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Plötzlich ward es Licht in seiner Seele, als wenn die Sonne darin erstrahlte. Er hörte russische Laute, hörte das gleichmäßige Rauschen des Terek, und nach zwei Schritten lag vor ihm die braune, bewegliche Oberfläche des Flusses mit dem dunklen, feuchten Sande an den Ufern und Bänken, die ferne Steppe, der über das Wasser emporragende Wachtturm, das an drei Beinen gefesselte Pferd, das gesattelt im Dorngebüsch umherging, und die Berge. Die rote Sonne trat für einen Augenblick aus dem Gewölk und übergoß mit ihren letzten heiteren Strahlen den Fluß, beleuchtete das Schilf, den Wachtturm und die Kosaken, die in einer Gruppe zusammenstanden. Unter ihnen zog Lukaschka unwillkürlich durch seine stattliche Erscheinung Olenins Aufmerksamkeit auf sich.
Olenin fühlte sich wieder, ohne jede sichtbare Ursache, vollkommen glücklich. Es war der Nischneprotozkische Posten, den er erreicht hatte; er lag am Terek gegenüber dem friedlichen Aul am jenseitigen Ufer. Olenin begrüßte die Kosaken, und da er noch keine Gelegenheit fand, jemandem Gutes zu tun, trat er in das Wachthaus ein. Auch hier fand er die gesuchte Gelegenheit noch nicht. Die Kosaken empfingen ihn kühl. Er ging in den mit Lehm beworfenen Flur und zündete sich eine Zigarette an. Die Kosaken wandten sich von ihm ab, erstens, weil er rauchte, und zweitens, weil an diesem Abend etwas anderes sie in Anspruch nahm. Aus den Bergen waren nämlich mit einem Kundschafter feindliche Tschetschenzen gekommen, Verwandte des getöteten Abreken, um den Leichnam loszukaufen. Sie erwarteten die Kosakenbehörden aus dem Dorfe. Der Bruder des Getöteten, ein hochgewachsener, stattlicher Mann mit gestutztem, rotgefärbtem Barte, benahm sich, obschon seine Tscherkeska und seine Lammfellmütze zerrissen waren, doch so stolz und gemessen wie ein Zar. Er war dem getöteten Abreken von Gesicht sehr ähnlich. Keinen Menschen würdigte er auch nur eines Blickes, nicht ein einziges Mal sah er nach dem Toten hinüber, sondern hockte still für sich im Schatten, rauchte seine Pfeife, spuckte aus und gab zuweilen ein paar befehlende Kehllaute von sich, die sein Begleiter voll Ehrerbietung entgegennahm. Man sah sogleich, daß es ein Dschigit war, der die Russen schon so manches Mal unter anderen Umständen zu sehen bekommen hatte, und daß ihn jetzt an den Russen nichts in Erstaunen setzte, ja auch nur interessierte. Olenin näherte sich dem Toten und betrachtete ihn. Der Bruder warf ihm einen geringschätzigen Blick zu und machte eine kurze, unwillige Bemerkung. Der Kundschafter beeilte sich, das Gesicht des Toten mit einer Tscherkeska zu bedecken. Olenin war überrascht durch den würdevollen, strengen Gesichtsausdruck des Dschigiten; er wollte ein Gespräch mit ihm beginnen und fragte ihn, aus welchem Aul er wäre, doch der Tschetschenze würdigte ihn kaum eines Blickes, spie verächtlich aus und wandte sich ab. Olenin war höchst verwundert über diese Gleichgültigkeit des Bergbewohners, die er sich nur aus geistiger Beschränktheit oder Unkenntnis der Sprache erklären konnte. Er wandte sich an seinen Begleiter. Dieser, ein Kundschafter und Dolmetscher, war ebenso zerlumpt wie der andere, doch hatte er schwarzes, nicht rotes Haar, dazu ein sehr bewegliches Wesen, blendend weiße Zähne und blitzende schwarze Augen. Der Kundschafter ging bereitwillig auf eine Unterhaltung ein und bat um eine Zigarette.
