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28.

Bei den Wirtsleuten wurde Verlobung gefeiert. Lukaschka war ins Dorf gekommen, hatte jedoch Olenin nicht besucht. Und auch Olenin ging, trotz der Einladung des Fähnrichs, nicht zur Verlobung. Er war so traurig gestimmt, wie er noch nie gewesen, seit er sich in dem Dorfe einquartiert hatte. Er sah, wie Lukaschka, festlich gekleidet, mit seiner Mutter gegen Abend zu den Wirtsleuten kam, und es quälte ihn der Gedanke: »Warum mag nur Lukaschka so kühl gegen mich sein?« Er schloß sich in seinem Zimmer ein und begann sein Tagebuch zu schreiben.

»Ich habe vieles durchdacht und mich sehr gewandelt in dieser letzten Zeit,« schrieb Olenin, »und ich bin zu einem Resultat gelangt, das eigentlich schon im A-b-c-Buche geschrieben steht. Um glücklich zu sein, ist nur eins notwendig – daß man liebe, und zwar mit Selbstverleugnung liebe, daß man alle und alles liebe, nach allen Seiten das Spinnennetz der Liebe spanne: wer hineingerät, den muß man nehmen und lieben. So habe ich es mit Wanjuscha, mit Onkel Jeroschka, mit Lukaschka und Marianka gehalten.«

Als Olenin so weit gekommen war, trat Onkel Jeroschka bei ihm ein.

Jeroschka war in der fröhlichsten Stimmung. Als Olenin ihn vor einigen Tagen gegen Abend besucht hatte, hatte er ihn auf dem Hofe vor einem ausgeweideten Eber angetroffen, den er eben mit glücklicher und stolzer Miene mittels eines kleinen Messers geschickt abhäutete. Die Hunde, darunter sein Liebling Ljam, lagen rings um ihn und wedelten, während sie ihm bei der Arbeit zusahen, leicht mit den Schwänzen. Die Knaben schauten über den Zaun hinweg voll Achtung auf ihn und neckten ihn nicht einmal, wie sie es sonst taten. Die Nachbarinnen, die ihm im allgemeinen nicht sehr gewogen waren, begrüßten ihn und brachten ihm einen Krug Rotwein, oder Quarkkäse, oder Mehl. Am nächsten Morgen saß Jeroschka ganz blutig in der Vorratskammer und gab das frische Wildfleisch pfundweise ab, den einen für Geld, den andern für Wein. Auf seinem Gesichte stand geschrieben: »Gott hat mir Glück gegeben, ich habe einen Eber erlegt; nun könnt ihr den Onkel brauchen!« Die selbstverständliche Folge war, daß er nun im Dorfe blieb und ganz gewaltig zu zechen begann. Schon den vierten Tag zechte er, und auch bei der Verlobung, zu der er sich begeben, war es nicht ohne Trinken abgegangen.

Onkel Jeroschka kam aus der Wohnung der Wirtsleute schwer berauscht zu Olenin, mit rotem Gesichte und zerzaustem Bart, doch in einem neuen roten Beschmet, der mit Tressen benäht war, und mit einer aus einem Flaschenkürbis gefertigten Balalaika, die er von jenseits des Flusses mitgebracht hatte. Er hatte Olenin längst versprochen, ihm etwas darauf vorzuspielen, und war jetzt in der richtigen Stimmung. Als er sah, daß Olenin weiterschrieb, fühlte er sich gekränkt.

»Immer schreib, schreib, mein Vater,« sagte er flüsternd, als nehme er an, daß irgendein Geist zwischen ihm und dem Papier sitze, und als fürchte er, ihn aufzuscheuchen. Ganz leise, um nur ja kein Geräusch zu machen, setzte er sich auf den Fußboden. Dort war überhaupt stets, wenn er betrunken war, sein Lieblingsplatz. Olenin sah sich um, ließ Wein bringen und fuhr fort zu schreiben. Jeroschka fand es langweilig, allein zu trinken; er wollte sich unterhalten.

