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1.

Alles ist still geworden in Moskau. Zuweilen nur hört man da oder dort das Knarren der Räder auf der hartgefrorenen Straße. In den Fenstern ist kein Licht mehr, und die Laternen sind erloschen. Von den Kirchen erschallt Glockengeläut, das in klangvollen Schwingungen über die schlafende Stadt hinflutet und an den Morgen gemahnt. Die Straßen liegen einsam da. Hier und da gleitet eine Schlittendroschke, deren schmale Kufen den Sand der Straße mit dem Schnee vermengen, zur nächsten Straßenecke, wo der Kutscher alsbald, in Erwartung eines Fahrgastes, sanft entschlummert. Ein altes Weib ist zur Kirche unterwegs, wo bereits einige wenige Wachskerzen, unsymmetrisch verteilt, mit rötlicher Flamme brennen und sich in den Goldbeschlägen der Heiligenbilder spiegeln. Das arbeitende Volk erhebt sich bereits nach der langen Winternacht, um an sein Tagewerk zu gehen.

Bei den vornehmen Leuten aber ist's immer noch Abend.

In einem der Fenster bei Chevalier schimmert, der Polizeivorschrift entgegen, unter den geschlossenen Läden hervor Licht. An der Einfahrt halten, außer einer Kutsche, ein paar Schlitten und Droschken, die mit den Hintergestellen dicht zusammengedrängt sind. Auch ein dreispänniger Postschlitten steht dort. Der Hauswart sitzt ganz vermummt und zusammengekrümmt da, als wolle er sich hinter der Hausecke verstecken.

»Was die wohl noch immer zu schwatzen haben!« denkt der Kellner, der mit müdem Gesichte im Vorzimmer sitzt. »Und ich muß nun gerade Nachtdienst haben!« Aus dem anstoßenden, hell erleuchteten Zimmer lassen sich die Stimmen dreier jungen Leute vernehmen, die dort soupieren. Sie sitzen um einen Tisch herum, auf dem sich noch die Reste des Essens und des Weins befinden. Der eine von ihnen, ein kleines, adrettes Kerlchen, mager und häßlich von Gesicht, sitzt da und sieht mit den guten, müden Augen auf den Freund, der im Begriff ist abzureisen. Der zweite, ein Mensch von hoher Statur, liegt neben dem mit leeren Flaschen besetzten Tische lang auf dem Diwan hingestreckt und spielt mit seinem Uhrschlüssel. Der dritte, in einem nagelneuen kurzen Pelz, geht im Zimmer auf und ab, bleibt bisweilen stehen, knackt zwischen den ziemlich dicken und kräftigen Fingern, deren Nägel sauber geputzt sind, eine Mandel auf und lächelt in einem fort; seine Augen und sein Gesicht glühen. Er spricht mit Leidenschaft und gestikuliert dabei, doch sieht man, daß ihm die Worte fehlen – alle Worte, die er findet, scheinen ihm ungenügend, um alles das auszudrücken, was auf sein Herz einstürmt. Immer wieder lächelt und lächelt er.

»Jetzt kann ich ja alles sagen!« sagt der Abreisende. »Nicht, daß ich mich rechtfertigen will, aber ich möchte doch, daß du wenigstens mich so verstehst, wie ich mich verstehe, und über diese Sache nicht so denkst wie all die Banausen. Du sagst, ich sei ihr gegenüber schuldig,« wendet er sich zu dem Kleinen, der ihn mit seinen guten Augen ansieht.

»Ja, das bist du,« antwortet der kleine Häßliche, und sein Blick scheint bei diesen Worten noch mehr Güte und Abgespanntheit auszudrücken.

»Ich weiß, warum du so sprichst,« fährt der Abreisende fort. »Du meinst, geliebt zu werden sei ein ebenso großes Glück wie zu lieben, und es sei genug für das ganze Leben, wenn man dieses Glückes nur einmal teilhaft geworden.«

»Ja, übergenug ist's, mein Herz! Mehr als genug,« bekräftigt der kleine Häßliche, während seine Augen sich abwechselnd öffnen und schließen.

