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16. Kapitel

Seit Wochen zum erstenmal saß Arthur Chancellor wieder in seinem Bureau in der Heiligkreuzstraße. Sein Gesicht zeigte einen ernsten, nachdenklichen Ausdruck, der gar nicht zu der festlichen Stimmung dieses Tages paßte.

Vor einer halben Stunde hatte er seinen Partner, Phineas Dawson, und dessen Frau, die ihre Hochzeitsreise antraten, zur Bahn begleitet. Das Hochzeitssträußchen steckte noch in seinem Knopfloch und vom nahen Kirchturm drang lautes Glockengeläute zu ihm herüber. Aber seine Gedanken weilten nicht mehr bei der Feier, der er am Morgen in der St. Philippskirche als Brautführer beigewohnt; immer wieder kehrten sie zu jener unvergeßlichen Nacht zurück, als er nach seiner letzten Unterredung mit John Mowbray der Fremden in Grau begegnet war.

Er empfand es peinlich und konnte es doch nicht lassen, das Gesicht der jungen Frau Dawson, auf deren Besitz sein alter Freund und Partner so stolz zu sein schien, mit dem der Unbekannten in Verbindung zu bringen, die ihn am Vorabend der Hinrichtung Mowbrays auf dem Schloßhügel angeredet und über deren Identität mit dem Mörder Francis Trinkalls er längst nicht mehr im Zweifel war. Auch mußte er sich immer wieder mit der Entdeckung beschäftigen, die er an diesem Morgen in der Sakristei der Kirche gemacht, als die Jungvermählte zum letzten Mal ihren Mädchennamen zeichnete – Annette Sarah Lester.

Die Ähnlichkeit ihrer Initialen mit denen des Armbandes, das Trinkall derjenigen geschenkt, die Jannion jetzt so eifrig suchte, wäre ihm weniger aufgefallen, wenn er sich nicht erinnert hätte, daß auch die Initialen der Schwester der jungen Frau sowie der Gattin Trinkalls vor deren Verheiratung die gleichen gewesen waren. Zudem erregte der Name »Annette« seine Aufmerksamkeit; unwillkürlich drängte sich ihm die Frage auf, ob Annette Lester die Empfänqerin des Armbandes, Trinkalls Geliebte Nany sein könne.

Bisher hatte er sie nur mit dem Namen »Sally« anreden hören. Die Entdeckung, daß der erste ihrer Vornamen »Annette« war, hatte ihn stutzig gemacht und dann war es wie eine Offenbarung über ihn gekommen. Er verglich das strahlende, triumphierende Gesicht der jungen Braut mit dem verzweiflungsvollen des Weibes, das er nur einen flüchtigen Augenblick auf dem Schloßhügel gesehen, und fand, daß sie beide etwas gemeinsam hatten. Sie besaßen den gleichen Typus, denselben eigenartigen Blick kindlicher Unschuld und Reinheit. Damit endete jedoch die Ähnlichkeit. Dennoch sagte sich Chancellor, daß, wenn es möglich wäre, Frau Dawson mit dem gleichen Gesichtsausdruck zu sehen wie jene Fremde in Grau ihn gehabt, er doch vielleicht noch weitere Ähnlichkeiten finden würde.

Immer unbehaglicher wurde ihm zumute. Der Zweifel, der in ihm aufgestiegen, zwang ihn darüber nachzudenken, ob er recht täte, denselben von sich zu weisen, ohne den Versuch zu machen, Gewißheit zu erlangen. War es ehrenhaft gegen Annette gehandelt, sie mit einem so furchtbaren Verdacht zu belasten, einem Verdacht, der vielleicht jeder Begründung entbehrte? War es aber auch vereinbar mit seinem Eidschwur, seinem Helen Mowbray gegebenen Versprechen, das ihm jetzt doppelt heilig war, seit sie sich gegenseitig Treue gelobt hatten? Wie durfte er die Sache ruhen lassen, wenn es in seiner Macht stand, die Zweifel zu lösen?

Soviel er sich erinnerte, hatte ihm Annette erzählt, daß sie in dem Pensionat einer Frau Schimmel in Heidelberg gelebt habe, erst als Schülerin, dann als Hilfslehrerin, bis sie vor einigen Monaten zu ihrer Tante Pritchard nach Lancaster übergesiedelt sei. Wenn sie nun wirklich so beständig in Heidelberg gewohnt hatte, konnte sie natürlich nicht mit Francis Trinkall in Algier gewesen sein und dann war kein Grund zu irgendwelchem Verdacht vorhanden. Er brauchte also nur an Frau Schimmel zu schreiben, um die Wahrheit zu erfahren, und obgleich seine feinfühlende Natur davor zurückscheute, ein anscheinend so harmloses Mädchen wie Annette der schrecklichen Tat, die am einsamen Flußufer in Manningford verübt worden war, zu verdächtigen, empfand er doch mit der Gewissenhaftigkeit einer ehrenhaften Natur, daß er keine andere Wahl habe, als die Richtigkeit oder die Grundlosigkeit seines Verdachtes festzustellen.

