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Arthur Chancellor verbrachte die Weihnachtszeit in Manningford, Helen Mowbray in ihrem Bestreben unterstützend, das Los der Armen ihrer Gegend zu erleichtern.
Am Sylvesterabend saßen sie beide zusammen, dem Glockengeläut« lauschend und den letzten Glockenschlag des alten Jahres erwartend, um das Siegel des Päckchens zu lösen, das John Mowbray seiner Schwester anvertraut hatte, als sie ihm vor elf Monaten für ewig Lebewohl sagen mußte.
Nach Arthur Chancenlos Besuch in Wilsley und dem Auftauchen des Grafen Fiesoli konnte es als eine nutzlose Formalität erscheinen, das Öffnen des Vermächtnisses bis zum Schluß des Jahres zu verschieben. Was wäre noch Neues zu erfahren gewesen? John Mowbrays Rechtfertigung war gelungen, denn nachdem die Welt erfahren, wer Francis Trinkall ermordet hatte, wurde der traurige Irrtum der Justiz, die einen Unschuldigen geopfert hatte, allgemein beklagt. Doch die Lebenden hielten den letzten Wunsch des Toten heilig und warteten gewissenhaft die festgesetzte Zeit ab.
Endlich verkündete die Uhr das Scheiden des alten Jahres. Mit zitternder Hand erbrach Helen das Siegel, doch beim Anblick der wohlbekannten Schriftzüge des Bruders füllten sich ihre Augen mit Tränen.
»Ich kann nicht lesen,« sagte sie, »tu Du es, Arthur.« Sie reichte ihm den Brief und Chancellor las ihr den Inhalt vor. John Mowbray erzählte darin ausführlich von seiner Begegnung mit Fiesoli in Paris, von seinen Beziehungen zu der Revolutionsbewegung, deren Führer der Graf gewesen war und der er, Mowbray, sich angeschlossen hatte. Das Schreiben enthielt noch Anweisungen, für den Fall, daß Graf Fiesoli vor Ablauf des Jahres kein Lebenszeichen von sich gegeben haben würde und schloß mit den Worten: »Laß unseren alten Namen nicht aussterben, Helen. Ich sehe es voraus, daß Eric Stanlake nie Dein Gatte werden wird, aber ich bin gewiß, ein anderer, Würdigerer wird eines Tages Deine Hand begehren. Es ist wohl möglich, daß Dein häufiges Zusammensein mit Arthur Chancellor Eure Herzen zueinander ziehen wird. Gott gebe es! Er wäre deiner würdig. Sollte es geschehen, so sage ihm, ich wüßte keinen Mann, in dessen Hände ich das Glück meiner Schwester mit größerem Vertrauen legen würde. Wer aber auch Dein Gatte werden möge, verlange, daß er seinen Namen dem Deinen vereint und sorge, daß unser Name, unser Geschlecht im Lande fortlebt.«
»Das sieht John ähnlich!« rief Helen aus. »Er vergaß nie, daß er ein Mowbray auf Manningford House war. Es war für ihn der Talisman, der ihn vor allem Unrechten bewahrte; er lebte nach dem Worte: Noblesse oblige!«
»Wir wollen auch diesen Wunsch in Ehren halten,« entgegnete Chancellor. »Ein Gesuch an die Königin wird mich bald in einen Chancellor-Mowbray umwandeln.«
»Mowbray-Chancellor wäre noch besser,« wandte Helen ein. »John hat ja nichts wegen der Reihenfolge der Namen bestimmt, also kannst Du ruhig meinen Wunsch erfüllen. Es soll dies für unsere Nachkommen ein Erinnerungszeichen sein, wie treu Du Deinen Schwur gehalten hast, denn ohne Dich, Geliebter, wäre unser Name noch mit Schmach bedeckt.«
»Mein Liebling,« erwiderte Chancellor zärtlich. »Du schätzest mein geringes Verdienst viel zu hoch. Aber sprich – liebst Du mich jetzt?«
»Zweifelst Du noch daran?« fragte sie aufleuchtenden Blickes, sich an seine Brust lehnend.
»Ich liebte Dich vom ersten Augenblick an,« sagte er, sie küssend.
Sechs Monate später, an einem milden Sommerabend, standen Herr und Frau Mowbray-Chancellor im alten Friedhof zu Manningford vor einem weißen Kreuz aus sizilianischem Marmor, von Passionsblumen umrankt. Die Inschrift des Grabsteines lautete:
»Gewidmet dem Andenken John Mowbrays
auf Manningford House
gestorben in Lancaster am 30. Januar 1880
im Alter von 30 Jahren.
Befiehl dem Herr deine Wege und traue auf Ihn,
Er wird's wohl machen.
Er wird deine Gerechtigkeit an den Tag bringen und dein Recht an das Tageslicht.«
»Wie lieb von Dir, Arthur daß Du gerade diesen Text gewählt hast,« sagte die junge Frau bewegt, indem sie sich fest an den Gatten schmiegte. »Einst zweifelte ich fast an der Wahrheit des Wortes. Es war in den schrecklichen Tagen, die mir den Bruder raubten. Doch Gott hat sein Versprechen gehalten: Er hat alles wohl gemacht. Küsse mich, Geliebter!«
Und er nahm sie zärtlich in seine Arme und dann verließen sie Hand in Hand den stillen Gottesacker, um gemeinsam das Lebenswerk, das ihnen der Herr befohlen, zu beginnen und zu vollenden.
Ende.