»Aber warum soll man nicht auch einmal selbst lieben?« sagt der Abreisende, in einen nachdenklichen Ton verfallend, und sieht den Freund mit einer Art Mitleid an. »Warum nicht selbst lieben? Aber sie stellt sich nicht ein, die Liebe. Nein, geliebt zu werden ist ein Unglück, ein Unglück, sobald man dabei fühlt, daß man nicht Gleiches mit Gleichem vergilt oder vergelten kann. Ach, mein Gott,« fuhr er mit einer abwehrenden Handbewegung fort, »wenn das wenigstens alles in vernünftiger Weise vor sich ginge – aber weit gefehlt: es vollzieht sich leider nicht nach unserem Willen, sondern sozusagen nach seinem eigenen. Es ist ja förmlich, als hätte ich dieses Gefühl gestohlen! Auch du hast diese Auffassung; sag's nur ganz offen, du mußt sie ja haben! Und glaubst du mir wohl, daß ich von allen Torheiten und Gemeinheiten, deren ich in meinem Leben nicht wenig begangen habe, gerade diese eine nicht bereue und nicht zu bereuen vermag? Ich habe weder mich selbst noch sie belogen, nicht im Anfang noch auch später. Ich glaubte sie schließlich zu lieben, dann aber sah ich ein, daß es eine Lüge – freilich eine unbeabsichtigte – war, wenn ich es behauptete, und ich konnte nicht weitergehen, während sie es tat. Trifft mich darum eine Schuld, weil ich's nicht konnte? Was hätte ich denn tun sollen?«

»Nun, jetzt ist's ja zu Ende!« sagte der Freund, während er sich seine Zigarre anzündete, um den Schlaf zu vertreiben. »Das aber sage ich dir: du hast noch nie geliebt, und weißt nicht, was lieben heißt.«

Der im Pelz wollte wieder etwas sagen und faßte sich an den Kopf. Aber er brachte das, was er sagen wollte, nicht heraus.

»Noch nie geliebt! Ja, es ist wahr, ich habe noch nie geliebt. Aber ich fühle in mir das Bedürfnis zu lieben, ein Bedürfnis, so stark, wie man es stärker nicht fühlen kann. Doch auf der andern Seite – gibt es überhaupt eine solche Liebe? In allem ist doch schließlich etwas Unvollkommenes. Nun, was hilft alles Reden! Ich habe einen schönen Wirrwarr angerichtet in meinem Leben. Aber jetzt ist's zu Ende, du hast recht, und ich fühle, daß ein neues Leben beginnt.«

»In dem du denselben Wirrwarr anrichten wirst,« sagte der auf dem Diwan Liegende, der immer noch mit seinem Uhrschlüssel spielte, doch hörte der Abreisende ihn nicht.

»Ich bin traurig und froh zugleich, daß ich abreise,« fuhr er fort. »Warum ich traurig bin? Ich weiß es nicht.«

Und er begann von sich selbst zu reden, ohne zu bemerken, daß das, was er sagte, für die andern lange nicht so interessant war wie für ihn. Der Mensch ist niemals ein größerer Egoist, als im Augenblick seelischen Entzückens. Er glaubt, es gebe in solch einem Augenblick nichts Schöneres und Interessanteres auf der Welt als seine kostbare Persönlichkeit.

»Dmitrij Andrejewitsch, der Postillon will nicht länger warten,« sagte ein mit Pelz und Gurtbinde angetaner junger Bauer, der ins Zimmer trat. »Seit Mitternacht warten die Pferde, und jetzt ist es vier Uhr.«

Dmitrij Iwanowitsch betrachtete seinen Wanjuscha. Die Gurtbinde, die Filzstiefel und das verschlafene Gesicht des Burschen gemahnten ihn an ein anderes Leben, das ihn rief – ein Leben der Arbeit, der Tätigkeit, der Entbehrungen.

»Nun heißt es also wirklich Abschied nehmen!« sagte er, während er tastend über die Knöpfe des Pelzes fuhr, um zu prüfen, ob auch alle geschlossen waren.

