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Die männliche Bevölkerung des Dorfes verbringt ihre Zeit auf Streifzügen und auf den Wachthäusern oder »Posten«, wie die Kosaken sagen. Eben jener Lukaschka der »Greifer«, von dem die beiden Alten im Dorfe gesprochen hatten, stand kurz vor Anbruch der Nacht auf dem Wachtturm des Postens von Nischne-Protozk. Dieser Posten lag dicht am Ufer des Terek. Mit den Ellenbogen auf die Umgitterung des Wachtturmes gestützt, blickte er bald, die Augen zusammenkneifend, in die Ferne über den Terek, bald hinab zu seinen Kameraden, den Kosaken, und wechselte ab und zu ein paar Worte mit ihnen. Die Sonne näherte sich schon dem schneebedeckten Bergrücken, der in blendendem Weiß über den gekräuselten Wolkenmassen schimmerte. Die Wolken, die seinen Fuß umwogten, nahmen mehr und mehr dunkle Schattentöne an. Die Luft nahm, wie stets gegen Abend, an Durchsichtigkeit zu. Aus dem dicht verwachsenen Walde wehte es frisch herüber, um den Posten selbst jedoch war es noch heiß. Die Stimmen der plaudernden Kosaken klangen heller und blieben gleichsam in der Luft hängen. Der braune, raschfließende Terek hob sich mit seiner ganzen beweglichen Wassermasse immer schärfer von den unbeweglichen Ufern ab. Er begann zu fallen, da und dort sah man den feuchten braunen Sand an den Ufern und Sandbänken. Gerade dem Wachthause gegenüber, auf dem jenseitigen Ufer, war alles still und einsam; nur das niedrige Schilfrohr zog sich in endloser Einförmigkeit bis dicht an die Berge hin. Ein wenig seitwärts sah man an dem niedrigen Ufer die Lehmhäuser, die flachen Dächer und trichterförmigen Schornsteine eines Tschetschenzen-Auls. Die scharfen Augen des Kosaken auf dem Wachtturme verfolgten im abendlichen Rauche des friedlichen Auls die beweglichen Gestalten der von ferne sichtbaren Tschetschenzenweiber in ihren blauen und roten Kleidern.
Stündlich mußten die Kosaken darauf gefaßt sein, daß die Abreken den Fluß überschritten und sie überfielen, was zumal im Mai leicht geschehen konnte, da der Wald am Terek um diese Zeit so dicht ist, daß ein Fußgänger darin nur mit Mühe vorwärtskommt und der Fluß so seicht hinfließt, daß er an verschiedenen Stellen in einer Furt passiert werden kann. Vor zwei Tagen bereits war ein Kosak mit einem Zirkular des Regimentskommandeurs angesprengt gekommen, in dem mitgeteilt wurde, daß nach den Bekundungen der Spione eine acht Mann starke Bande den Terek überschreiten wolle und darum ganz besondere Wachsamkeit geboten sei. Dennoch befleißigte man sich auf den Posten durchaus keiner besonderen Vorsicht. Die Kosaken lagen ganz so wie zu Hause dem Fischfang und der Jagd ob oder zechten lustig, keiner dachte daran, sein Pferd zu satteln oder seine Waffen bereit zu halten. Nur das Pferd des Wachthabenden erging sich gesattelt, mit gekoppelten Beinen, im Schlehengebüsch am Waldrand, und der Kosak auf dem Wachtturm trug seine Tscherkeska (Jacke) nebst Säbel und Gewehr. Der Unteroffizier, ein hochgewachsener, hagerer Kosak mit ungewöhnlich langem Rücken und kurzen Beinen und Armen, saß mit aufgeknöpftem Beschmet auf der Erderhöhung vor dem Hause, hielt die Augen mit dem einem Vorgesetzten wohl anstehenden Ausdruck von Behäbigkeit und Langerweile geschlossen und stützte seinen Kopf bald mit der einen, bald mit der andern Hand. Ein bejahrter Kosak mit breitem, schwarzem, hier und da schon ergrauendem Vollbart, im bloßem Hemd, das mit einem schwarzen Riemen umgürtet war, lag dicht am Wasser und schaute lässig nach dem einförmig rauschenden, gewundenen Laufe des Terek. Die übrigen, gleichfalls von der Sonnenglut ermattet und halb nackt, spülten ihre Wäsche im Terek, oder flochten an einem Zaumzeug, oder lagen im heißen Sande am Ufer und summten ein Lied vor sich hin. Einer der Kosaken, ein Bursche mit magerem, von der Sonne ganz schwarz gebranntem Gesichte, lag, offenbar bis zur Sinnlosigkeit betrunken, auf dem Rücken an jener Wand des Hauses, die zwei Stunden vorher noch im Schatten gelegen hatte, auf die aber jetzt brennend heiß die schrägen Strahlen der Abendsonne fielen.
