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1. Kapitel

Es war der letzte Tag des alten Jahres. Ein langanhaltender Frost hatte alles Leben in der Natur ertötet, aber vom wolkenlosen Himmel sandte die Wintersonne ihre Strahlen herab, die den knisternden Schnee ringsumher wie mit funkelnden Diamanten überstreuten. Und ihre Strahlen fielen auch auf die ehrwürdige Kathedrale der Stadt Lancaster, die jahrhundertealten, verwitterten Türme des Gotteshauses mit goldflimmerndem Netz umspinnend. Der weite Platz vor der Kirche, von dem sich verschiedene Straßen abzweigten, lag still und menschenleer da, wohl aus dem Grunde, weil es Mittag war und die meisten um diese Stunde ihre Mahlzeit einnahmen.

Nur zwei Frauen gingen langsamen Schrittes an der Kathedrale entlang. Ihr suchender Blick, ihr häufiges Stehenbleiben bewies, daß sie Fremde waren, die nicht recht wußten, wohin sie sich wenden sollten.

Die eine, eine kleine, ältliche Dame, in einen Pelzmantel gehüllt und dicht verschleiert, hatte in ihrer Haltung und Erscheinung etwas Quäkerhaftes, was man von ihrer Gefährtin nicht behaupten konnte. Obgleich ebenfalls dicht verschleiert, verrieten doch deren anmutige Gestalt und graziöser Gang, daß sie bedeutend jünger sein mußte. Beide Damen schienen den höheren Ständen anzugehören.

»Ich glaube, dies ist der richtige Weg, Tante Rahel,« sagte das junge Mädchen, auf eine Seitenstraße des Platzes deutend, »die andere dort, scheint mir, führt zum Bischofspalais.«

Die ältere Dame nickte zustimmend und so bogen sie ohne längeres Zögern in die Litaniestraße eilt, aus der sie in die Heiligkreuzstraße gelangten. Letztere bildet die Hauptverkehrsader von Lancaster. Hier finden die großen Wochenmärkte statt, hier wickeln sich alle wichtigeren Geschäfte ab. Von altertümlichen Gebäuden eingefaßt, die das Entzücken des Antiquitätenliebhabers sind, führt die breite Straße einerseits nach dem Fluß, an dem die Stadt liegt, andererseits zu einem sanft ansteigenden Hügel, auf dem sich das alte Schloß erhebt; ein Überrest aus der Feudalzeit. Es ist zum Gerichtsgebäude umgewandelt worden und enthält gleichzeitig das Grafschaftsgefängnis.

Als das junge Mädchen an der Seite ihrer Tante dahinschreitend, die altersgeschwärzten Mauern desselben erblickte, zuckte es zusammen, was ihrer Begleiterin nicht entging. »Helen, mein Kind,« sagte sie in liebevollem Ton, »du darfst dich nicht aufregen. Wir sind nun am Ziel; da heißt es, alle Selbstbeherrschung bewahren.«

In der Tat blieben sie gleich darauf vor einem Hause stehen, das im Stil der Königin Anna erbaut war und jetzt Geschäftszwecken diente. Auf einem Messingschild neben der Haustüre prangte die Inschrift: Chancellor, Dawson & Chancellor, Rechtsanwälte.

»Hier sind wir an Ort und Stelle,« bemerkte die ältere Dame, indem sie kurz entschlossen die schwere Eichentüre aufstieß und mit ihrer Nichte in die geräumige Halle eintrat.

Oben im ersten Stock saß in seinem Bureau Advokat Arthur Chancellor, in einen auf dem Schreibtisch aufgespeicherten Aktenstoß vertieft. Ohne gerade ein schöner Mann zu sein, war er doch von einnehmendem Äußeren, groß, schlank, aber kräftig gebaut, mit einer hohen, offenen Stirn, blauen, außerordentlich scharfblickenden Augen, die geistige Regsamkeit bekundeten, einer geraden Nase und einem stark entwickelten, Energie verratenden Kinn.

Er war der Chef der Firma, denn sein Vater hatte sich schon seit Jahren nach Erwerb eines bedeutenden Vermögens zur Ruhe gesetzt und kümmerte sich nicht mehr um das Geschäft, lebte aber mit seinem unverheirateten Sohn zusammen.

Die Chancellors zählten zu den angesehensten Familien der Grafschaft. Die Firma selbst genoß einen ausgezeichneten Ruf, was wohl am besten dadurch bewiesen wurde, daß alle Grundbesitzer der Umgegend zu ihren Klienten gehörten. Merkwürdigerweise hatte sie sich seit ihrem Bestehen niemals mit Kriminalsachen abgegeben. Nichts war je imstande gewesen, ein Abweichen von dieser grundsätzlich festgehaltenen Regel herbeizuführen.

Auch Arthur Chancellor folgte, wie schon vor ihm sein Vater, dem althergebrachten Prinzip, und so hätte er sich an diesem Sylvestertag wohl schwerlich träumen lassen, daß er noch vor Abend seinem Grundsatz untreu werden und sich zur Führung eines der schwierigsten, aufsehenerregendsten Kriminalprozesse bereit erklären würde.

