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Auf sein Zimmer zurückgekehrt, lag er wohl zwei Stunden lang unbeweglich auf seinem Bett; dann begab er sich zum Kompagniechef und bat um seine Versetzung nach der ständigen Garnison des Truppenteils. Er nahm von niemand Abschied, ließ Wanjuscha mit den Wirtsleuten abrechnen und machte sich zur Abreise nach der Festung, in der das Regiment lag, fertig. Nur Onkel Jeroschka erschien, um ihm Lebewohl zu sagen. Sie tranken, tranken nochmals und abermals. Ganz so wie damals, bei seiner Abreise aus Moskau, stand der mit drei Pferden bespannte Postwagen vor der Haustür. Doch Olenin hielt nicht mehr, wie damals, Abrechnung mit sich selbst, und sagte sich auch nicht, daß alles, was er hier gedacht und getan hatte, nicht das Rechte gewesen sei. Er versprach sich kein neues Leben mehr. Er liebte Marianka mehr denn je und wußte jetzt, daß sie ihn nie wiederlieben konnte.
»So leb' denn wohl, mein Vater,« sprach Onkel Jeroschka zu ihm. »Und mußt du einmal mit ins Feld, dann sei klug, denk' an das, was ich alter Mann dir jetzt sage. Bist du bei einem Überfall oder sonstwo dabei – ich bin ja ein alter Wolf und habe alles mit angesehen – wird irgendwo geschossen, dann halt' dich nicht zum großen Haufen, wo die vielen sind! Wenn ihr nämlich Angst kriegt, drängt ihr immer zum Haufen hin, weil ihr meint, da sei man besser aufgehoben. In Wirklichkeit ist es da weit schlimmer: auf den Haufen wird nämlich gezielt. Ich habe mich immer so weit wie möglich von den andern ferngehalten, bin auf eigne Faust losgegangen, und nicht ein einziges Mal hab' ich was abbekommen! Und was hab' ich dabei nicht alles erlebt und gesehen!«
»Du hast aber doch eine Kugel im Rücken sitzen,« sagte Wanjuscha, der im Zimmer mit dem Einpacken beschäftigt war.
»Ach, da haben die Kosaken Unsinn gemacht,« antwortete Jeroschka.
»Die Kosaken? Wieso denn?« fragte Olenin.
»Na, so! Wir zechten einmal, und da war auch Wanjka Ssitkin dabei, ein Kosak, der hatte schon schwer getrunken, und wie er losknallte, traf er mich mit der Pistole gerade hier an dieser Stelle.«
»Hat es dir wehgetan?« fragte Olenin weiter, und zu Wanjuscha gewandt, fügte er hinzu: »Bist du bald fertig?«
»Ach, warum eilst du denn so? Laß mich doch erst erzählen! ... Wie er also auf mich losknallt, prallt die Kugel vom Knochen ab und bleibt hier sitzen. Ich sage zu ihm: ›Du hast mich ja angeschossen, alter Freund! Was fällt dir denn ein? Das laß ich dir so nicht hingehen! Mußt einen Eimer Wein zum besten geben!‹«
»Hat es denn wehgetan?« fragte Olenin, der kaum auf die Erzählung geachtet hatte, abermals.
»So laß mich doch zu Ende erzählen. Er gab also seinen Eimer zum besten, und wir tranken ihn aus. Das Blut aber floß in einem fort. Die ganze Stube blutete ich voll. Großvater Burlak meinte: ›Der Junge stirbt uns ja weg! Gib noch ein Maß Süßen zum besten, sonst bringen wir dich vors Gericht!‹ Der Süße wurde gebracht, na, und da pichelten wir, pichelten wir ...«
»So sag' doch endlich: hat's dir wehgetan?« fragte Olenin von neuem.
»Ach was, wehgetan! Unterbrich mich nicht, ich liebe das nicht. Laß mich zu Ende erzählen. Wir pichelten und pichelten, bis zum hellen Morgen dauerte das Zechgelage, und dann schlief ich, ganz betrunken, auf dem Ofen ein. Wie ich am Morgen erwachte, konnte ich mich nicht geradestrecken.«
»Es tat wohl sehr weh?« wiederholte Olenin seine Frage, auf die er jetzt endlich Antwort zu erhalten hoffte.
»Sag' ich denn, daß es wehgetan hat? Wehgetan hat es nicht, aber geradestrecken konnt' ich mich nicht, am Gehen hat's mich gehindert.«
»Es ist doch aber zugeheilt?« fragte Olenin. Er lachte nicht einmal bei dieser Frage, so schwer war ihm ums Herz.