Lukaschka, der auf dem Wachtturme stand, war ein hochgewachsener, hübscher Bursche von zwanzig Jahren, der seiner Mutter sehr ähnlich war. Sein Gesicht und seine ganze Statur brachten trotz der jugendlich eckigen Formen ein großes Maß von physischer und sittlicher Kraft zum Ausdruck. Obschon er erst vor kurzem bei der Truppe eingetreten war, verriet doch sein unternehmender Gesichtsausdruck und die ruhige Sicherheit seiner Haltung, daß er sich bereits jene mit Stolz gepaarte Strammheit angeeignet hatte, die allen waffentragenden Leuten eigen ist. Sein weiter Tscherkessenrock war da und dort zerrissen, die Mütze trug er nach Tschetschenzenart im Nacken, die Strümpfe waren bis unterhalb des Knies herabgelassen. Seine Kleidung war nicht eben reich, doch saß sie ihm vortrefflich, mit jenem besonderen Schick, den die Kosaken den tschetschenzischen Dschigiten abgesehen hatten. Bei einem echten Dschigiten ist die gesamte Kleidung immer bequem, dabei zerlumpt und vernachlässigt; nur die Waffen sind reich und kostbar. Kleider und Waffen weiß der Dschigit stets so anzulegen, daß sie unter sich harmonieren und ihn als einen »ganzen Kerl« erscheinen lassen. Einem Kosaken oder einem Bergbewohner fällt das sogleich in die Augen. Lukaschka besaß, wie gesagt, diesen besonderen Schick des Dschigiten. Die gefalteten Hände im Nacken haltend und die Augen zusammenkneifend, spähte er unverwandt nach dem fernen Aul hinüber. Im einzelnen betrachtet, waren seine Gesichtszüge nicht schön; wer jedoch seine stattliche Haltung und sein kluges Gesicht mit den schwarzen Brauen im ganzen erfaßte, mußte unwillkürlich bekennen: »Ja, ein ganz prächtiger Bursche!«
»Seht doch, wie viel Weiber da im Aul herumwimmeln!« sprach er mit lauter Stimme, ohne sich an jemand im besondern zu wenden, wobei er lässig die blendend weißen Zähne zeigte.
Nasarka, der unten lag, hob sogleich hastig den Kopf empor und bemerkte:
»Sie gehen wohl jetzt nach Wasser.«
»Man sollte sie mal durch 'nen Schuß erschrecken,« sagte Lukaschka mit spöttischem Lächeln, »die würden schön auseinanderfahren!«
»Das Gewehr trägt nicht so weit.«
»Meinst du? Meins trägt noch viel weiter. Sie werden nächstens Feiertag haben, dann geh' ich zu Girej-Chan auf Besuch und werde da Hirsebier trinken,« sagte Lukaschka und jagte ärgerlich die Mücken fort, die sich auf ihn gesetzt hatten.
Ein Rauschen im Dickicht erregte die Aufmerksamkeit der Kosaken. Ein scheckiger Hühnerhund-Bastard, der eine Spur verfolgte und eifrig mit dem haarlos gewordenen Schweife wedelte, lief auf das Wachthaus zu. Lukaschka erkannte den Hund Onkel Jeroschkas, eines alten Jägers, der sein Nachbar war, und gewahrte gleich hinter ihm im Dickicht den Alten selber.
Onkel Jeroschka war ein Kosak von riesenhaftem Wuchse, mit dichtem, ganz weißem Vollbart und breiten Schultern. Im Walde, wo man ihn mit niemand vergleichen konnte, erschien er nicht eben groß, so sehr standen seine gewaltigen Gliedmaßen in harmonischem Verhältnis zueinander. Er trug einen zerrissenen, hochgeschürzten Kittel, an den Füßen eine Art Schuhe aus rohem Hirschfell, die nach Art von Fußlappen mit Schnüren festgebunden waren, und eine zerfetzte weiße Fellmütze. Auf dem Rücken trug er über der einen Schulter eine Art Schild mit einem darauf gemalten Tiere, der ihm beim Beschleichen des Fasanen gute Hilfe leistete, und einen Beutel mit einem Hühnchen zur Anlockung des Habichts; über der anderen Schulter trug er an einem Riemen eine erlegte Wildkatze; hinten am Gürtel war ein kleiner Beutel mit Kugeln, Pulver und Brot, ferner ein Pferdeschweif zum Verscheuchen der Mücken, ein großer Dolch in durchlöcherter, mit eingetrocknetem Blut befleckter Scheide nebst zwei erlegten Fasanen befestigt. Als er das Wachthaus erblickte, machte er halt.
»Heda, Ljam!« rief er dem Hunde zu, mit einer so volltönenden Baßstimme, daß weithin im Walde ihr Echo erscholl. Dann warf er sein mächtiges Perkussionsgewehr, von den Kosaken »Flinta« genannt, über die Schulter und lüftete die Mütze.