Erst vor wenigen Wochen war in der Nähe Lancasters ein Mord verübt worden, der um so mehr Sensation hervorrief, als die Hauptbeteiligten den ersten Kreisen der Gesellschaft angehörten.

John Mowbray auf Manningford House, ein reicher Eisenwerkbesitzer, stand unter dem Verdacht, seinen Nachbarn, Francis Trinkall aus Eifersucht, weil dieser ihm die Geliebte abwendig gemacht hatte, ermordet zu haben. In den nächsten Tagen – Anfang Januar – sollte der Angeklagte, der im Grafschaftsgefängnis zu Lancaster in Untersuchungshaft saß, vor den Geschworenen erscheinen, um aus ihren Händen sein Schicksal – Freiheit oder Tod – entgegenzunehmen.

Arthur Chancellor hatte wie alle anderen von diesem Fall gehört, sich auch lebhaft dafür interessiert, da er die beiden Herren gekannt. Allein seine Geschäftsangelegenheiten drängten dieses Interesse bald wieder in den Hintergrund, war er doch ein vielgesuchter Advokat.

»Zwei Damen wünschen Sie zu sprechen,« meldete der Schreiber Meredith seinem Prinzipal, ihm eine Visitenkarte mit dem Namen: »Helen Mowbray, Manningford House« überreichend. Chancellor warf einen Blick darauf, ließ die Damen hereinbitten und erhob sich von seinem Sessel, um die Eintretenden zu begrüßen.

Da diese sich vorerst nur stumm verneigten, so ergriff er das Wort, indem er in zartfühlender Weise seiner Teilnahme für das Unglück, das eine so hochangesehene Familie betroffen, Ausdruck verlieh.

Die jüngere der beiden Damen dankte ihm mit bewegter Stimme: »Wir sind in einer schlimmen Lage,« fügte sie hinzu, »gerade jetzt unseren Rechtsbeistand verloren zu haben.«

»Meinen Sie Herrn Serle in Avonbridge?« fragte Chancellor.

Fräulein Mowbray bejahte. »Er ist leider krank geworden – ich fürchte durch Überanstrengung bei der Führung unserer Sache.«

»Das trifft sich allerdings sehr unglücklich,« stimmte der Advokat bei, »um so mehr als die Schwurgerichtseröffnung so nahe bevorsteht.«

»Kennen Sie Hauptmann Kendall in Manningford?« unterbrach ihn Fräulein Mowbray.

»Gewiß. Er ist ein Vetter meiner Mutter.«

»Nun, er hat mir geraten, die Verteidigung meines Bruders in Ihre Hände zu legen. John wünscht es ebenfalls, denn da die Zeit zur Vorbereitung so kurz ist, muß er einen Anwalt hier am Orte haben, mit dem er sich persönlich besprechen kann.«

Chancellors Gesicht zog sich bedenklich in die Länge, nun er wußte, aus welchem Grunde die Damen zu ihm gekommen waren.

»Es gibt hier allerdings noch andere Advokaten,« fuhr Fräulein Mowbray, die den Schatten auf seinem Gesicht bemerkt hatte, fort, »wir können unsere Sache jedoch nur einer Firma allerersten Ranges anvertrauen. Mein Bruder stützt sich einzig und allein auf seine Unschuld. Er wird nie zugeben, seine Freisprechung mit unehrenhaften Mitteln oder irgend welchen Täuschungen zu erzielen.« Es lag soviel Angst und Besorgnis im Klang ihrer weichen, melodischen Stimme, daß es Arthur Chancellor zu Herzen ging. Er war ein feinfühlender Mann, dem es schwer fiel, einer Bitte von Frauenlippen zu widerstehen, doppelt schwer, wenn sie von einem so bezaubernden Wesen, wie Helen Mowbray ihm erschien, ausgesprochen wurde. Allein die Tradition seiner Familie erlaubte ihm nicht, den Wünschen des jungen Mädchens nachzukommen. Seine Vorgänger hatten nie Kriminalprozesse geführt und auch er war nicht geneigt, von dieser Regel abzugehen. Wohl verstand er, daß seine Weigerung die Bittende kränken würde, dennoch sagte er sich, daß es im Interesse des Angeklagten ratsamer wäre, dessen Verteidigung dem geschicktesten Kriminalisten, den man finden konnte, zu übertragen.

Nachdenklich, mit leicht gerunzelter Stirn stand er vor Helen Mowbray, im Stillen überlegend, wie sich seine Ablehnung am besten motivieren ließe. Aber dieses Zögern hatte zur Folge, daß sein Entschluß, John Mowbray nicht verteidigen zu wollen, in das Gegenteil umschlug, denn Helen, sein Bedenken erratend, hatte den Schleier zurückgeschlagen und ihre wunderbar schönen Augen mit flehendem Ausdruck auf ihn gerichtet. Es lag eine gewisse, jedoch völlig unbewußte Koketterie darin, gerade in diesem Augenblick ihr Antlitz zu enthüllen, allein der Gedanke, daß es galt, das Widerstreben des Mannes, dessen Beistand sie bedurfte, zu überwinden, drängte sie, alles aufzubieten, ihn gefügig zu machen.

