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33.

Am nächsten Morgen erwachte Olenin spät. Die Wirtsleute waren nicht mehr da. Er ging nicht auf die Jagd, sondern nahm irgendein Buch vor, oder er ging auf die Freitreppe hinaus, um dann wieder ins Zimmer zurückzukehren und sich auf sein Bett zu legen. Wanjuscha dachte, er sei krank. Gegen Abend erhob sich Olenin entschlossen, begann zu schreiben und schrieb bis spät in die Nacht hinein. Er schrieb einen Brief, den er jedoch nicht absandte, da doch niemand verstanden hätte, was er sagen wollte, und auch niemand außer ihm, Olenin selbst, ein Interesse daran hatte, es zu verstehen. Folgendes stand in dem Briefe:

»Man schreibt mir aus Rußland so mitleidsvolle Briefe; man fürchtet, ich werde zugrunde gehen, nachdem ich mich in dieser Einöde vergraben. Man sagt von mir: er wird verbauern, wird sich ganz losmachen von allem, wird zu trinken anfangen und womöglich eine Kosakin heiraten. Jermolow hat ganz recht, wird man sagen: wer zehn Jahre lang im Kaukasus dient, trinkt sich entweder zuschanden, oder heiratet die erste beste Dirne. Entsetzlich! Ja, ich muß wirklich auf der Hut sein, um hier nicht zugrunde zu gehen, denn mir steht ja möglicherweise das große Glück bevor, dereinst Gemahl der Gräfin B., oder Kammerherr, oder Adelsmarschall zu werden. Wie kläglich kommt ihr mir doch alle vor, wie widerwärtig! Ihr habt ja überhaupt keine Ahnung, was Glück, was Leben ist! Einmal muß man das Leben doch in seiner ganzen kunstlosen Schönheit kennen lernen! Man muß gesehen und begriffen haben, was ich hier jeden Tag vor mir sehe: den ewigen, unerreichbaren Schnee dort oben auf den Bergen, und das Weib in seiner ursprünglichen, majestätischen Schönheit, in der auch das erste Weib aus den Händen des Schöpfers hervorgegangen sein muß. Dann wird sich zeigen, wer denn eigentlich zugrunde geht, wer in der Wahrheit lebt oder in der Lüge: ihr oder ich. Wenn ihr nur wüßtet, wie widerwärtig und bedauernswert ihr mir erscheint in eurer Verblendung! Sobald ich mir statt meiner Hütte, meines Waldes und meiner Liebe diese Salons vergegenwärtige, diese Frauen mit dem pomadisierten Haar über den untergeschobenen falschen Locken, diese unnatürlich verzogenen Lippen, diese versteckten und verkümmerten schwachen Glieder und dieses Salongeschwätz, das eine Unterhaltung sein will und doch kein Recht auf diesen Namen hat – dann erfüllt mich ein unerträglicher, grenzenloser Ekel. Ich sehe diese stumpfsinnigen Gesichter, diese heiratsfähigen reichen Dämchen, deren Miene zu sagen scheint: Tut nichts, immer heran, hab' keine Angst, wenn ich auch ein reiches Mädchen bin! Ich sehe dieses Verteilen der Plätze, dieses schamlose Zusammenkuppeln der Pärchen und die ewige Klätscherei und Heuchelei; ich sehe diese Abrichterei, alle diese Regeln, wem man ›guten Tag‹ zu wünschen, wem man die Hand zu reichen, wem man nur zuzunicken, mit wem man zu reden hat; und ich sehe endlich diese ewige, in Fleisch und Blut übergegangene Langeweile, die sich von Geschlecht zu Geschlecht vererbt. Und alles dies praktiziert ihr mit vollem Bewußtsein, und ihr seid davon überzeugt, daß es so und nicht anders sein dürfe. So begreift doch nur das eine, glaubt an das eine: man muß sehen und verstehen, was Wahrheit und Schönheit ist, dann zerstiebt alles das, was ihr redet und denkt, was ihr an Wünschen für mein und euer Glück hegt, in lauter Staub und verflüchtigt sich in nichts. Glücklich sein heißt nichts anderes, als mit der Natur im Einklang sein, sie sehen, mit ihr im Verkehr stehen. ›Er ist, Gott verhüte es, imstande, eine einfache Kosakin zu heiraten und der Welt für immer zu entsagen‹ – ja, ich kann es mir vorstellen, daß sie so von mir reden und mir ihr herzliches Beileid zollen. Ich aber habe nur den einen Wunsch: nach eurer Auffassung völlig verloren zu gehen! Ich wünsche nichts sehnlicher, als solch eine einfache Kosakin zu heiraten, und ich wage es nur darum nicht, weil das schon ein Übermaß des Glücks wäre, dessen ich nicht wert bin.

