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2. Kapitel

Ohne Säumen und mit großem Eifer unterzog sich Arthur Chancellor der Prüfung des Aktenmaterials, das Helen Mowbray ihm gegeben und das Herr Serle, der Rechtsanwalt der so schwer betroffenen Familie, für die Verteidigung des Angeklagten zusammengestellt hatte.

Die Aufgabe war keine leichte, denn bei der gerichtlichen Leichenschau, die mehrere Tage beanspruchte, waren so viele Zeugen vernommen worden, daß das Protokoll im Verhältnis zu der scheinbaren Einfachheit des Falles ungewöhnlich umfangreich erschien. Außer dem Protokoll fand Chancellor noch eine Menge loser Notizen über die beiden Familien Mowbray und Trinkall, sowie über deren Beziehungen zueinander; auch verschiedene Theorien und Vermutungen in Betreff des Verbrechens, die den Zweck verfolgten, John Mowbrays Unschuld darzulegen.

Nach mehrstündigem Studium dieses Materials gelang es dem jungen Advokaten schließlich, sich ein ziemlich klares Bild von der Sache zu machen und eine zusammenhängende Reihenfolge der Tatsachen zu notieren.

Demnach lag der Fall wie folgt:

Der Angeklagte, John Mowbray, Besitzer großer Eisenwerke in Avonbridge, lebte auf seinem fünf Meilen vor der Stadt entfernten Gute Manningford House. Sein Nachbar Francis Trinkall, der ein Wollenmanufakturgeschäft in Avonbridge besaß, wohnte ebenfalls in dem kleinen Ort Manningford.

Das ehemals sehr große Landgut der Mowbrays war unter dem Großvater des jetzigen Besitzers sehr zurückgegangen, da dieser Spielschulden halber einen bedeutenden Teil seiner Ländereien verkaufen mußte. Sie gingen in die Hände eines gewissen Trinkall über, der eine luxuriöse Villa darauf erbaute und sie im Gegensatz zu dem viel bescheideneren Landhaus seines Nachbars Manningford Hall nannte.

Der Stolz der Mowbrays litt schwer unter der notgedrungenen Zerstückelung ihres alten Familiensitzes; niemand aber empfand es schmerzlicher als der junge Ralph Mowbray, der es nicht verwinden konnte, daß ein Teil seines Erbgutes in fremde Hände gefallen. Es war der Traum seines Lebens, soviel zu verdienen, um die verlorenen Ländereien zurückkaufen zu können.

Durch eisernen Fleiß und große Sparsamkeit gelang es ihm nach dem Tode seines Vaters auch wirklich ein kleines Kapital zu sammeln und, indem er auf seinem Grund und Boden nach Erzen grub, ein Eisenwerk zu begründen. Unter seiner umsichtigen Leitung blühte dasselbe so rasch auf, daß es ihn nach wenigen Jahren zum reichen Manne machte. Nun hätte er mit Leichtigkeit die verlorenen Ländereien zurückerwerben können, allein der jetzige Besitzer Trinkall ließ sich auf keinen Handel ein und begleitete seine Weigerung mit so höhnischen Worten, daß die dadurch erzeugte Feindseligkeit zwischen den beiden Männern bis zu ihrem Lebensende währte.

Kurz nach dem Hinscheiden Trinkalls starb auch Ralph Mowbray, nachdem er auf dem Totenbette seinem Sohne John ans Herz gelegt hatte, nichts unversucht zu lassen, den Familiensitz in seinem ursprünglichen Umfang wiederherzustellen. Der Sohn, der diesen Ehrgeiz seines Vaters in vollem Maße teilte, bemühte sich redlich, das gegebene Versprechen zu halten, der junge Trinkall wollte jedoch nichts von einem Rückkauf hören. Die beiden entzweiten sich nun zwar nicht wie ihre Väter – im Gegenteil, sie verkehrten sowohl geschäftlich als gesellschaftlich sehr viel miteinander, John Mowbray machte aber kein Hehl daraus, wie schwer ihn die hartnäckige Weigerung seines Nachbars kränkte.

