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Vorwort
[zur Gesamtausgabe]

Ein Gewaltiger, wie er aus einem Volke kaum einmal im Laufe eines Jahrhunderts hervorgeht, ist in dem jüngst verstorbenen Grafen Leo Nikolajewitsch Tolstoj dahingegangen. Dichter und Sittenlehrer in einer Person, hat er durch mehr als ein halbes Jahrhundert das geistige Leben seines Volkes, das mit seinen nahezu 150 Millionen Seelen fast ein Zehntel der Menschheit umfaßt, nach vielen Richtungen beeinflußt und nicht nur oben, in der dünnen Schicht der Gebildeten, sondern bis in die tiefsten Tiefen der Gesellschaft hinein die Gemüter bewegt. Leo Tolstoj war das verkörperte Gewissen seines in so mancher Hinsicht noch immer die Fesseln der Unkultur tragenden Landes, der Warner und Mahner, der Prediger edleren Menschentums, dem hoch und niedrig lauschte, wenn er wider die Laster und Unsitten, die Verwirrungen und Greuel, die er rings um sich sah, seine Prophetenstimme erhob.

Aber was Tolstoj sagte oder schrieb, ging nicht nur sein engeres Vaterland – es ging die ganze Welt an. Das Geisteswerk dieses Großen ist Menschheitsgut im alleredelsten Sinne. Man braucht sich nicht unbedingt zu den Bekennern seiner Lehre zu gesellen – groß und schön muß man sie schon finden, wie die Predigt auf dem Berge, der so wenige nachleben, die sich doch Christen nennen.

Man hat oft zwischen dem Dichter und dem Ethiker Tolstoj eine Scheidelinie ziehen wollen, hat diesen verworfen und jenen um so lauter gerühmt. Mit Unrecht – denn wenn jemals einer der Großen der Menschheit sein Leben lang ein Mann aus einem Guß gewesen ist, so war es sicherlich Tolstoj. Seine ersten Werke wie seine letzten sind von dem einen großen Ziel beseelt: den Menschen sittlich zu heben, das Leben schön, und herrlich zu gestalten – im ethischen Sinne. Gerade in seinen erzählenden Dichtungen, seinen Novellen, Romanen, Märchen, Parabeln tritt seine Lehre von der Bruderliebe, die alles umfaßt, was Menschenantlitz trägt, besonders ergreifend und im Innersten packend hervor. Das Gewand der Poesie verhüllt das Rauhe und Harte der sittlichen Forderung und erobert die Herzen für sie durch die Einwirkung auf das ästhetische Empfinden.

Tolstoj selbst hat bekanntlich in seinen späteren Jahren sich über die Werke seiner ersten Schaffensperiode abgünstig ausgesprochen. Aber die Welt ist sich längst einig darüber, daß der Dichter da sich selbst Unrecht getan hat: gerade diese köstliche Verbindung von feinsten dichterischen Qualitäten und tief sittlichem Ernst macht die Erzeugnisse jener ersten Zeit zu einer so fesselnden Lektüre. Und daß Tolstoj auch später, als ethischer Wahrheitkünder, des dichterischen Handwerkszeugs sich mit virtuoser Meisterschaft bediente, beweisen die Erzählungen aus den beiden letzten Jahrzehnten seines langen Patriarchenlebens zur Genüge.

Die vorliegenden drei Bände vereinigen eine Reihe der besten Erzählungen Tolstojs, die das Genie des verstorbenen Meisters von der glänzendsten Seite zeigen. Die herzerfrischenden » Kosaken«, mit denen der erste Band der Sammlung beginnt, stammen aus der Soldatenzeit des Autors – Tolstoj war bekanntlich in seiner Jugend Artillerieoffizier und hat es als solcher bis zum Batteriechef gebracht. In der fesselnden Erzählung » Familienglück« zeigt sich bereits deutlich der ethische Kritiker und Denker, in dem jedoch auch die Freude am poetischen Können noch frisch und lebendig ist. Der zweite Band enthält den ersten Teil des großen, erschütternden Romans » Die Auferstehung«, der bei seinem Erscheinen in Rußland und weit über seine Grenzen hinaus so gewaltiges Aufsehen erregte. Der dritte Band bringt den Schluß dieses Romanes, an den sich zunächst die aus der Frühzeit des Dichters stammende kleine Skizze » Im Schneesturm« anschließt. Sie bietet ein Beispiel dafür, wie Tolstoj die Natur in ihrem innersten Kern zu erfassen und das kleine Menschenwesen im Kampfe mit ihr, der Großen, Gewaltigen, Unbegrenzten zu schildern weiß. Es schließen sich einige der Volkserzählungen an, die Tolstojs Morallehre zumeist im Gewande der Parabel vorführen, glitzernd und schimmernd von poetischem Golde und dem schlichtesten Gemüte verständlich.

Die hier ausgewählten Erzählungen – denen sich weitere anschließen sollen – erscheinen wohl geeignet, von der kraftvollen Eigenart dieses »größten Wahrheitsuchers aller Zeiten«, wie Prof. Alexander Brückner den genialen Russen genannt hat, eine Vorstellung zu geben. An Ibsen und Björnson, die der Verlag bereits früher in gleichem Gewande hat erscheinen lassen, reiht Leo Tolstoj sich nun als Dritter an. Ein Großer und Reicher wie sie, wird er beim deutschen Volke für das Gold seines Geistes und Herzens sicher die rechte Schätzung finden.

Juli 1911.
August Scholz.


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