»Wie geht's auf dem Posten, meine Lieben? He?« wandte er sich mit derselben vollen und fröhlichen Stimme an die Kosaken. Obschon er sich gar nicht anstrengte, sprach er doch so laut, als rede er mit jemand, der auf dem andern Flußufer stand.
»Gut geht es, Onkelchen, gut!« antworteten ihm von verschiedenen Seiten die munteren jungen Stimmen der Kosaken.
»Was gab's zu sehen? Erzähl' mal!« schrie Onkel Jeroschka, während er sich mit dem Ärmel seiner Tscherkeska den Schweiß von dem roten, breiten Gesichte wischte.
»Denk dir, Onkel: hier auf der Platane hat ein Habicht sein Nest! Jeden Abend sieht man ihn hier kreisen!« sagte Nasarka, wobei er vielsagend blinzelte und mit Fuß und Schulter zuckte.
»Was du sagst!« sprach der Alte ungläubig.
»'s ist wahr, Onkel, du mußt ihn mal aufs Korn nehmen!« bekräftigte Nasarka nochmals mit spöttischem Lächeln.
Die Kosaken lachten hell auf. Der Spaßmacher Nasarka hatte gar keinen Habicht gesehen, es war jedoch bei den jungen Kosaken auf der Linie von jeher Brauch, den Onkel Jeroschka jedesmal, wenn er zu ihnen kam, zu necken und anzuführen.
»Ach, du Narr, du schwindelst ja!« rief Lukaschka vom Wachtturm her zu Nasarka hinunter.
Nasarka schwieg sogleich still.
»Ja, dann will ich ihn eben mal aufs Korn nehmen,« ließ der Alte sich zum Vergnügen sämtlicher Kosaken vernehmen. »Und habt ihr nicht auch Wildschweine gesehen?«
»Ach was, Wildschweine gesehen!« sagte der Unteroffizier, der sehr zufrieden damit war, endlich ein bißchen Zerstreuung zu bekommen. Er wandte sich herum und kratzte mit beiden Händen seinen langen Rücken. »Wir haben hier auf Abreken zu lauern, nicht auf Wildschweine,« sagte er. »Hast du nichts von ihnen gehört, Onkel, wie?« fügte er hinzu, wobei er ohne Anlaß mit den Augen blinzelte und die dichtstehenden weißen Zähne zeigte.
»Abreken?« erwiderte der Alte – »nein, ich habe nichts gehört. Wie steht's denn, habt ihr nicht 'nen Schluck Wein da? Laß mich mal trinken, mein Lieber! Man wird, weiß Gott, müde bei der Jägerei. Ich bring' dir auch frisches Wildbret, wart's ab – bring' dir wirklich welches! Gib schon her den Wein,« fügte er hinzu.
»Du willst also hier wirklich auf die Pirsch gehen?« fragte der Unteroffizier und tat, als habe er die Bitte des andern nicht gehört.
»Ja, das wollte ich wohl, so eine Nacht hindurch,« versetzte Onkel Jeroschka. »So Gott will, schieß' ich was zum Feste, dann sollst auch du etwas abhaben, wirklich!«
»Onkel! Heda, Onkel!« rief Luka laut von oben her, daß die Kosaken sich alle nach ihm umwandten – »geh doch mal nach dem oberen Durchfluß, dort haust ein starkes Rudel Wildschweine. Ich lüge nicht, weiß Gott! Vor ein paar Tagen hat einer von unsern Kosaken eins geschossen, ich sag' dir die Wahrheit,« fügte er hinzu, während er seine Büchse auf dem Rücken zurechtschob. Man hörte es am Tone seiner Worte, daß er nicht scherzte.
»Ah, da ist ja auch Lukaschka, der Greifer!« sagte der Alte und blickte hinauf. »Wo war es, sagst du, daß er das Schwein geschossen hat?«
»Ganz dicht am Graben,« sagte Lukaschka. »Und du hast nicht mal eins gesehen – bist wohl noch zu klein, Onkel! Wir gingen so am Graben hin, als es mit einem Mal durchs Gebüsch brach. Ich hatte meine Büchse im Futteral, Iljaska aber knallte drauf los ... Ich zeig' dir die Stelle, Onkel, es ist nicht weit dahin, wart' mal. Ich kenne die Fährte ganz genau, Alter! Onkel Mossew,« sagte er in bestimmtem, fast befehlendem Tone zum Unteroffizier – »es ist Zeit zur Ablösung!« Und ohne erst den Befehl abzuwarten, nahm er sein Gewehr auf und stieg vom Wachtturm herab.
»Komm herunter!« sagte der Unteroffizier nachträglich und sah sich dann um. »Jetzt ist an dir die Reihe, nicht wahr, Gurka? Geh also! Ist ein fixer Bursche geworden, dein Lukaschka,« fuhr der Unteroffizier, zu dem Alten gewandt, fort. »Ist immer unterwegs – ganz wie du, hat keine Ruhe zu Hause!«