Schließlich kam es doch zu einem offenen Bruch und zwar infolge ihrer gleichzeitigen Werbung um dasselbe junge Mädchen, Anny Sybil Lyle, ein Wesen von sylphenhafter Gestalt und ätherischer Schönheit, aber durch und durch kokett. Anfangs zeigte sie eine ausgesprochene Vorliebe für John Mowbray, von dem sie sogar wertvolle Geschenke annahm. Nach einiger Zeit jedoch sandte sie ihm die Geschenke zurück, verlobte sich mit Francis Trinkall und heiratete ihn bald darauf.

John Mowbray fühlte sich durch diese Handlungsweise des von ihm geliebten Mädchens tief gekränkt. Die Wunde, die nicht nur seinem Ehrgeiz sondern auch seiner Liebe geschlagen worden, verbitterte ihn aufs äußerste, so daß er wiederholt Drohungen gegen Trinkall, an dem er sich für die ihm widerfahrene Abweisung rächen wollte, ausstieß.

Seit jener Zeit veränderte sich sein ganzes Wesen. Er wurde mürrisch und schweigsam und zog sich völlig von der Gesellschaft, deren Zierde er bisher gewesen, zurück.

Auch seine Lebensweise erhielt einen mysteriösen Anstrich. Er war oft tagelang abwesend, ohne einen Grund dafür anzugeben; selbst seiner Schwester Helen gegenüber, die ihn neckend fragte, ob er etwa einem Geheimbunde angehöre, blieb er verschlossen. Geschäftsangelegenheiten waren es nicht, die ihn fortriefen, denn sein Vater hatte ihn zu einem Mowbray auf Manningford House erzogen, der sich nicht um die Leitung seiner Eisenwerke in Avonbridge zu kümmern brauchte.

Was also trieb ihn so häufig von seinem Hause fort? Darüber zerbrach sich mancher den Kopf. Unter ihnen auch Hauptmann Kendall, ein in der Nachbarschaft lebender pensionierter Offizier. Er stand auf freundschaftlichem Fuß mit beiden jungen Leuten und hatte sich schon wiederholt bemüht, eine Versöhnung zwischen ihnen herbeizuführen, jedoch stets vergebens. Schließlich gelang es ihm aber, John Mowbray zu bewegen, sich zu einer Zusammenkunft mit Trinkall und dessen Frau in Kendalls Wohnung bereit zu finden.

Am verabredeten Abend jedoch erschien nur Francis Trinkall, der seine Gattin wegen nervöser Kopfschmerzen, an denen sie oft litt, entschuldigte. Mowbray blieb ebenfalls – doch ohne Motivierung – fern, und seine Schwester Helen, die sich bei Verwandten ihres Verlobten aufhielt, war zu dieser Zusammenkunft nicht eingeladen worden.

Bald nach zehn Uhr verließ Trinkall das Haus des Hauptmanns, um, wie er sagte, nach seiner kranken Frau zu sehen. Am folgenden Morgen wurde er als Leiche am Flußufer gefunden, mit Stichwunden im Hals, in Brust und Rücken.

Von dem Täter fehlte jede Spur. Merkwürdig war auch, daß der Schauplatz des Verbrechens in entgegengesetzter Richtung von Trinkalls Wohnsitz lag. Was konnte ihn in der dunklen Novembernacht an jenen einsamen Ort am Fluß geführt haben?

Von einem stattgehabten Kampf zwischen dem Mörder und seinem Opfer war nichts zu entdecken, da der Boden durch den eingetretenen Frost hartgefroren war. Auch die Nachforschungen nach der Waffe, mit der die todbringenden Wunden beigebracht worden, blieben erfolglos. Keine Waffe wurde gefunden, wohl aber das Armband einer Dame und zwar in nächster Nähe des Tatortes, an einer Stelle, die im Volksmund: »Liebchensruhe« hieß. Es war dies eine rohgezimmerte Bank unter einer uralten Eiche von mächtigem Umfang. Im Winter wurde das Plätzchen allerdings selten benutzt, zur Sommerszeit jedoch vielfach von den Liebespärchen des Dorfes sowie den Fremden in Avonbridge aufgesucht, die am Ufer des Flusses entlang nach Manningford spazierten.