Er hörte nicht auf den Rat der Freunde, den Postillon durch ein Trinkgeld zu längerem Warten zu bestimmen, sondern setzte seine Mütze auf und blieb mitten im Zimmer stehen. Sie küßten sich einmal, zweimal, hielten dann inne und küßten sich zum drittenmal. Der in dem kurzen Pelz trat an den Tisch, trank ein dort stehendes Weinglas leer, ergriff die Hand des kleinen Häßlichen und errötete.

»Nein, ich will es doch aussprechen ... Ich kann und muß gegen dich offen sein, weil ich dich liebe ... Du liebst sie, nicht wahr? Ich habe es stets vermutet ... stimmt's?«

»Ja,« versetzte der Freund und lächelte noch herzlicher.

»Und vielleicht ...«

»Erlauben Sie, ich soll die Lichter auslöschen,« sagte der verschlafene Kellner, der das letzte Gespräch mit angehört hatte und vergeblich zu erraten suchte, weshalb die Herren nur immer ein und dasselbe reden. »Auf wessen Namen soll ich die Rechnung ausstellen – auf den Ihrigen?« fügte er, zu dem Hochgewachsenen gewandt, hinzu: er wußte schon im voraus, an wen er sich zu halten hatte.

»Schreib alles auf meine Rechnung,« sagte der Hochgewachsene.

»Wieviel macht es?«

»Sechsundzwanzig Rubel.«

Der Hochgewachsene sann einen Augenblick nach, sagte jedoch nichts und steckte die Rechnung in die Tasche.

Die beiden andern setzten inzwischen ihr Gespräch fort.

»Leb' wohl, du bist ein prächtiger Junge,« sagte der kleine Häßliche mit dem sanften Blick.

Die Tränen traten beiden in die Augen. Sie gingen auf die Freitreppe hinaus.

»Ach ja,« sagte der Abreisende zu dem Hochgewachsenen, »die Rechnung hier bei Chevalier begleichst du wohl? Du schreibst mir wohl, wieviel es macht?«

»Gut, gut,« sagte der Hochgewachsene, während er seine Handschuhe anzog. »Wie ich dich beneide!« fügte er dann ganz unerwartet hinzu, als sie auf die Treppe hinausgetreten waren.

Der Abreisende nahm in dem Postschlitten Platz, hüllte sich in seinen großen Reisepelz und sagte: »Nun, so komm doch mit!« Und er rückte sogar im Schlitten zur Seite, um dem andern, der ihn zu beneiden vorgab, Platz zu machen; seine Stimme bebte.

Jener, der ihm das Geleit gab, sagte: »Leb' wohl, Mitja, Gott gebe dir ...« Er wünschte eigentlich nur eins: daß er so rasch wie möglich davonfahren möchte, und so ließ er es unausgesprochen, was ihm Gott geben sollte.

Sie schwiegen. Noch einmal wiederholte jemand: »Leb' wohl!« Irgendwer sagte: »Vorwärts!« – und der Postillon trieb die Pferde an.

»Jelisar, den Wagen!« rief einer der beiden Zurückbleibenden.

Die Droschkenführer und der Kutscher der Equipage gerieten in Bewegung, schnalzten mit der Zunge und zogen die Zügel an. Die angefrorene Kutsche kreischte auf dem Schnee.

»Ein lieber Junge, dieser Olenin,« sagte einer von den beiden Zurückbleibenden. »Aber wie kommt er nur auf den Einfall, nach dem Kaukasus zu gehen, noch dazu als Junker? Ich würde mich dafür bedanken. Ißt du morgen im Klub zu Mittag?«

»Ja.«

Sie fuhren in verschiedenen Richtungen davon.

Dem Abreisenden wurde es gehörig warm in dem Pelze. Er setzte sich auf den Boden des Schlittens und knöpfte den Pelz auf. Das zottige Dreigespann zog langsam den Schlitten durch die dunklen Straßen, an Häusern vorüber, die er nie gesehen. Es schien Olenin, als seien diese Straßen nur für Leute, die abreisen, da. Ringsum war es dunkel, still und traurig; seine Seele aber war voll von Erinnerungen, von Liebe und Mitleid, von Tränen, die ihm so wohl taten und ihn fast erstickten ...


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