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Olenin ging in der Tat, als Marianka durch die Hoftür eintrat, im Hofe auf und ab und hörte noch, wie sie ihn »Teufel« nannte. Er hatte diesen ganzen Abend mit Onkel Jeroschka auf der Freitreppe seines neuen Quartiers zugebracht. Er hatte den Tisch, den Samowar, den Wein und eine brennende Kerze herausbringen lassen und bei einem Glase Tee und einer Zigarre die Erzählungen des Alten angehört, der zu seinen Füßen auf einer Treppenstufe Platz genommen hatte. Obschon die Luft ruhig war, tropfte das Licht doch, und die Flamme schwankte bald dahin, bald dorthin, daß ihr Schein abwechselnd auf den Treppenpfosten, den Tisch mit dem Geschirr oder den weißen, geschorenen Kopf des Alten fiel. Nachtfalter flatterten umher und stießen, den Staub ihrer Flügel verstreuend, an den Tisch und die Gläser an, flogen in die Flamme der Kerze und verschwanden wieder in dem schwarzen Luftmeer, das den Lichtkreis der Kerze umgab. Olenin und Jeroschka hatten zu zweien fünf Flaschen Wein geleert. Jeroschka reichte, wenn er die Gläser füllte, jedesmal Olenin das seinige hin und stieß mit ihm auf sein Wohl an, um dann wieder weiter zu erzählen. Er erzählte von dem Leben der Kosaken in der alten Zeit, von seinem eigenen Vater, der auf großem Fuße gelebt habe und so stark gewesen sei, daß er einen erlegten Eber im Gewichte von zehn Pud allein auf dem Rücken davongetragen und in einer Sitzung zwei Eimer Wein ausgetrunken habe. Er erzählte auch von seiner eigenen Glanzzeit und seinem Freunde Girtschik, mit dem er zur Pestzeit Filzmäntel von jenseits des Terek herübergeholt habe. Er erzählte von einer Jagd, bei der an einem einzigen Morgen zwei Hirsche von seiner Büchse gefallen wären. Er erzählte von seinem »Seelchen«, das ihm des Nachts ins Wachthaus nachgelaufen sei. Und alles dies erzählte er so anziehend und anschaulich, daß Olenin nicht merkte, wie die Zeit verging.
»Ja, ja, mein Vater,« sagte er, »du hast mich in meiner goldenen Zeit nicht gekannt, da hätte ich dir was zeigen können! Jetzt spotten sie, Jeroschka habe am Kruge geleckt – damals aber war Jeroschka im ganzen Regiment berühmt! Wer hatte das beste Pferd, wer einen Gurda-Säbel, zu wem mußte man gehen, wenn man lustig zechen und schmausen wollte? Wen mußte man ins Gebirge schicken, um Achmet-Chan zu töten? Immer wieder Jeroschka! Wen haben die Mädchen geliebt? Immer hat Jeroschka seinen Mann gestanden. Weil ich eben ein echter Dschigit war! Ein Zechbruder, ein Spitzbube, der ganze Pferdeherden in den Bergen wegtrieb, ein Liedersänger ... kurz, ein Kerl, der mit allen Hunden gehetzt war. Heutzutage gibt es solche Kosaken nicht mehr. Man ekelt sich, wenn man solch einen Burschen heute sieht. Stiefel zieht er sich an, so hoch« – Jeroschka hielt seine Hand wohl eine Elle hoch über der Erde – »läppische Stutzerstiefel, und die beguckt er sich dann, das ist seine ganze Freude. Auch betrinken tut er sich wohl mal, aber nicht wie ein vernünftiger Mensch, sondern nur so ein ganz klein wenig. Ich dagegen – was war ich für ein Kerl! Ich war Jeroschka der Dieb; mich kannte man nicht nur in den Dörfern unten, sondern auch oben in den Bergen. Fürsten hatte ich zu Freunden, die fuhren bei mir vor. Mit allen stand ich auf bestem Fuße: ob Tatar oder Armenier, ob Soldat oder Offizier, alles war mir gleich, wenn einer nur richtig zechen konnte. Zwar heißt es, man solle sich rein halten vom Verkehr mit dieser Welt, solle nicht trinken mit einem Soldaten, nicht essen mit einem Tataren ...«
»Wer sagt das?« fragte Olenin.
»Die Seelsorger unserer Gemeinden sagen es. Hör' nur erst mal, wie ein Mullah oder ein tatarischer Kadi spricht! Der sagt: ›Ihr ungläubigen Giaurs, warum eßt ihr Schweinefleisch?‹ Ein jeder hat eben sein besonderes Gesetz. Nach meiner Meinung aber ist alles gleich. Alles hat Gott zur Freude des Menschen geschaffen. Es gibt keine Sünde. Nimm dir ein Beispiel am Wild! Das wohnt im tatarischen Schilf so gut wie in unserem. Wohin es kommt, dort ist es zu Hause. Was Gott gibt, das frißt es. Und unsere Leute sagen, wir würden dafür in der Hölle glühende Pfannen lecken müssen. Ich meine, das ist alles Schwindel,« fügte er nach kurzem Schweigen hinzu.
»Was ist Schwindel?« fragte Olenin.
»Na, was die Seelsorger sagen. Bei uns in Tscherwlenaja, mein Vater, hatten wir einen Major, der war mein guter Freund. Ein prächtiger Mensch war er, ganz so wie ich. Er fiel im Kampfe mit den Tschetschenzen. Der sagte nun, daß die Seelsorger sich das alles aus den Fingern saugen. Man verreckt, sagte er, und dann wächst Gras auf dem Grabhügel, das ist alles.« Der Alte lachte. »Ja, das war ein ganz verfluchter Kerl, der Major!«
»Wie alt bist du denn, Väterchen?« fragte ihn Olenin.
»Das mag Gott wissen! So um die siebzig herum. Wie ihr noch eine Kaiserin hattet, war ich schon ein ganz strammer Junge. Rechne es doch nach, wie viel's ist. So an die siebzig Jährchen werden es sein.«
»Das wird stimmen. Aber du bist noch immer recht rüstig!«
»Ja, Gott sei's gedankt, ich bin gesund, kerngesund; nur meine Frau, die Hexe – die hat mir arg zugesetzt ...«
»Wieso denn?«
»Na, eben – so ...«
»Und du meinst, wenn du stirbst, wächst Gras auf dem Grabhügel, und alles ist aus?« wiederholte Olenin.
Jeroschka wollte sich über diesen Punkt nicht allzu deutlich aussprechen. Er schwieg ein Weilchen.
»Ja, wie denkst du denn darüber? ... Ach was, trinken wir lieber!« rief er lächelnd und reichte Olenin das gefüllte Glas hin.