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»Wovon sprach ich also?« fuhr er fort, während er sich zu besinnen suchte. »Ja, siehst du, solch ein Kerl bin ich! Ich bin eben ein Jägersmann. Im ganzen Regiment gibt's keinen solchen Jäger wie ich. Ich finde dir jedes Wild, jeden Vogel und zeige sie dir. Wo etwas ist, und was es ist, alles weiß ich. Ich hab' auch Hunde, und zwei Flinten hab' ich, und Netze, und einen Jagdschild, einen Habicht; alles hab' ich, Gott sei Dank. Wenn du ein richtiger Jäger bist und nicht nur prahlst, will ich dir alles zeigen. Solch ein Kerl bin ich! Seh' ich eine Fährte, dann weiß ich sofort, welches Tier es ist; ich weiß, wo es sein Lager hat, und wohin es geht, um zu trinken oder sich zu wälzen. Ich mache mir meinen Sitz zurecht und geh' auf den Anstand, die ganze Nacht bleib' ich da, was soll ich zu Hause sitzen! Da sündigt man nur und trinkt sich voll. Dann fangen die Weiber an, man zankt und streitet, und die Kinder schreien; ganz verrückt wird man davon. Wie ganz anders ist's, wenn man so in der Abenddämmerung hinausgeht, sich ein Plätzchen sucht, das Schilf niedertritt, sich setzt und nun dasitzt und wartet. Ja, so macht es ein tüchtiger Kerl! Und alles weiß man, was im Walde vorgeht. Man schaut zum Himmel auf, da ziehen die Sternlein dahin; man guckt hinauf und rechnet, wie weit es noch bis zum Morgengrauen hin ist. Dann schaut man in die Runde – der Wald rauscht, jeden Augenblick erwartet man, daß es im Gebüsch knackt, daß der Eber kommt, um sich im Schlamm zu wälzen. Man hört, wie die jungen Adler schreien, wie die Hähne im Dorfe einander zurufen und die Gänse schnattern. Hört man die Gänse noch, so weiß man: es ist noch vor Mitternacht. Alles das weiß man, siehst du. Und wenn irgendwo in der Ferne ein Schuß fällt, denkt man gleich: wer hat denn da geschossen? Vielleicht hat ein Kosak, ebenso wie ich, auf Schwarzwild gelauert – hat er gut getroffen, oder hat er's nur angeschossen, daß das arme Tier nun geängstigt durchs Schilf läuft und seinen Weg mit Blut färbt? Das mag ich gar nicht, nein, gar nicht! Warum hat er's erst angeschossen, dieser Dummkopf? Oder man denkt im Stillen: ›Vielleicht hat ein Abreke irgendeinen dummen Kosaken erschossen?‹ Alles das geht einem im Kopfe herum. Einmal sitz' ich am Flusse und sehe: eine Wiege kommt dahergeschwommen. Ganz unversehrt ist sie, nur der Rand ist abgebrochen. Gleich kamen mir da so meine Gedanken: ›Wem mag die Wiege gehören? Gewiß sind, denk' ich, eure Teufelskerle von Soldaten in einen Aul gekommen, haben die Tschetschenzenweiber mitgenommen, irgendein Satan hat das Kindchen getötet, hat es beim Beinchen gepackt und gegen eine Kante geschmettert.‹ Machen sie es vielleicht anders? Ach, die Menschen haben ja kein Herz! Solche Gedanken kamen mir, und es wurde mir ganz weich zumute. Ich dachte: ›Die Wiege haben sie ins Wasser geworfen, und das Weib mit fortgetrieben, und das Haus niedergebrannt – er aber, der Dschigit, hat sein Gewehr genommen und ist hierher, auf unsere Seite gekommen, um zu plündern.‹ Man sitzt eben da und geht seinen Gedanken nach. Auf einmal aber hört man, wie die Tiere durchs Dickicht brechen, dann beginnt es gar mächtig in einem zu pochen. So kommt doch, ihr lieben Schweinchen, immer kommt näher! Sie wittern etwas, sagt man sich; man sitzt da und rührt sich nicht, nur das Herz macht: puck! puck! puck! – und es reißt einen förmlich in die Höhe. Neulich, im Frühjahr, kam auch solch ein Rudel Schwarzwild auf mich zu. ›Im Namen des Vaters, und des Sohnes‹ ... schon wollte ich schießen. Da schnaubt die alte Sau ihre Ferkel an: ›Weh uns, meine Kinderchen, da sitzt ein Mensch!‹ ruft sie, und sie stürzen alle miteinander durchs knackende Gebüsch davon. Mit den Zähnen hätt' ich sie am liebsten festgehalten.«
»Wie hat denn die Sau es den Ferkeln gesagt, daß da ein Mensch sitzt?« fragte Olenin.
»Na, was denkst du dir denn? Meinst du vielleicht, das Wild sei dumm? Nein, es ist klüger als der Mensch, wenn es auch heißt: ›eine Sau‹. Es weiß alles. Wenn zum Beispiel der Mensch über seine Spur wegschreitet, merkt er's gar nicht, sobald aber die Sau auf deine Spur stößt, schnaubt sie sogleich los und reißt aus; sie muß also doch Verstand haben, wenn sie deinen Geruch wittert, den du selber nicht spürst. Und dann bedenk auch noch eins: du willst sie töten, und sie will lebendig im Walde umherlaufen. Dein Gesetz lautet so, und ihr Gesetz so. Sie ist zwar ein Schwein, aber darum ist sie doch nicht schlechter als du, ist eben, so gut wie du, Gottes Geschöpf. Ach, wie töricht ist doch der Mensch! Wie töricht, wie töricht ...« wiederholte der Alte mehrmals, ließ den Kopf sinken und versank in stilles Sinnen.