»Es waren ihrer fünf Brüder,« erzählte er in einem gebrochenen, halb russischen Kauderwelsch – »das ist schon der dritte, den die Russen getötet haben, nur zwei sind noch übrig; er ist ein Dschigit, ein tapferer Dschigit,« fügte der Kundschafter, auf den Tschetschenzen hinweisend, hinzu. »Als Achmed-Chan« – so hieß der getötete Abreke – »erschossen wurde, saß dieser da im Schilfrohr am andern Ufer; er sah alles, wie sie ihn in das Boot legten und ans Ufer brachten. Er saß bis zur Nacht da; er wollte den Alten erschießen, doch die andern ließen es nicht zu.«
Lukaschka trat zu den Redenden hin und setzte sich zu ihnen.
»Aus welchem Aul war er?« fragte er.
»Von drüben aus jenen Bergen,« antwortete der Kundschafter und zeigte über den Terek nach einer bläulich-dunklen, nebelerfüllten Schlucht. »Kennst du Sujuk-Su? Zehn Werst weit wird es sein.«
»Ist dir Girej-Chan in Sujuk-Su bekannt?« fragte Lukaschka, der offenbar auf die Bekanntschaft stolz war. »Er ist mein Freund.«
»Er ist mein Nachbar,« versetzte der Kundschafter.
»Ein tüchtiger Mann!« sagte Lukaschka und begann, anscheinend lebhaft interessiert, mit dem Dolmetscher eine Unterhaltung in tatarischer Sprache.
Bald darauf kam der Hauptmann der Kosaken mit dem Dorfältesten und einer Suite von zwei Kosaken angeritten. Der Hauptmann, einer der neuen Kosakenoffiziere, begrüßte die Kosaken, doch antwortete ihm niemand, wie es bei den Linientruppen üblich ist: »Wir wünschen Euer Wohlgeboren Gesundheit«, sondern nur vereinzelt wurde sein Gruß von dem einen und andern durch eine einfache Verbeugung erwidert. Einige, darunter auch Lukaschka, erhoben sich und machten Front. Der Unteroffizier meldete, daß auf dem Posten alles in Ordnung sei. Alles dies kam Olenin lächerlich vor: als wenn diese Kosaken »Soldaten« spielten. Doch ging die Förmlichkeit bald in ein zwangloseres Verhalten über, und der Hauptmann, der ein ebenso gewandter Kosak war wie die andern, begann sich mit dem Dolmetscher sehr geläufig auf tatarisch zu unterhalten. Ein Schriftstück wurde aufgesetzt und dem Kundschafter übergeben, worauf die beiden Vertreter der Obrigkeit das Lösegeld in Empfang nahmen und zu dem Leichnam hintraten.
»Wer von euch ist Gawrilow Luka?« fragte der Hauptmann.
Lukaschka nahm die Mütze ab und trat vor.
»Ich habe über dich einen Rapport an den Oberst geschickt. Was dabei herauskommt, weiß ich nicht, ich habe dich für das Kreuz vorgeschlagen: zum Unteroffizier bist du zu jung. Kannst du lesen und schreiben?«
»Nein, zu Befehl.«
»Scheinst aber sonst ein tüchtiger Bursche!« sagte der Hauptmann, immer noch den Vorgesetzten spielend. »Bedeck' dich. Von welchen Gawrilows ist er? Wohl ein Sohn von dem ›Breiten‹?«
»Nein, ein Neffe,« antwortete der Unteroffizier.
»Ich weiß, ich weiß. Nun, faßt zu, helft ihnen,« wandte er sich zu den Kosaken.
Lukaschkas Gesicht strahlte vor Freude und erschien hübscher als sonst. Er entfernte sich von dem Unteroffizier, setzte seine Mütze auf und nahm wieder neben Olenin Platz.
Als der Leichnam in das Boot gebracht war, begab sich der Bruder des Getöteten ans Ufer. Die Kosaken traten unwillkürlich zur Seite, um ihm den Weg freizugeben. Er sprang mit kräftigem Abstoß vom Ufer in das Boot. Von dort aus ließ er, wie Olenin bemerkte, zum erstenmal einen raschen Blick über alle Kosaken hingleiten und richtete dann wieder in seiner abgebrochenen Art eine Frage an seinen Begleiter. Dieser gab ihm Antwort und wies dabei auf Lukaschka. Der Tschetschenze faßte diesen scharf ins Auge, wandte sich dann langsam ab und blickte nach dem jenseitigen Ufer. Nicht Haß, sondern kalte Verachtung lag in diesem Blicke. Er sprach noch irgend etwas.
