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20.

Tags darauf ging Olenin allein, ohne den Alten, nach der Stelle, wo er mit diesem den Hirsch aufgescheucht hatte. Statt den Weg durchs Tor zu nehmen, kletterte er, wie alle Leute im Dorfe es taten, über die Dornenhecke hinter dem Hause. Und noch hatte er nicht Zeit gefunden, die Dornen, die sich in seiner Tscherkeska festgesetzt hatten, zu entfernen, als plötzlich sein vorauseilender Hund zwei Fasanen aufjagte. Kaum hatte er das Gebüsch betreten, als die Fasanen sich auf Schritt und Tritt vor ihm erhoben. Der Alte hatte ihm Tags vorher diese Stelle nicht gezeigt, weil er hier der Jagd mit dem Schirm obzuliegen gedachte. Olenin erlegte mit zwölf Schüssen fünf Fasanen; er suchte sie mühsam im Dornengebüsch zusammen und strengte sich dabei so an, daß ihm der Schweiß über das Gesicht rann. Er rief den Hund zurück, setzte den Hahn in Ruhe, lud zu dem Schrot noch eine Kugel und begab sich, mit den Ärmeln der Tscherkeska die Mücken verscheuchend, ganz leise und vorsichtig nach dem gestrigen Platze. Es machte ihm die größte Mühe, seinen Hund zurückzuhalten, der auf dem Wege jede Wildfährte aufnahm, und er schoß noch ein paar Fasanen. Durch alles dies aufgehalten, fand er erst gegen Mittag den Platz wieder, dem er zustrebte.

Der Tag war klar, still und heiß. Die Feuchtigkeit des Morgens war selbst im Walde verdunstet, und Myriaden von Mücken bedeckten Olenin ganz dicht, seinen Rücken, seine Hände, sein Gesicht, daß er förmlich geblendet ward. Der Hund, der sonst schwarz war, sah jetzt grau aus – so dicht war sein Fell von Mücken bedeckt. Dieselbe Farbe zeigte auch Olenins Tscherkeska, durch die die zudringlichen Insekten ihre Stachel hindurchbohrten. Olenin war nahe daran, vor den Mücken die Flucht zu ergreifen, es schien ihm unmöglich, im Sommer hier im Kosakendorfe zu leben. Schon wollte er wieder den Heimweg antreten, doch da sagte er sich, daß ja auch andere Menschen hier in diesem Lande leben, und so beschloß er, auszuhalten und sich den Mückenstichen preiszugeben. Und seltsam genug: gegen Mittag wurde diese Empfindung ihm sogar angenehm. Ja noch mehr: wenn diese ihn von allen Seiten umgebende Mückenatmosphäre, dieser beim Hinfassen sich auf dem schweißigen Gesichte verschmierende Mückenteig, dieses ewige Jucken am ganzen Körper nicht gewesen wäre, so hätte ihm an dem ganzen Walde etwas Charakteristisches, besonders Reizvolles gefehlt. Die Myriaden von Insekten paßten so vortrefflich zu der üppigen, wilden Vegetation, zu diesem unbegrenzten Reichtum an Wild aller Art, zu diesem dunklen Grün, dieser köstlich würzigen, heißen Luft, diesen schmalen, trüben Wasserläufen, die überall vom Terek her durchsickerten und da und dort unter dem überhängenden Laube gluckerten, daß ihm gerade das, was er soeben noch so entsetzlich und unerträglich gefunden hatte, mit einemmal angenehm wurde.

Er umschritt den Ort, an dem er Tags zuvor auf das Wild gestoßen war, fand jedoch diesmal nichts und bekam plötzlich Lust, ein wenig auszuruhen. Die Sonne stand gerade über dem Walde und traf ihn jedesmal senkrecht auf Rücken und Kopf, wenn er auf die Lichtung oder den Weg hinaustrat. Die sieben Fasanen, die er am Gürtel trug, machten sich durch ihre Schwere in empfindlicher Weise lästig und verursachten ihm Schmerzen im Kreuze. Er suchte die gestrigen Spuren des Hirsches, schlich sich ins Dickicht hinein, zu derselben Stelle, an der gestern der Hirsch gelegen hatte, und streckte sich auf dessen Lager hin. Er betrachtete das dunkle Grün ringsum, den vom Schweiß des Hirsches feuchten Platz, die gestrige Losung, den Abdruck der Knie des Hirsches, das Klümpchen Erde, das der Hirsch losgestampft hatte, und seine eigene Fußspur von gestern. Es war ihm so angenehm kühl, so behaglich; er dachte an nichts und wünschte nichts. Und plötzlich überkam ihn ein so seltsames Gefühl bedingungslosen Glückes und allumfassender Liebe, daß er nach alter, aus der Kindheit herrührender Gewohnheit sich bekreuzigte und irgend jemandem Dank sagte.