»Ich war bei den Wirtsleuten auf der Verlobung. Das ist eine Schweinebande! Ich will nichts von ihnen wissen, und nun bin ich zu dir gekommen.«

»Woher hast du denn die Balalaika?« fragte Olenin, während er fortfuhr zu schreiben.

»Drüben überm Flusse war ich, mein Vater, da hab' ich die Balalaika bekommen,« sagte er ebenso leise wie vorher. »Ich spiele ausgezeichnet: tatarische Lieder, Kosakenlieder, Herrenlieder, Soldatenlieder, was du willst.«

Olenin sah ihn noch einmal an, lächelte und fuhr fort zu schreiben,.

Sein Lächeln ermutigte den Alten.

»Nun, laß sie laufen, du mein Vater! Laß sie laufen!« sagte er plötzlich in entschiedenem Tone. »Laß sie laufen, wenn sie dich gekränkt haben, spuck auf sie! Was schreibst und schreibst du denn da in einem fort? Was nützt dir das?«

Und er begann Olenin nachzuäffen, fuhr mit den dicken Fingern auf dem Fußboden hin und her und verzog sein feistes Gesicht zu einer verächtlichen Grimasse. »Was soll die dumme Schreiberei? Sei lieber lustig, trink, dann bist du ein braver Kerl!«

Alles Schreibwerk war in seiner Vorstellung etwas höchst Bösartiges, Verschmitztes.

Olenin lachte laut auf, und Jeroschka lachte mit. Er sprang auf und schickte sich an, seine Geschicklichkeit im Balalaikaspiel und im Vortrag tatarischer Lieder zu zeigen.

»Was soll das Geschreibsel, alter Freund! Hör' lieber zu, ich will dir etwas vorsingen. Bist du erst tot, dann hörst du keine Lieder mehr. Immer lustig!«

Er sang zuerst ein Tanzlied, das er selbst verfaßt hatte:

»Ei, di di di di di li,
Wo hat ihn gesehen sie?
Auf dem Markt im Laden –
Dort verkauft er Fladen!«

Dann sang er ein Lied, das er einstmals von seinem Feldwebel gelernt hatte:

»Am Montag hatt' ich mich verliebt,
Trug Dienstag schweres Leid;
Am Mittwoch sagt' ich: ›[*]Gib mir, Kind,
Am Donnerstag Bescheid!‹[*]
Am Freitag kam die Nachricht dann:
›Mag wissen nichts von dir!‹
Drum wollt' ich schon am Sonnabend
Das Leben nehmen mir;
Doch Sonntags schon besann ich mich –
Und steh' gesund nun hier!«

Und dann wieder:

»Ei, di di di di di li,
Wo hat ihn gesehen sie?«

Hierauf sang er, die Augen zusammenkneifend, mit den Schultern zuckend und im Zimmer umhertänzelnd:

»Liebchen, komm in meinen Arm,
Ruhst an meiner Brust so warm,
Schmück' mit rotem Band dich fein,
Nenne dich mein Schätzelein –
Doch du mußt die meine sein!«

Er kam so sehr in Stimmung, daß er, immer auf der Balalaika weiterspielend, einen förmlichen Heldentanz aufführte.

Das Lied »di-di-li« und ähnliche »Herrenlieder«, wie er sie nannte, sang er eigens Olenin zu Ehren; dann aber, nachdem er noch drei Gläser voll Rotwein ausgetrunken hatte, kam ihm die Erinnerung an die alte Zeit, und er begann richtige Kosaken- und Tatarenlieder zu singen. Mitten in einem seiner Lieblingslieder begann seine Stimme plötzlich zu zittern, und er verstummte, nur noch auf den Saiten der Balalaika weiterklimpernd.

»Ach, mein lieber Freund!« sagte er.

Olenin sah sich um: die Stimme des Alten hatte einen so seltsamen Klang. Er weinte – Tränen standen ihm in den Augen, und eine rann sogar schon über seine Wange.