Der Fund des Armbandes verursachte der Polizei viel Kopfzerbrechen; auch Rechtsanwalt Serles Scharfsinn fand keine Lösung dieses Rätsels. Das Schmuckstück war ein breiter Goldreifen mit einem erhabenen Monogramm aus Rubinen und Saphiren, hatte aber besonders an der Innenseite starke Schrammen. Die Initialen des Monogrammes lauteten: A. S. L., was von einigen, die der Inspektion des Armbandes beiwohnten, als die Initialen des Mädchennamens der Frau Trinkall: »Anny Sybil Lyle«, gedeutet wurde.

Die junge Frau leugnete jedes Besitzrecht auf das kostbare Juwel, indem sie erklärte, nie einen solchen Schmuckgegenstand besessen zu haben. Durch diese Erklärung wurde die Sache noch geheimnisvoller und weder der Staatsanwalt noch der Verteidiger waren imstande, den Eigentümer des mysteriösen Fundstückes festzuhalten.

Die Einwohnerzahl des Dörfchens Manningford betrug kaum zweihundert; hauptsächlich Tagelöhner, die auf den benachbarten Pachthöfen arbeiteten. Sie alle waren entsetzt über die feige Mordtat und sobald es erwiesen war, daß um die kritische Zeit kein Fremder in der Gegend gesehen worden, auch kein Anhaltspunkt für einen bestimmten Täter gefunden werden konnte, lenkte sich der allgemeine Verdacht auf John Mowbray, dessen gespanntes Verhältnis zu Francis Trinkall jeder im Dorf kannte.

Die Ortspolizei wartete jedoch geflissentlich die Ankunft des Grafschaftsinspektors ab, bevor sie in dieser Richtung irgendwelche Schritte zu unternehmen wagte. Sie erstattete dem Polizeichef Brabazon nach seinem Eintreffen Bericht, und dieser begab sich daraufhin zu John Mowbray, mit dem er eine längere Unterredung hatte.

Als der Gutsherr auf Manningford House die Ermordung Trinkalls erfuhr, zeigte er anfangs große Bestürzung, ein Umstand, der als Schuldbewußtsein aufgeführt wurde; sobald der Polizeichef jedoch einen Alibibeweis von ihm forderte, fand er seine gewohnte Ruhe und Kaltblütigkeit wieder. Er erklärte, frühzeitig in Geschäftsangelegenheiten privater Natur fortgeritten und erst spät abends, nachdem die Dienerschaft sich bereits zur Ruhe begeben, zurückgekehrt zu sein.

Ein weiterer Aufschluß war nicht von ihm zu erlangen, da er behauptete, seine Ehre verbiete ihm, mehr zu sagen. Auch verweigerte er jede Auskunft über das Ziel der den Zweck seines Rittes an jenem Tage, selbst dann noch, als Brabazon ihm vorhielt, daß seine wiederholt geäußerten Drohungen gegen Trinkall sehr zu seinen Ungunsten gedeutet werden könnten.

Ein anderer Umstand, der ebenfalls ins Gewicht fiel, war, daß er seit seiner Rückkehr mit einem verstauchten Fuß zu Bett lag, ohne ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Sein Gesicht war zerschunden und außerdem trug er noch weitere Spuren eines heftigen Kampfes an sich.

Auf Befragen Brabazons schrieb er die Verletzungen einem Unfall zu, über den er sich jedoch nicht näher auslassen wollte, um nicht sein Geheimnis preiszugeben. Die Blutflecken, die man an seiner Kleidung fand, führte er gleichfalls auf den erlittenen Unfall zurück.

Auch dazu schwieg er, daß während der gerichtlichen Totenschau zwei Männer bezeugt haben sollten, sie hätten die Herren Mowbray und Trinkall kurz nach zehn Uhr zusammen auf dem Weg zum Flußufer gesehen, eine Aussage, die wohl geeignet schien, den Verdacht gegen den Gutsherrn zu verstärken.

Obwohl Chancellor bei der Durchsicht der Akten verschiedene schwache Punkte in der Beweiskette der polizeilichen Anklage gegen John Mowbray entdeckte, so konnte er sich doch nicht verhehlen, daß auch manches sehr zu Ungunsten seines nunmehrigen Klienten sprach und daß die Zeit für eine umsichtige, erfolgreiche Verteidigung viel zu kurz bemessen war, da die Schwurgerichtssitzungen bereits innerhalb einer Woche beginnen sollten und John Mowbrays Fall als erster zur Verhandlung kam.


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