Auch Olenin ging seinen Gedanken nach – er stieg die Treppe hinab und begann, die Hände auf dem Rücken, schweigend im Hofe auf und ab zu schreiten.
Jeroschka wurde wieder munter, hob den Kopf empor und begann aufmerksam die Nachtschmetterlinge zu beobachten, die die schwankende Flamme umflatterten und in sie hineinstürzten.
»Närrchen, Närrchen!« sagte er. »Wohin fliegst du denn? Nein, solch ein dummes, dummes Närrchen!« –
Er stand auf und begann, mit seinen dicken Fingern die Schmetterlinge fortzuscheuchen.
»Du wirst dich verbrennen, du Närrchen! Flieg doch lieber dahin, es ist ja Platz genug da,« redete er zärtlich auf die flatternden Tierchen ein und bemühte sich, sie mit seinen dicken Fingern behutsam an den Flügeln zu fassen und weiter abseits wieder fliegen zu lassen. »Du stürzt dich selbst ins Unglück, und ich hab' Mitleid mit dir!« Lange noch saß er schwatzend und die Flasche zu Ende trinkend da, während Olenin auf dem Hofe auf und ab ging. Plötzlich ließ ein Flüstern hinterm Hoftor ihn aufhorchen. Er hielt unwillkürlich den Atem an und hörte ein Weiberlachen, dann eine männliche Stimme und das Geräusch eines Kusses. Absichtlich lauter auftretend, ging er nach der andern Seite des Hofes. Nach einem Weilchen knarrte die Tür im Zaun. Ein Kosak in dunkler Tscherkeska, mit weißem Lammfell an der Mütze – es war Luka – ging am Zaune entlang, und ein schlankes Mädchen mit weißem Kopftuch schritt an Olenin vorüber. »Ich habe mit dir nichts zu schaffen – du gehst mich und ich gehe dich nichts an,« schien Mariankas entschlossener Gang ihm zu sagen. Er folgte ihr bis zur Freitreppe an der Stube der Wirtsleute und konnte sogar durch das Fenster beobachten, wie sie: das Tuch abnahm und sich auf die Bank setzte. Und plötzlich bemächtigte sich seiner Seele ein Gefühl der Sehnsucht, der Verlassenheit, unklare Wünsche und Hoffnungen stiegen in ihm auf und die Empfindung des Neides gegen irgend jemand.
Die letzten Lichter erloschen in den Häusern. Die letzten Laute verstummten im Dorfe. Die Heckenzäune, das auf den Höfen sichtbare Vieh, die Dächer der Häuser, die schlanken Pappeln, alles schien in gesundem, stillem, redlich verdientem Schlummer zu liegen. Nur das ununterbrochene laute Quaken der Frösche tönte von der fernen Flußniederung her an das lauschende Ohr. Im Osten wurden die Sterne seltener und schienen in der sich steigernden Helligkeit zu zerfließen. Im Zenit häuften sie sich dafür um so dichter und tiefer. Der Alte hatte den Kopf auf den Ellenbogen gestützt und schlummerte. Ein Hahn krähte im gegenüberliegenden Hofe. Olenin aber ging immer noch auf und ab und hing seinen Gedanken nach. Ein mehrstimmiger Gesang tönte an sein Ohr. Er trat an den Zaun heran und lauschte. Junge Kosakenstimmen sangen ein fröhliches Lied, und aus dem Chor tönte hell und kräftig eine einzelne, jugendliche Stimme hervor.
»Weißt du, wer da singt?« sagte der Alte, der wieder munter geworden war. »Das ist Lukaschka, der Dschigit. Er hat einen Tschetschenzen getötet, darum ist er so froh gestimmt. Sich darüber zu freuen – der Narr, der Narr!«
»Und du – hast du auch Menschen getötet?« fragte Olenin.
Der Alte richtete sich plötzlich auf beiden Ellenbogen in die Höhe und brachte sein Gesicht ganz nahe an das Gesicht Olenins.
»Du Satan!« schrie er ihn an. »Warum fragst du? Davon redet man nicht. Eine Seele vernichten, das ist etwas Schreckliches, o, so Schreckliches! ... Leb' wohl, mein Vater, ich habe satt gegessen und getrunken,« sagte er und stand auf. »Soll ich dich morgen zur Jagd abholen?«
»Ja, komm.«
»Sieh zu, daß du früh aufstehst – wenn du's verschläfst, mußt du Strafe zahlen.«
»Hab' keine Angst, ich werde früher auf sein als du,« entgegnete Olenin.
Der Alte ging fort. Das Lied war verstummt. Man hörte Schritte und heiteres Geplauder. Ein Weilchen darauf ertönte von neuem ein Lied, doch in größerer Entfernung, und Jeroschkas laute Stimme hatte sich mit den früheren vereinigt.
»Was für Menschen, was für ein Leben!« dachte Olenin mit einem Seufzer und kehrte allein in sein Zimmer zurück.