Es kam ihm plötzlich mit ganz besonderer Klarheit in den Sinn, daß er, Dmitrij Olenin, ein von allen andern verschiedenes Wesen, jetzt da, Gott weiß wo, ganz allein hingestreckt lag, an einer Stelle, an der sonst ein Hirsch hauste, ein alter, stattlicher Hirsch, der vielleicht noch niemals einen Menschen gesehen hatte, an einer Stelle, an der nie zuvor ein Mensch so gesessen und seine Gedanken gesponnen hatte. »Hier sitze ich nun, und rings um mich stehen alte und junge Bäume, und einer von ihnen ist von den Ranken des wilden Weinstocks umsponnen; es wimmelt ringsum von Fasanen, die sich gegenseitig aufjagen und vielleicht das Blut ihrer getöteten Brüder wittern.« Er tastete nach seinen Fasanen, beguckte sie und wischte die von warmem Blut befleckte Hand an seiner Tscherkeska ab. »Auch die Schakale wittern sie vielleicht und schleichen mürrisch, da sie nicht an sie heran können, nach einer andern Richtung; rings um mich, zwischen den Blättern, die ihnen vielleicht als gewaltige Inseln erscheinen, schwirren summende Mücken in der Luft – eine, zwei, drei, vier, hundert, tausend, eine Million Mücken, und sie alle summen aus irgendeinem Grunde um mich herum, und jede von ihnen ist ebenso wie ich selbst ein von allen andern verschiedener Dmitrij Olenin.« Er stellte sich ganz klar vor, was diese Mücken dachten, und was ihr Summen besagte: »Hierher, Kinder, hierher! Hier ist einer, den wir verspeisen können!« – Das bedeutete ihr Summen und ihr ganzes zudringliches Gebahren. Und es war ihm, als sei er überhaupt kein russischer Edelmann, kein Mitglied der Moskauer Gesellschaft, kein Freund oder Verwandter dieses oder jenes hochgestellten Mannes, sondern einfach eine ebensolche Mücke, ein ebensolcher Fasan oder Hirsch wie jene, die in diesem Augenblick sich rings um ihn tummelten. »Ganz ebenso wie sie, oder wie Onkel Jeroschka, werde ich eine Zeitlang leben und dann sterben. Er sprach die Wahrheit: ›nur Gras wird darüber wachsen‹.

»Doch was tut es, daß Gras darüber wächst?« dachte er weiter. »Ich muß doch schließlich leben, muß glücklich sein, da mich nur nach einem verlangt: nach dem Glück. Was auch immer ich sein mag – ob ein ebensolches Tier wie alle andern, über dem einmal das Gras wachsen wird, ein Tier und nichts weiter, oder ein Rahmen, in den ein Teil der einen, ewigen Gottheit eingefügt ist: auf jeden Fall muß ich auf die beste Art zu leben suchen. Wie aber muß man leben, um glücklich zu sein, und woher kommt es, daß ich früher nicht glücklich war?«

Und er erinnerte sich seines früheren Lebens, und empfand einen Widerwillen gegen sich selbst. Er erschien sich selbst als ein so anspruchsvoller Egoist, während doch in Wirklichkeit alle seine Bedürfnisse und Ansprüche gar nicht in seiner Natur begründet waren. Er schaute rings um sich nach dem durchleuchteten Grün, nach der sinkenden Sonne und dem strahlenden Himmel und fühlte sich so glücklich wie nur je zuvor. »Warum bin ich glücklich, und welchen Zweck, welches Ziel hatte mein früheres Leben?« dachte er. »Wie selbstsüchtig war ich doch früher, auf was für Einfälle geriet ich, ohne dadurch etwas anderes zu erreichen, als Demütigung und Schmerz! Und nun brauche ich nichts, rein gar nichts, um glücklich zu sein!« Und es war ihm, als ob er plötzlich alles in ganz neuem Lichte sähe. »Das Glück,« dachte er bei sich selbst, »besteht darin, daß man für andere lebe. Das ist doch klar! Das Bedürfnis nach Glück ist in den Menschen hineingelegt, also ist es berechtigt. Sucht man dieses Bedürfnis auf selbstische Weise zu befriedigen, strebt man nach Reichtum, Ruhm, Wohlleben, Liebe, dann kann es geschehen, daß äußere Umstände es unmöglich machen, diesem Streben genugzutun. Mithin sind eben diese Wünsche und Bestrebungen unberechtigt«, nicht aber das Bedürfnis nach Glück. Welche Wünsche und Bedürfnisse können nun zu jeder Zeit, ohne alle Rücksicht auf äußere Umstände befriedigt werden? Nun denn: das Bedürfnis nach Liebe, nach Selbstverleugnung!«

Er war so glücklich, so freudig erregt über die Entdeckung dieser, wie er meinte, funkelnagelneuen Wahrheit, daß er aufsprang und ungeduldig zu überlegen begann, für wen er sich so rasch wie möglich opfern, wem er Gutes tun, wen er lieben könnte. Er brauchte so wenig für sich selbst – warum sollte er da nicht für andere leben?