»Ja, zugeheilt ist es schon, aber die Kugel sitzt immer noch drin. Fass' einmal hin!« Und er schlug sein Hemd zurück und zeigte den kräftigen Rücken, auf dem dicht neben dem Rückgrat eine Kugel sich hin und her schieben ließ.
»Siehst du, wie sie hin und her rollt?« sagte er; er hatte offenbar seine Freude an der Kugel, wie an einem Spielzeug. »Siehst du, jetzt hat sie sich nach hinten verschoben!«
»Was meinst du, wird Lukaschka am Leben bleiben?« fragte Olenin.
»Gott mag's wissen! Es ist noch kein Dokter da, man hat erst einen geholt.«
»Woher? Aus Grosnaja?« fragte Olenin.
»Nein, mein Vater, eure russischen Dokters hätte ich längst an den Galgen hängen lassen, wenn ich der Zar wäre. Die verstehen nur zu schneiden. Auch unsern Kosaken Baklaschew haben sie zum Krüppel gemacht, haben ihm das Bein abgeschnitten. Dummköpfe sind's! Wozu taugt jetzt der ganze Baklaschew? Nein, mein Vater – aber im Gebirge, da gibt es richtige Dokters. Wie mein Freund Wortschik auf einem Streifzuge gerade in die Brust, hier an der Stelle, einen Schuß bekam, da wußten eure Dokters nichts mit ihm anzufangen. Ein gewisser Sahib aber, der aus den Bergen herkam – der hat ihn kuriert. Sie verstehen sich nämlich auf die Kräuter, mein Vater.«
»Rede keinen Unsinn,« sagte Olenin. »Ich will ihm lieber einen Arzt aus der Garnison schicken.«
»Unsinn?!« wiederholte der Alte, Olenin nachäffend. »Du Narr! Du Narr! Unsinn nennt er das! Einen Arzt will er schicken! Wenn eure Ärzte sich aufs Heilen verständen, dann würden doch die Kosaken und Tschetschenzen zu euch kommen, um sich heilen zu lassen – so aber verschreiben sich eure Offiziere, ja sogar die Obersten Dokters aus den Bergen. Bei euch ist alles Schwindel, nichts als Schwindel.«
Olenin gab ihm keine Antwort. Er pflichtete dem Alten darin vollkommen bei, daß in der Welt, in der er früher gelebt, und in die er jetzt wieder zurückkehrte, alles Schwindel war.
»Wie geht's also mit Lukaschka? Hast du ihn besucht?« fragte er.
»Er liegt wie tot da. Er ißt nicht, er trinkt nicht, nur Branntwein nimmt seine Seele noch an. Branntwein trinkt er, nichts weiter. Schade um den Jungen. Er war ein wackerer Bursche, ein Dschigit, wie ich. Auch ich lag einmal so auf den Tod. Die alten Weiber weinten und heulten schon. Ich hatte eine wahre Glut im Kopfe. Sie hatten mich unter die Heiligenbilder gelegt, und da lag ich denn, und über mir, auf dem Ofen, so kam's mir vor, waren lauter solche kleine Trommler, die in einem fort den Zapfenstreich schlugen. Schrie ich sie an, so schlugen sie noch toller drauf los.« Der Alte lachte. »Die Weiber holten schon den Vorsänger zu mir, sie wollten mich begraben und meinten: er hat weltlich gelebt, hat sich mit Weibern abgegeben, hat Menschen getötet, am Fasttage Fleisch gegessen und auf der Balalaika gespielt. ›Tu Buße!‹ sagten sie. Und da tat ich denn Buße. ›Ich bin ein Sünder,‹ sagte ich. Was auch der Pope sagen mochte, ich wiederholte immer nur: ›Ich bin ein Sünder.‹ Er fragte mich nach der Balalaika: ›Wo hast du das verfluchte Ding?‹ sagte er – ›heraus damit, daß ich sie zerschlage!‹ Und ich sagte zu ihm: ›Ich habe keine Balalaika.‹ Ich hatte sie aber in der Milchkammer versteckt, unter einem Netz; ich wußte, daß sie dort nicht leicht jemand finden würde. Da ließen sie mich denn in Ruhe. Wie ich dann aber wieder gesund wurde – ei, wie habe ich da lustig auf meiner Balalaika gespielt! ... Ja, was sagte ich also?