»Hin bist du, meine goldene Zeit, und wirst nicht wiederkehren!« sprach er schluchzend und schwieg dann. »Trink, warum trinkst du nicht?« schrie er plötzlich mit dröhnender Stimme, ohne seine Tränen zu trocknen.

Ganz besonders schien ihn ein Tschetschenzenlied zu rühren. Es enthielt nur wenige Worte, und sein ganzer Reiz lag in dem schwermütigen Kehrreim: »Ai! dai! dalalai!« Jeroschka übersetzte die Worte des Liedes: »Ein kühner Bursche trieb die Herde aus dem Aul in die Berge; die Russen kamen, verbrannten den Aul, töteten alle Männer und schleppten alle Weiber als Gefangene mit. Der Bursche kam von den Bergen: wo der Aul gewesen, da war jetzt ein öder Platz; weder Mutter, noch Brüder, noch Haus fand er vor; nur ein einziger Baum war übrig geblieben. Der Bursche setzte sich unter den Baum und weinte. »Allein, wie du, allein bin ich übrig geblieben!« sprach er und sang: »Ai! dai! dalalai!«, und diesen wehklagenden, herzergreifenden Refrain sang der Alte mehrere Male.

Als Jeroschka diesen Refrain zum letztenmal sang, riß er plötzlich ein Gewehr von der Wand, lief rasch auf den Hof und schoß beide Läufe in die Luft ab. Von neuem sang er dann, noch schwermütiger als vorher: »Ai! dai! dalalai-a-a!« und verstummte.

Olenin war ihm auf die Freitreppe nachgegangen und blickte schweigend nach dem dunklen Sternenhimmel in der Richtung, in der die Schüsse aufgeblitzt waren. Im Hause, bei den Wirtsleuten, war Licht, und man hörte Stimmen. Auf dem Hofe drängten sich die Mädchen an der Freitreppe und an den Fenstern und liefen aus der Milchkammer nach dem Flur und wieder zurück. Ein paar Kosaken kamen eilig aus dem Flur heraus und begleiteten den Schluß des Liedes und die Schüsse Onkel Jeroschkas mit ihrem wilden Geschrei.

»Warum bist du denn nicht bei der Verlobung geblieben?« fragte Olenin den Alten.

»Gott mit ihnen, Gott mit ihnen!« versetzte der Alte, der offenbar dort drüben irgendeine Kränkung erfahren hatte. »Ich liebe sie nicht, liebe sie gar nicht! Ach, ist das ein Volk! Gehen wir ins Haus hinein! Laß sie dort ruhig ihr Vergnügen haben, wir wollen hier ganz für uns lustig sein.«

Olenin kehrte in sein Zimmer zurück.

»Was macht denn Lukaschka, ist er vergnügt? Wird er mich nicht besuchen?« fragte er den Alten.

»Ach was, Lukaschka! Dem haben sie vorgelogen, ich hätte dir das Mädchen zugeführt,« sagte der Alte im Flüstertone. »Mädchen hin, Mädchen her! Wenn wir wollen, gehört sie uns doch: gib nur recht viel Geld, dann haben wir sie! Ich besorg' dir das. Ich setz' das bei ihr durch, wahrhaftig!«

»Nein, Onkel, Geld richtet dort nichts aus, wo keine Liebe vorhanden ist. Sprich lieber nicht davon.«

»Ach ja, niemand will uns lieben, wir sind arme Waisen,« sagte Onkel Jeroschka plötzlich und begann wieder zu weinen.

Olenin trank mehr als gewöhnlich, während er die Erzählungen des Alten anhörte. »Nun ist mein Lukaschka also glücklich,« sagte er sich; aber der Gedanke machte ihn doch recht schwermütig. Der Alte betrank sich an diesem Abend so maßlos, daß er auf dem Fußboden liegen blieb, und daß Wanjuscha ein paar Soldaten zu Hilfe rufen mußte, um ihn fortzubringen. Er spuckte vor Ärger aus, als er ihn aus dem Zimmer schleppte. So wütend war er über die schlechte Aufführung des Alten, daß er sein Französisch ganz darüber vergaß.


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