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»Wo stecken sie?« fragte Lukaschka kurz.
In diesem Augenblick fiel in einer Entfernung von etwa dreißig Schritten ein kurzer Schuß. Der Unteroffizier lächelte.
»Unser Gurka feuert auf sie!« sagte er und nickte mit dem Kopfe nach der Richtung, in der der Schuß gefallen war.
Sie ritten noch ein paar Schritte weiter und sahen den Kosaken Gurka, der hinter einem Sandhügel saß und sein Gewehr lud. Er wechselte aus Langerweile Schüsse mit den Abreken, die hinter einem andern Sandhügel saßen. Eine Kugel pfiff von dort herüber.
Der Fähnrich ward blaß und verwirrt. Lukaschka stieg vom Pferde, übergab es einem Kosaken und ging zu Gurka. Olenin folgte seinem Beispiel und schlich in gebückter Haltung hinter ihm her. Kaum waren sie bei dem feuernden Kosaken angelangt, als zwei Kugeln über ihren Köpfen dahinpfiffen. Lukaschka sah sich lachend nach Olenin um und bückte sich.
»Sie werden dich noch totschießen, Andreïtsch,« sagte er. »Geh lieber fort, das ist hier nichts für dich.«
Doch Olenin wollte unbedingt die Abreken sehen.
Hinter einer Bodenerhöhung sah er in einer Entfernung von etwa zweihundert Schritten Mützen und Gewehre. Plötzlich stieg drüben ein Rauchwölkchen auf, und wieder pfiff eine Kugel herüber. Die Abreken saßen im Sumpfe hinter ihrem Hügel. Olenin sah mit einer gewissen Verblüffung nach der Stelle, an der sie saßen. Sie unterschied sich in nichts von dem übrigen Terrain, doch der Umstand, daß dort die Abreken saßen, verlieh ihr einen eigenen Charakter. Es schien Olenin, als müßten die Abreken gerade dort und sonst nirgends sitzen. Lukaschka ging zu seinem Pferde zurück, und Olenin folgte ihm.
»Wir müssen einen Heuwagen haben,« sagte Luka, »sonst schießen sie uns alle tot. Dort hinter dem Hügel steht ein nogajscher Wagen mit Heu.«
Der Fähnrich nahm Lukaschkas Worte zur Kenntnis, und der Unteroffizier stimmte ihnen zu. Der Heuwagen wurde herangebracht, und die Kosaken suchten, hinter ihm versteckt, das Heu zu ihrer Deckung zu verwenden. Olenin ritt nach einem Hügel, von dem er alles übersehen konnte. Der Heuwagen setzte sich in Bewegung; die Kosaken hielten sich dicht dahinter und rückten so vor. Die Tschetschenzen, neun Mann an der Zahl, saßen dicht nebeneinander in einer Reihe, ohne zu schießen.
Alles war still. Plötzlich ließen sich aus der Richtung, in der die Tschetschenzen saßen, die seltsamen Töne eines schwermütigen Liedes vernehmen, ähnlich dem »Ai–da–la–laj« Onkel Jeroschkas. Die Tschetschenzen wußten, daß es für sie kein Entrinnen gab; um jeden Fluchtgedanken in sich zu unterdrücken, hatten sie sich mit Riemen Knie an Knie aneinander gebunden, hatten ihre Gewehre bereit gemacht und ihr Sterbelied angestimmt.
Immer näher kamen die Kosaken hinter der Heufuhre an die Abreken heran, und jeden Augenblick erwartete Olenin den Beginn des Feuerns; doch nur das schwermütige Lied der Abreken unterbrach die Stille. Plötzlich brach das Lied ab, ein kurzer Schuß ertönte, und die Kugel klatschte gegen die Wagenleiter. Man hörte das Schelten und Schreien der Tschetschenzen. Schuß auf Schuß folgte, und Kugel auf Kugel schlug in den Heuwagen ein. Die Kosaken, die nicht schossen, waren nicht mehr als fünf Schritte von den Abreken entfernt. Noch einen Augenblick – und die Kosaken stürzten mit lautem Kriegsgeschrei auf beiden Seiten des Wagens vor. Lukaschka war allen voran. Olenin hörte nur einige Schüsse, denen lautes Schreien und Stöhnen folgte. Er glaubte Rauch und Blut zu sehen, und er ließ sein Pferd auf dem Hügel und eilte, ohne an sich selbst zu denken, zu den Kosaken hin. Er war starr vor Entsetzen: er konnte nichts unterscheiden, sondern begriff nur, daß alles zu Ende war. Bleich wie ein Linnen, hielt Lukaschka einen verwundeten Tschetschenzen an den Armen fest und schrie: »Tötet ihn nicht! Ich will ihn lebendig haben!« Es war jener Rothaarige, der Bruder des erschossenen Abreken, der damals die Leiche abgeholt hatte. Lukaschka band ihm die Hände zusammen. Doch plötzlich riß der Tschetschenze sich los und feuerte eine Pistole ab. Lukaschka brach zusammen, an seinem Unterleibe zeigte sich Blut. Er sprang auf, fiel jedoch wieder hin und begann auf russisch und tatarisch zu schimpfen. Immer reichlicher floß das Blut an seinem Körper herab und unter ihm hin. Die Kosaken traten heran und öffneten ihm den Gurt. Auch sein Kamerad Nasarka wollte zufassen, konnte jedoch lange den Säbel nicht in die Scheide stecken, immer wieder stieß er daneben. Die Schneide des Säbels troff von Blut.