»Drei Monate ist es nun her, seit ich die Kosakin Marianka zum ersten Male erblickt habe. Die Begriffe und Vorurteile jener Welt, aus der ich hervorgegangen bin, waren noch frisch in mir. Ich hätte damals nicht geglaubt, daß ich dieses Mädchen liebgewinnen könnte. Ich schwelgte in ihrem Anblick, wie ich in der Schönheit der Berge und des Himmels schwelgte, und ich konnte nicht anders, da sie so schön war wie jene. Dann fühlte ich, daß der Anblick dieser Schönheit für mich zu einer Lebensnotwendigkeit wurde, und ich begann mich zu fragen, ob ich sie nicht liebe. Doch konnte ich nichts von alledem in mir entdecken, was nach meiner Vorstellung zum Wesen dieses Gefühls gehört. Was ich empfand, hatte nichts gemein mit der Sehnsucht des Einsamen, mit dem Verlangen nach dem Ehestande; es war nicht platonische und noch weniger sinnliche Liebe, was ich fühlte. Ich hatte das Bedürfnis, sie zu sehen und zu hören, zu wissen, daß sie in meiner Nähe weilte, und ich war, wenn nicht glücklich, so doch ruhig. Nach jener Abendgesellschaft, bei der ich mit ihr zusammen war und sie berührte, fühlte ich, daß zwischen mir und ihr eine unzerreißbare, wenn auch noch unausgesprochene Beziehung bestand, gegen die anzukämpfen mir unmöglich war. Wohl versuchte ich noch, mich dagegen zu wehren; ich sagte zu mir: kann ich wohl ein Weib lieben, das meine geistigen Lebensinteressen niemals verstehen wird? Kann ich ein Weib nur um seiner Schönheit willen lieben, kann es Liebe geben zu einer weiblichen Statue? So fragte ich mich – und dabei liebte ich sie schon, wenn ich auch meinem Gefühle noch nicht traute.

»Nach der Abendgesellschaft, bei der ich zum ersten Male mit ihr gesprochen hatte, änderten sich unsere Beziehungen. Vorher war sie für mich ein mir fremder, erhabener Gegenstand der mich umgebenden Natur gewesen; nach jener Abendgesellschaft wurde sie für mich meinesgleichen, ein Mensch. Ich traf sie häufig, redete mit ihr, verrichtete mitunter irgendeine Arbeit im Haushalt ihres Vaters und brachte ganze Abende bei ihnen zu. Auch bei diesem engeren Verkehr blieb sie in meinen Augen stets ebenso rein, ebenso unnahbar und erhaben. Auf alle Fragen antwortete sie jederzeit gleich ruhig, gleich stolz und unverändert heiter. Zuweilen war sie freundlich gegen mich, zumeist jedoch lag in ihrem Blick, ihren Worten, ihren Bewegungen eine Gleichgültigkeit, in der zwar nichts von Geringschätzung lag, die aber doch bedrückend auf mich wirkte. Tag für Tag bemühte ich mich, ein gezwungenes Lächeln auf den Lippen, meine Gefühle zu verbergen, und führte leichte Scherzreden mit ihr, während die Qual der Leidenschaft und der Begierde mein Herz zerfleischte. Sie merkte, daß ich mich verstellte, doch