»Was hat er gesagt?« fragte Olenin den beweglichen Dolmetscher.
»Bald schießt ihr, bald wir, heute sind wir dran, morgen ihr. So geht's herüber und hinüber,« antwortete der Kundschafter, der offenbar die Unwahrheit sprach. Er lachte, daß seine weißen Zähne sichtbar wurden, und sprang in das Boot.
Der Bruder des Getöteten saß unbeweglich da und blickte unverwandt nach dem andern Ufer. Sein Haß und seine Verachtung waren so grenzenlos, daß ihn überhaupt nichts, was diesseits geschah, interessierte. Der Kundschafter, der hinten im Boote stand, senkte das Ruder bald auf der einen, bald auf der andern Seite ins Wasser und redete dabei unaufhörlich. Das Boot nahm quer durch den Fluß seinen Weg und wurde kleiner und kleiner, die Stimmen waren kaum noch zu hören, und schließlich sah man, wie sie am jenseitigen Ufer, wo ihre Pferde hielten, anlegten. Dort trugen sie den Leichnam heraus, legten ihn, obschon das Pferd sich sträubte, quer über den Sattel, bestiegen selbst die Pferde und ritten im Schritt auf dem Wege dahin, vorüber an dem Aul, aus dem die Leute herbeiströmten, um sie zu sehen.
Die Kosaken am diesseitigen Ufer waren ihrerseits höchst zufrieden und vergnügt. Überall vernahm man fröhliches Lachen und muntere Späße. Der Hauptmann und der Dorfälteste begaben sich in den Vorraum, um sich durch Wein zu stärken. Lukaschka saß mit heiterem Gesichte, dem er vergeblich ein würdevolles Aussehen zu geben suchte, neben Olenin, stützte die Ellbogen auf die Knie und schnitzte an einem Stöckchen.
»Warum rauchen Sie denn?« sagte er wie aus Neugier. »Ist das so angenehm?«
Er sagte das offenbar nur, weil er bemerkt hatte, daß Olenin in einer gewissen Verlegenheit war, und daß er sich einsam fühlte unter den Kosaken.
»Man tut es aus Gewohnheit,« versetzte Olenin. »Warum?«
»Hm! Wenn einer von uns rauchte, würde es ihm schlecht ergehen! ... Wie nahe die Berge sind!« sagte Lukaschka, nach der Schlucht zeigend – »und doch kommt man nicht hin! ... Wie wollen Sie denn nach Hause kommen, so allein, im Dunklen? Ich will Sie führen, wenn Sie wollen,« sagte Lukaschka – »bitten Sie den Unteroffizier!«
»Wirklich ein braver Bursche,« dachte Olenin, während er das heitere Gesicht des Kosaken betrachtete. Er dachte an Marianka und den Kuß, den er hinter dem Hoftor gehört hatte, und er bedauerte, daß Lukaschka so ungebildet war. »Welch ein Unsinn, welch eine Begriffsverwirrung!« dachte er. »Ein Mensch hat einen andern getötet und ist glücklich und zufrieden, als hätte er die herrlichste Tat vollbracht. Kommt ihm denn wirklich nicht der Gedanke, daß hier durchaus kein Grund vorliegt, sich zu freuen? Daß das Glück nicht darin liegt, andere zu töten, sondern vielmehr darin, daß man sich selbst aufopfert?«
»Na, Bruder, nimm dich in acht, daß du ihm jetzt nicht begegnest!« sagte einer der Kosaken, die bei der Abfertigung des Bootes geholfen hatten, zu Lukaschka. »Hast du gehört, wie er nach dir fragte?«
Lukaschka hob den Kopf empor.
»Du sprichst von dem Rothaarigen? Der soll Gott danken, daß er heil geblieben ist!«
»Worüber freust du dich eigentlich?« sprach Olenin zu Lukaschka. »Würdest du auch so vergnügt sein, wenn man deinen Bruder getötet hätte?«
Die Augen des Kosaken lachten, während er Olenin ansah. Er schien wohl zu begreifen, was dieser ihm sagen wollte, fühlte sich jedoch erhaben über solche Erwägungen.
»Was ist da schon zu machen? Es ist doch mal so! Schießen sie nicht auch unsereinen tot?«