»Sie werden mir meine Bitte nicht abschlagen?« fragte sie mit zitternder Stimme.

»Gewiß nicht,« entgegnete Chancellor rasch. Er war nicht der erste Mann und wird auch nicht der letzte sein, den die schönen Augen eines Weibes besiegten.

Helen stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, und nachdem sie ihm in warmen Worten gedankt, stellte sie ihm ihre Tante vor. »Frau Nilson ist meine und meines Bruders einzige Verwandte, die einzige Freundin, die mir in dieser schweren Prüfungszeit geblieben ist.«

»Ich bitte, mich künftig auch zu Ihren Freunden zu zählen, Fräulein Mowbray,« sagte Chancellor, der, nun er einmal die Sache übernommen hatte, derselben auch sein volles Interesse zuwandte. »Als solcher muß ich Sie jedoch darauf aufmerksam machen, daß Sie zweifellos einen besseren Ratgeber – d. h. einen in Kriminalprozessen erfahreneren – finden könnten als mich, denn wir haben uns bisher niemals mit dergleichen befaßt. Wenn Sie aber trotzdem wünschen, daß ich die Verteidigung Ihres Herrn Bruders in die Hand nehme, so werde ich alles daransetzen, ihm zu helfen.«

»Sie würden sich doch sicher auch auf den Standpunkt stellen, daß mein Neffe unschuldig ist, nicht wahr?« mischte sich Frau Nilson zum ersten Mal ins Gespräch.

»Selbstverständlich,« entgegnete Chancellor. »Das Gesetz hält jeden für unschuldig, solange nicht das Gegenteil bewiesen ist und ich, als sein Verteidiger, wäre natürlich der letzte, ihn für schuldig zu halten.«

»Die Polizei war ganz entgegengesetzter Ansicht,« bemerkte Frau Nilson in bitterem Ton. »Sie hat Himmel und Erde in Bewegung gesetzt, um ihre Meinung als die richtige hinzustellen.«

Chancellor zuckte die Achseln. »Das tut sie oft. Daher kommen auch ihre häufigen Mißgriffe und ihre Unfähigkeit ein Verbrechen aufzudecken. Doch – darf ich fragen, von wem ich das Material für die Verteidigung erhalten werde? Ich müßte ja vor allem die Akten einsehen.«

»Die habe ich bei mir,« fiel Helen ein, indem sie einer Mappe, die sie in der Hand hielt, eine umfangreiche Manuskriptrolle entnahm. »Ich habe auch die Notizen, die Rechtsanwalt Serle sich bei seinen Nachforschungen gemacht hat, sowie einiges Material, welches für die Verteidigung von Nutzen sein könnte.«

»Das wird vorläufig genügen,« nickte Chancellor. »Wollen Sie mir nun noch freundlichst Ihre Adresse angeben?«

»Wir wohnen Loan Terrace 14,« erwiderte Helen und, ihm zum Abschied die Hand reichend, fügte sie hinzu: »Ich bin Ihnen unendlich dankbar für Ihre Bereitwilligkeit und setze all' meine Hoffnung auf Sie.«

»Ich werde mein Bestes tun, dieselbe zu erfüllen,« versprach Chancellor mit besonderer Wärme.

Als die Damen sich entfernten, blickte der Advokat ihnen sinnend nach. Bereute er, daß er zum ersten Mal dem Prinzip seiner Vorgänger untreu geworden war und seine Firma in einen Kriminalfall verwickelt hatte? Auf seinem Gesicht war kein Bedauern zu lesen. Er dachte nur an Helen Mowbray, deren wunderbare Augen er nicht vergessen konnte, die ihm als das schönste Mädchen erschien, das er je gesehen. Arthur Chancellor war eben auch ein Sterblicher und durchaus nicht unempfindlich gegen weibliche Reize, obgleich er mit seinen fünfunddreißig Jahren noch immer Junggeselle geblieben war.

Als Helen Mowbray mit ihrer Tante wieder auf dem Platz vor der Kathedrale stand und die hehren Orgelklänge durch die offenen Kirchentüren zu ihr drangen, traten die beiden Damen, einem inneren Triebe folgend, in das ehrwürdige Gotteshaus, dessen Mauern Zeuge der Leiden und Freuden von zwanzig Generationen gewesen waren.

Der Geistliche am Altar verlas mit wohlklingender Stimme die auf den Tag bezügliche Bibelstelle, und mit schmerzbewegter Seele lauschte Helen den tröstenden Worten des Psalmisten: »Befiehl dem Herrn deine Wege und traue auf Ihn: Er wird's wohl machen. Er wird dein Recht an den Tag bringen und deine Gerechtigkeit an das Tageslicht.« Ein tiefer Frieden senkte sich in das bekümmerte Herz des jungen Mädchens, das noch lange, nachdem die Andächtigen sich entfernt hatten, in stillem Gebet verharrte, Hilfe erflehend für den unglücklichen Bruder, der hinter Kerkermauern unter der furchtbaren Anklage des Mordes schmachtete.


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