angezündet auf dem unbebauten Land dicht hinterm Gartengitter, so daß die überhängenden Büsche des Gartens sie wie ein Dach beschützten.

Eng hockten sie zusammen; sie waren jetzt im Lager. Frida hielt Kartoffeln in der Schürze, die in der Asche gebraten werden sollten; aber das Feuerchen wollte nicht brennen, das Reisig schwelte nur. Wolfgang lag bäuchlings auf der Erde und blies, auf die Ellenbogen gestützt, mit aller Kraft seiner Lungen. Aber die reichte doch nicht aus, das Feuer wollte und wollte nicht brennen.

Leise war Schlieben herangekommen, in ihrem Eifer hatten die Kinder ihn gar nicht bemerkt. »Will's nicht brennen?« fragte er.

In einem heftigen Emporschnellen war Wolfgang sofort auf den Füßen. Er war rot und frisch gewesen, nun wurde er blaß, sein offener Blick senkte sich scheu, ein trübseliger Ausdruck verlängerte sein rundes Kindergesicht und ließ ihn älter erscheinen.

»Muß ich 'reinkommen?« Es klang kläglich.

Schlieben überhörte die Frage mit Absicht; er hatte ihn eigentlich hereinholen wollen, aber nun zögerte er plötzlich zu sagen: ja. Es war doch hart für den Jungen, nun fortzumüssen, ehe das Feuerchen brannte, ehe die Kartoffeln gebraten waren! So sagte er nichts, sondern bückte sich, und als er doch noch nicht tief genug herabkam, kniete er nieder und blies mit dem vollen Odem seiner breiten Brust in das schwach-knisternde Gezweig. Sofort sprühten Funken, und ein aufzüngelndes Flämmchen wurde rasch zur Flamme.

Ein Jauchzen stieg auf. Frida hüpfte im Kreis, ihre Zöpfe flogen: »Et brennt, et brennt!« In ihren Jubel stimmten Artur und Hans mit ein; auch sie hüpften von einem Fuß auf den andern, klatschten in die beschmutzten Hände und schrieen gellend: »Et brennt, et brennt!«

»Kinder, Ruhe!« Schlieben war amüsiert durch diese Seligkeit. Er kommandierte: »Reisig her, aber recht trockenes,« selber von einem Eifer erfaßt, diese noch unsichere, bald sich duckende, bald hoch aufflackernde Flamme zu erhalten. Er blies und stocherte und feuerte nach; der Wind trieb ihm den Rauch ins Gesicht, daß er husten mußte, aber er wischte sich die tränenden Augen und hatte auch nicht acht, daß sein Beinkleid vom Knieen auf dem Grund grünlich-nasse Flecke bekam und etwaige Vorübergehende sich sehr wundern würden, Henn Paul Schlieben bei solcher Beschäftigung zu sehen. Es machte ihm jetzt selber Spaß, unterm blaßblauen Herbsthimmel, an dem die weißen Wolken flogen und die Schwalben zwitschernd dahinschossen, ein Kartoffelfeuerchen zu unterhalten. Er hatte so etwas nie gekannt – war er doch ein Stadtkind – aber es war schön, wirklich schön!

Die Kinder trugen Reisig zu, Wolfgang nahm's und brach es überm Knie – knack – die Stecken sprangen wie Glas. Wie der Junge das im Griff hatte!

Hoch loderte die Flamme, eine behagliche Wärme strömte vom Feuerchen aus: da mußte man sich die Hände dran wärmen können – wahrhaftig, es tat gut!

Und dann folgte des Mannes Auge dem Rauch, den der Wind vom Acker aufhob, einem leichten Wölkchen gleich. Grau erschien erst das Wölkchen, doch je höher es flog, desto lichter wurde es, freundlicher Sonnenschein durchschimmerte es verklärend. Es schwebte hinauf, immer hinauf, immer körperloser, ungreifbarer, bis es ganz verflog – ein Ahnen, ein Hauch.