« fuhr er fort. »Merk' dir, was ich dir sagte: halt' dich fern vom großen Haufen, sonst geht's dir ans Fell! Du tätest mir wirklich leid – du bist ein wackrer Zecher, ich liebe dich. Deine Landsleute haben auch noch die Gewohnheit, immer auf die Hügel zu reiten. So lebte hier einmal einer bei uns, der aus Rußland gekommen war – der ritt auch immer auf die Hügel hinauf. Sobald er einen noch so kleinen Hügel sah, sprengte er auch gleich drauf los. So galoppierte er auch einmal drauf los, ritt hinauf und war ganz vergnügt. Da legte ein Tschetschenze auf ihn an und schoß ihn tot. Von ihren Stützgabeln schießen die Tschetschenzen ganz ausgezeichnet! Es gibt welche darunter, die besser schießen als ich. Ich mag's nicht leiden, daß sich jemand auf so törichte Art totschießen läßt. Wenn ich mir so manchmal eure Soldaten ansehe, kann ich mich nur wundern über ihre Dummheit: da gehen nun die armen Jungen immer alle in einem Haufen vor und nähen sich obendrein noch rote Kragen an. Wie soll man sie da nicht treffen? Ist einer getroffen und hingestürzt, so schleppen sie ihn auf die Seite, und ein andrer tritt an seine Stelle. Wie dumm!« wiederholte der Alte kopfschüttelnd. »Nach den Seiten sollten sie sich zerstreuen und einzeln vorgehen! So mach's, wenn du es ehrlich mit dir meinst – dann bemerkt dich keiner. So mußt du es machen!«
»Ich danke dir für den guten Rat. Leb' nun wohl, Onkel! So Gott will, sehen wir uns wieder,« sagte Olenin, erhob sich und ging nach dem Flur.
Der Alte saß auf dem Fußboden und rührte sich nicht.
»Nimmt man denn auf solche Art Abschied? Du Narr, du Narr!« sagte er. »Ach, sind das heutzutage Menschen! Da haben wir nun gute Kameradschaft gehalten, wohl ein ganzes Jahr lang, und nun heißt es: ›Leb' wohl,‹ und weg ist er! Ich liebe dich ja, ich habe soviel Mitgefühl für dich! Du bist so verbittert, immer allein, immer allein. So menschenscheu bist du! Wenn ich manchmal so schlaflos daliege, muß ich an dich denken, und da tust du mir so leid. Wie es im Liede heißt:
›Bitter lebt sich's, Bruder mein,
In der Fremde so allein!‹
So geht's auch dir!«
»Nun, so leb' denn wohl,« sagte Olenin nochmals.
Der Alte erhob sich und reichte ihm die Hand; er drückte sie und wollte gehen.
»Den Schnabel, den Schnabel her!« sagte Onkel Jeroschka.
Er faßte Olenin mit seinen beiden dicken Händen am Kopfe, drückte dreimal die bärtigen, noch vom Wein duftenden Lippen auf seinen Mund und brach in Tränen aus.
»Ich habe dich lieb, leb' wohl!«
Olenin setzte sich in den Wagen.
»Was, so willst du also wegfahren? Schenk' mir wenigstens etwas zum Andenken, mein Vater! Eine Flinte schenk' mir! Wozu brauchst du zwei?« sprach der Alte schluchzend, und aufrichtige Tränen rollten über seine Backen.
Olenin nahm die Flinte und reichte sie ihm.
»Was haben Sie diesem alten Kerl schon alles geschenkt!« brummte Wanjuscha. »Immer noch ist's ihm zu wenig! Ein richtiger alter Bettler! Überhaupt ein zudringliches Volk!« sagte er, während er sich in seinen Mantel hüllte und auf dem Vordersitz Platz nahm.
»Halt's Maul, dummer Hund!« rief der Alte lachend. »Bist doch nur neidisch!«
Marianka kam aus der Vorratskammer, warf einen gleichgültigen Blick auf das Dreigespann, verneigte sich zum Gruße und ging ins Haus.
»La fille!« sagte Wanjuscha, mit den Augen blinzelnd, und lachte albern.
»Vorwärts!« rief Olenin ärgerlich.
»Leb' wohl, Vater! Leb' wohl, ich werde an dich denken!« rief Jeroschka.
Olenin schaute sich um: Onkel Jeroschka unterhielt sich mit Marianka, offenbar über seine eigenen Angelegenheiten, und weder der Alte noch das Mädchen sahen nach ihm hin.