Er nahm seine Flinte und bahnte sich ungeduldig durch das Dickicht den Weg, um nur recht bald nach Hause zu kommen und alles, was ihm eben durch den Kopf gegangen, nochmals zu überdenken, dann aber möglichst rasch eine Gelegenheit zu suchen, jemandem Gutes zu tun. Er kam zu einer Lichtung und sah sich um: die Sonne war hinter den Baumwipfeln nicht mehr sichtbar; es war kühler geworden, und die Örtlichkeit erschien ihm ganz unbekannt und jener, die das Dorf umgab, gar nicht ähnlich. Alles war plötzlich wie verwandelt, das Wetter sowohl wie der Charakter des Waldes; der Himmel war von dunklem Gewölk verhüllt, der Wind rauschte in den Gipfeln der Bäume, nur Schilfrohr und überständiger, vielfach niedergebrochener Waldwuchs war ringsum zu sehen. Er rief seinen Hund, der irgendeinem Wild nachgesetzt war, und der Klang seiner Stimme erschien ihm so unheimlich und fremd.

Und plötzlich überkam ihn ein Gefühl der Bangigkeit, ja der Angst. Er dachte an die Abreken, an ihre Mordtaten, von denen man ihm erzählt hatte, und er erwartete, daß jeden Augenblick ein Tschetschenze hinter irgendeinem Strauch hervorstürzen würde. Dann hieß es, sein Leben verteidigen und vielleicht sterben – oder feig entfliehen. Auch der Gedanke an Gott und das Fortleben im Jenseits tauchte deutlicher denn je vor seiner Seele auf. Rings um ihn aber breitete sich weithin die düstere, ernste, wilde Natur aus. »Lohnt es sich denn überhaupt,« sagte er sich, »zu leben, wenn man jeden Augenblick sterben kann, ohne etwas Gutes getan zu haben, wovon kein Mensch jemals etwas erfährt?«

Er ging in der Richtung weiter, in der er das Dorf vermutete. An die Jagd dachte er nicht mehr, er fühlte eine tödliche Ermattung, spähte mit angespannter Aufmerksamkeit, fast mit Schrecken nach jedem Strauche und Baume und erwartete jeden Augenblick, mit dem Leben Abrechnung halten zu müssen. Nachdem er eine ganze Weile umhergeirrt war, kam er an einen Graben, in dem kaltes, sandiges Wasser aus dem Terek floß, und um sich nicht wieder zu verlaufen, entschloß er sich, an dem Graben entlang weiterzugehen. Er ging, ohne selbst zu wissen, wohin der Graben ihn führen würde. Plötzlich raschelte etwas hinter ihm im Schilfe. Er fuhr zusammen und griff nach seinem Gewehr. Es erfolgte nichts weiter, und er begann sich vor sich selbst zu schämen: es war nur der Hund gewesen, der, vom Laufen erschöpft, sich schwer ächzend in das kalte Wasser des Grabens gestürzt hatte und gierig davon trank.

Er trank mit dem Hunde zusammen und ging dann in derselben Richtung weiter, nach der auch der Hund strebte, in der Annahme, daß dieser ihn nach dem Dorfe führen würde. Trotz der Gesellschaft des Hundes jedoch erschien ihm alles ringsum immer düsterer. Der Wald wurde dunkel, der Wind sauste stärker und stärker in den Wipfeln der alten, verstümmelten Bäume. Große Vögel umflatterten kreischend ihre Nester hoch oben auf den Bäumen. Der Pflanzenwuchs verlor seine Üppigkeit, häufiger stieß er auf rauschendes Schilfrohr oder kahle, sandige Lichtungen, auf denen zahlreiche Wildspuren sichtbar waren. Zum Rauschen des Windes gesellte sich noch ein anderes dumpfes, eintöniges Geräusch. Eine düstere Stimmung nahm mehr und mehr von seiner Seele Besitz. Er tastete nach den Fasanen an seinem Gürtel und konnte den einen nicht finden: er war abgerissen und verloren gegangen, nur der blutige Kopf mit dem Halse steckte noch am Gürtel. Es ward ihm so schaurig zu Mute wie noch niemals im Leben. Er begann zu beten und fürchtete nur das eine, daß er sterben könnte, ohne etwas Gutes, Schönes vollbracht zu haben; und es verlangte ihn doch so sehr danach, zu leben, zu leben, um das hehre Werk der Selbstverleugnung zu vollenden.


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