sie sah mich gleichwohl so heiter, so gerade und unbefangen an. Es war für mich eine peinliche Lage. Ich wollte ihr gegenüber nicht lügen und ihr alles sagen, was ich fühlte und dachte. Ich war in einem Zustande höchster Erregung; es war in den Weingärten. Ich begann ihr von meiner Liebe in Worten zu reden, deren ich nur mit tiefer Beschämung gedenke. Ich schäme mich dieser Worte, die ich nie hätte aussprechen dürfen, da sie unendlich höher steht als diese Worte und das Gefühl, das ich durch sie ausdrücken wollte. Ich verstummte, und von diesem Tage an wurde meine Lage unerträglich. Ich wollte mich selbst nicht erniedrigen, indem ich den früheren oberflächlichen Verkehr mit ihr fortsetzte, und ich fühlte doch auch, daß ich für ein schlichtes, natürliches Verhältnis zu ihr noch nicht herangereift war. Ganz verzweifelt fragte ich mich: Was soll ich tun? In meinen törichten Träumereien stellte ich sie mir bald als meine Geliebte, bald als meine Gattin vor, wies aber den einen wie den andern Gedanken entrüstet von mir. Sie zur Dirne zu machen, wäre furchtbar gewesen. Das wäre ein Mord. Sie zur Gattin Dmitrij Andrejewitsch Olenins, zur Dame zu machen, wie eine der hiesigen Kosakinnen, die einer unserer Offiziere geheiratet hat, wäre noch schlimmer. Ja, wenn ich ein Kosak, ein Lukaschka werden könnte, wenn ich Pferde stehlen, mich in Rotwein bezechen, Lieder singen, Menschen töten und betrunken für eine Nacht zu ihr durchs Fenster steigen könnte, ohne mir Gedanken darüber zu machen, wer ich bin, und wozu ich auf der Welt bin – das wäre etwas anderes: dann könnten wir einander verstehen, dann könnte ich glücklich sein. Ich habe es versucht, mich diesem Leben hinzugeben, doch da fühlte ich meine Schwäche, meine Gebrechlichkeit nur um so deutlicher. Ich kann mich selbst und meine verworrene, unharmonische, mißgestaltete Vergangenheit nicht vergessen. Und meine Zukunft stellt sich mir noch hoffnungsloser dar. Tag für Tag habe ich die fernen Schneegipfel und dieses herrliche, glückliche Weib vor Augen. Und nicht für mich ist dieses einzige in der Welt mögliche Glück, nicht für mich ist dieses Weib bestimmt! Das Schrecklichste und zugleich das Köstlichste an meiner Lage ist, daß ich für sie, diese Herrliche, Gefühl und Verständnis habe, während sie mich doch niemals verstehen wird. Nicht, als ob sie geistig zu niedrig stände, um mich zu verstehen – nein, es besteht einfach für sie keine Notwendigkeit, mich zu verstehen. Sie ist glücklich; sie ist, wie die Natur, ebenmäßig, ausgeglichen, ruhig, ist sich selbst genug. Und ich, ein verstümmeltes, schwächliches Geschöpf – ich sollte es wagen, von ihr zu verlangen, daß sie mein Krüppelwesen und meine Qualen versteht!