Die Tschetschenzen, rothaarig, mit gestutzten Schnurrbärten, lagen tot und verstümmelt da. Nur der eine, der auf Lukaschka geschossen hatte, lebte noch, obschon er ganz mit Wunden bedeckt war. Überströmt vom Blute, das sich aus einer Wunde unter dem rechten Auge über sein Gesicht ergoß, saß er, die Zähne fest zusammenpressend, bleich und finster da, blickte mit den rollenden großen Augen wie ein angeschossener Habicht wütend nach allen Seiten und hielt, noch immer an Verteidigung denkend, den Dolch in der Hand. Der Fähnrich näherte sich ihm, als wolle er um ihn herumgehen, und schoß mit einer raschen Bewegung seine Pistole in das Ohr des Verwundeten ab. Der Tschetschenze wollte sich auf ihn stürzen, doch war es zu spät – er fiel tot zu Boden.
Die Kosaken, die ganz außer Atem gekommen waren, schleppten die Toten auf die Seite und nahmen ihnen die Waffen ab. Jeder dieser rothaarigen Tschetschenzen war ein Mensch, und jeder hatte seinen besonderen Gesichtsausdruck. Lukaschka wurde nach dem Wagen gebracht, er schimpfte noch immer auf russisch und tatarisch.
»Schwatz nicht, ich erwürge dich mit meinen Händen! Du sollst mir nicht entgehen, Kerl! Anna seni!« schrie er laut, doch verstummte er bald vor Schwäche.
Olenin ritt nach Hause. Am Abend wurde ihm gesagt, Lukaschka sei dem Tode nahe, doch habe ein Tatar von jenseits des Flusses sich erboten, ihn mit Kräutern zu heilen.
Die Leichen wurden nach dem Gemeindeamt gebracht. Weiber und Kinder eilten herbei, um sie zu betrachten.
Olenin kam in der Dämmerung nach Hause zurück und war noch ganz wirr im Kopfe von alledem, was er gesehen. Aber je näher die Nacht heranrückte, desto lebendiger wurden in ihm wieder die Erinnerungen des gestrigen Festtages. Er sah durchs Fenster: Marianka ging, in der Wirtschaft aufräumend, vom Hause nach der Vorratskammer. Die Mutter war nach dem Weingarten gegangen, der Vater war auf dem Gemeindeamt. Olenin wartete nicht, bis Marianka mit ihrer Arbeit fertig war, sondern suchte sie auf. Sie war in der Wohnung und stand, den Rücken ihm zugekehrt, da. Olenin meinte, sie schäme sich.
»Marianka,« sagte er – »hör', Marianka: darf ich zu dir hereinkommen?«
Sie wandte sich plötzlich um: in ihren Augen standen kaum wahrnehmbare Tränen. Auf ihrem Gesichte lag ein Ausdruck der Trauer, der ihre Züge verschönte. Schweigend, voll Würde, sah sie auf Olenin.
»Marianka, ich bin gekommen ...« wiederholte dieser.
»Laß mich,« sagte sie. Ihr Gesicht veränderte sich nicht, doch stürzten ihr nun die Tränen aus den Augen.
»Was ist dir? Warum weinst du?«
»Warum ich weine?« wiederholte sie mit rauher, harter Stimme. »Kosaken sind getötet worden, darum weine ich!«
»Du meinst Lukaschka?« sagte Olenin.
»Geh! Was willst du noch?«
»Marianka!« sagte Olenin und trat näher auf sie zu.
»Geh, Abscheulicher!« schrie sie ihn an, stampfte mit dem Fuße auf und trat drohend auf ihn zu. Und soviel Abneigung, Verachtung und Zorn lag in ihrer Miene, daß Olenin plötzlich klar erkannte, er habe nichts mehr zu hoffen, und sein erster Eindruck, daß dieses Weib für ihn unnahbar sei, habe der Wahrheit entsprochen.
Olenin brachte kein Wort mehr über die Lippen und verließ rasch das Zimmer.