Es war nun an der Zeit, die Kartoffeln einzubuddeln; Wolfgang war geschäftig dabei. Man hatte nicht mehr geschürt, die Flamme war zusammengesunken, aber die Asche barg die ganze Glut. Mit großen Augen standen die Kinder herum, ganz still, fast den Atem anhaltend, und doch zitternd vor Erwartung: wann würde die erste Kartoffel gar sein?! Ah, roch es nicht schon so gut?! Witternd blähten sie die Näschen. Aber Schlieben klopfte jetzt seine Beinkleider ab und schickte sich zum Gehen an – es würde doch zu lange dauern, bis die Kartoffeln fertig waren! Fast empfand er etwas wie Bedauern. Aber es ging wirklich nicht, daß er noch länger hier umherstand, was sollten die Leute eigentlich von ihm denken?!

Schlieben hatte sich jetzt selber wiedergefunden. »Genug jetzt,« sagte er, und dann ging er, sorgsam die aufgebuddelten, unwegsamen Stellen des Feldes vermeidend. Da hörte er Tritte dicht hinter sich. Er drehte sich um: »Wolf?! Nun, was willst du?«

Die dunklen Augen des Knaben sahen ihn traurig an.

»Gehst du auch nach Hause?« Ein Erstaunen lag in Schliebens Frage – er hatte doch gar nicht gesagt, daß der Junge mitkommen sollte?!

Ein herrlicher Duft kam von den Kiefern her, die Luft atmete sich so frei, so leicht, und dieser blaßblaue Himmel mit den gewischten weißen Wolken, hatte etwas so ungemein Klares, den Blick Erhellendes. Weiße Fäden flogen über Land, vom reinen Ost getrieben, hingen sich an grünbenadelte Äste und schimmerten da wie Elfengespinst. Und die Sonne war noch angenehm warm, ohne zu brennen, und ein kräftigender, bitterlich-herber Geruch strömte von den goldfarbenen Blättern der Büsche, die die Rückseiten der Gärten abschlossen.

Der Mann holte tief Atem; ihm war, als sei er plötzlich um zehn, um zwanzig – nein, um dreißig Jahre jünger. Um mehr noch!

»Na, lauf nur,« sagte er.

Der Knabe sah ihn an, als habe er ihn nicht recht verstanden.

»Lauf,« sagte er noch einmal kurz und bündig und lächelte dabei.

Da stieß der Junge einen Schrei aus, einen so gellendjauchzenden Schrei, daß die Kameraden, die auf den Hacken ums Kartoffelfeuerchen kauerten, sofort mit einstimmten, ohne zu wissen warum.

Im dunklen Auge des Knaben, der die Freiheit liebte, die freie Luft, den freien Lauf, flammte es auf. Er sagte es nicht, daß er beglückt war, aber er schöpfte so tief Atem, als fiele ihm eine Last von der Brust. Und Schlieben sah auf dem Gesicht, das jetzt anfing sich zu vergröbern, die weiche Rundung der Kindlichkeit im Mager-Jungenhaften zu verlieren, einen Zug, der es fein und schön machte.

Blitzschnell, wie aus straffem Bogen geschnellt, flog Wolfgang zurück übers Feld.

Schlieben ging in seinen Garten zurück; vorsichtig, damit sie nicht knarrte, öffnete er die Gittertür und schloß sie ebenso leise wieder – Käte brauchte es nicht zu wissen, wo er gewesen war! Aber da stand sie schon am Fenster.

Es war etwas rührend Ratloses in ihrer Haltung, ein bängliches Forschen in ihrem Blick – nein, sie brauchte ihn so nicht anzusehen, er war ihr nicht böse!

Und er nickte ihr zu.

Als das Hausmädchen fragte, ob der Herr nicht wisse, wo der Junge sei, schon dreimal habe sie nun die Milch warm machen lassen und auf- und abgetragen, sagte er fast kleinlaut, mit einer Entschuldigung im Ton: »Na, das ist ja nicht so schlimm, Lisbeth! Wärmen Sie sie nachher zum vierten Mal – es ist ihm so gesund draußen!«


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