»Die Nächte verbrachte ich schlaflos, trieb mich zweck- und ziellos vor ihren Fenstern umher und wußte selbst nicht, was mit mir vorging. Am achtzehnten rückte unsere Kompagnie dann zu einem Streifzuge aus. Ich verbrachte drei Tage außerhalb des Dorfes. Ich war in so trüber Stimmung, alles war mir gleichgültig. Lieder, Kartenspiel, Trinkgelage, all das Gerede von Auszeichnungen und was so alles bei der Truppe üblich ist, war mir noch mehr zuwider als sonst. Ich bin jetzt nach Hause zurückgekehrt, ich habe sie, meine Hütte, Onkel Jeroschka, die Schneeberge von meiner Freitreppe aus wiedergesehen, und ein so starkes, neues Gefühl der Freude erfüllte mich, daß mir alles klar wurde. Ich liebe dieses Weib mit echter, wahrer Liebe, zum ersten und einzigen Male in meinem Leben. Ich weiß, wie es um mich steht. Ich fürchte nicht, mich durch mein Gefühl zu erniedrigen, ich schäme mich meiner Liebe nicht und bin stolz auf sie. Ich bin nicht schuld daran, daß ich mich verliebt habe, es ist wider meinen Willen geschehen. Ich suchte mich vor meiner Liebe in die Selbstverleugnung zu retten, ich dachte mir da eine besondere, selbstlose Freude an der Liebe des Kosaken Lukaschka aus, und ich stachelte damit nur meine eigene Liebe und Eifersucht an. Das ist nicht die ideale, die sogenannte hehre Liebe, die ich früher empfunden habe, nicht jenes Gefühl der Zuneigung, bei dem man sich an seiner eigenen Liebe ergötzt, in sich selbst die Quelle seines Gefühls weiß und auf sich selbst gestellt bleibt. Auch dieses Gefühl habe ich gekostet. Noch weniger aber ist es das Verlangen nach Genuß – nein, es ist etwas völlig anderes. Vielleicht liebe ich in ihr die Natur, die Verkörperung alles Schönen in der Natur; doch ich bin dabei nicht Herr meines Willens, durch mich liebt vielmehr irgendeine Elementargewalt, liebt die ganze große Gotteswelt dieses Mädchen. Die ganze Natur preßt gleichsam diese Liebe in meine Seele hinein und spricht: ›liebe!‹ Ich liebe sie nicht mit dem Verstande, nicht mit der Phantasie, sondern mit meinem ganzen Wesen. Indem ich sie liebe, fühle ich mich als einen unlöslichen Teil der gesamten glücklichen Gotteswelt. Ich habe früher von den neuen Überzeugungen geschrieben, die ich aus meinem einsamen Leben gewonnen hätte; niemand weiß, mit welcher Mühe ich mir diese Überzeugungen errungen habe, mit welcher Freude ich mir ihrer bewußt wurde und den neuen Lebensweg offen vor mir liegen sah. Ich besaß nichts Teureres als diese meine Überzeugungen. Nun ... und die Liebe kam, und sie sind verschwunden, und ich empfinde nicht einmal ein Bedauern über ihr Verschwinden. Ich kann jetzt kaum begreifen, daß ich jemals eine so einseitige, kalte, verstandesmäßige Denkweise wertschätzen konnte. Die Schönheit kam, und meine ganze mühselig erworbene Lebensweisheit verwehte in alle Winde! Und es tut mir nicht einmal leid um das, was ich verlor. Diese Selbstverleugnung – sie ist nichts als Unsinn und dummes Zeug. Das alles ist nichts als Hochmut, ein Rettungsanker für selbstverschuldetes Unglück, ein Ableitungsmittel für den Neid auf fremdes Glück. Für andere leben, Gutes tun! Wozu? Wenn doch in meiner Seele nur die eine Liebe zu mir selbst lebt und nur der eine Wunsch, sie zu lieben, mit ihr zu leben, ihr Leben zu leben. Nicht für andere, nicht für Lukaschka wünsche ich jetzt das Glück. Ich liebe jetzt diese andern nicht. Früher hätte ich mir gesagt, daß das schlecht ist. Ich hätte mich mit der Frage gequält: was wird aus ihr, aus mir, aus Lukaschka werden? Jetzt ist mir alles gleichgültig. Ich lebe nicht nach eigenem Willen, sondern es gibt etwas, das stärker ist als ich, das mich leitet. Ich leide wohl Qualen – aber dafür lebe ich jetzt, während ich früher tot war. Heute noch will ich hinübergehen und ihr alles sagen.«


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