Während er noch über seine schwierige Lage nachsann, trat der erste Schreiber, Meredith, ein. Dies brachte Chancellor zu einem raschen Entschluß.

»Ich glaube, ich kann mich auf Sie verlassen, Meredith,« redete er ihn an, »und Sie mit einer Sache betrauen, die von höchster Wichtigkeit ist.«

»Das müssen Sie am besten wissen,« entgegnete der Schreiber. »Ich bin nun volle dreizehn Jahre im Dienst der Firma und glaube nicht, Ihr Vertrauen jemals getäuscht zu haben.«

»Das weiß ich,« nickte Chancellor; »es liegt mir auch ganz fern, Zweifel in Sie zu setzen. Was ich mit Ihnen besprechen möchte, ist aber so delikater Natur, liegt so außerhalb alles Geschäftlichen, daß ich zögerte, es Ihnen mitzuteilen. Wegen einer Sache, bei der es sich um Leben und Tod handelt, ist es durchaus nötig, eine Reise nach Deutschland zu unternehmen. Ich hätte es selbst getan, allein während der Abwesenheit Herrn Dawsons kann ich nicht von hier fort und weiß auch nicht, wen ich dorthin schicken könnte.«

Der Schreiber starrte seinen Prinzipal an, als fürchte er, derselbe habe plötzlich den Verstand verloren. Noch nie hatte er ihn so seltsam erregt, mit so ernstem, bleichem Gesicht gesehen.

»Wenn Sie mir vertrauen wollten,« sagte er nach einer Pause, »würde ich alles aufbieten, Ihnen dienlich zu sein und natürlich auch strengste Verschwiegenheit geloben.«

»Ich weiß eigentlich nicht, warum ich die Sache so tragisch auffasse,« bemerkte Chancellor; indem er sich zu beherrschen suchte. »Offengestanden – ich stecke in einem gewissen Dilemma, denn ich habe eine Entdeckung gemacht. Vielleicht ist es nur eine Einbildung von mir, vielleicht aber auch etwas Ernsteres, als ich annehmen möchte.«

»Steht es mit dem Manningfordprozeß in Verbindung?« fragte der Schreiber.

»Ja, allerdings,« lautete die zögernde Antwort. »Ich möchte nämlich, daß Sie nach Heidelberg führen und die genauesten Erkundigungen über eine Frau Schimmel einzögen. Ihre Adresse kenne ich zwar nicht, aber sie wird in Heidelberg sicher bekannt sein. Sie müssen einen Dolmetscher mitnehmen, denn Sie werden wohl nicht deutsch verstehen, und Frau Schimmel spricht vielleicht nicht englisch. Ich werde Ihnen deshalb einen Brief an eine Londoner Firma mitgeben, die Ihnen den richtigen Mann für Ihre Zwecke beschaffen kann. Frau Schimmel hat ein Pensionat für junge Mädchen; Sie werden sie also ohne große Mühe ausfindig machen können. Erkundigen Sie sich, ob sie früher eine Schülerin namens Lester hatte. Ist dies der Fall, so suchen Sie den vollen Namen der jungen Dame zu erfahren; ebenso wann und unter welchen Umständen sie das Pensionat verließ. Notieren Sie sich alle Tatsachen, die als Beweis dienen könnten, falls das Zeugnis der Dame notwendig wäre. Und noch eins, Meredith – kehren Sie sobald als möglich zurück. Herr Dawson darf nichts von Ihrer Abwesenheit erfahren. Sie verstehen mich?«

»Vollkommen,« nickte der Schreiber. »Sie können sich auf mich verlassen und sollen es nicht bereuen, mir Ihr Vertrauen geschenkt zu haben.«

Sein Gesicht zeigte jetzt denselben Ausdruck wie das seines Prinzipals, denn er besaß Scharfsinn genug, um die Wichtigkeit seiner Mission zu erkennen und zu berechnen, welche Folgen sie möglicherweise haben konnte.

Noch am selben Abend fuhr Meredith von Lancaster nach London, von wo aus er seine Reise nach Deutschland antrat.

Und noch ein zweites Ereignis fand an Annette Lesters Hochzeitstag statt: Joe Jannion kehrte von seiner Fahrt nach Algier zurück. Er landete in Dover und nachdem er die Themse passiert hatte, stieg er für die Nacht im Lord Warden-Hotel ab.

Kaum zwei Monate waren verflossen, seit Joe Jannion sich in Manningford von Arthur Chancellor verabschiedet, aber, mit genügenden Geldmitteln versehen, war es ihm gelungen, in dieser verhältnismäßig kurzen Zeit umfassende Nachforschungen anzustellen, die ihm zwar nicht ermöglichten, die Identität von Francis Trinkalls Reisegefährtin zu ermitteln, ihm jedoch einen Anhaltspunkt an die Hand gaben, mit dessen Hilfe eine baldige Lösung der Frage in Aussicht stand.

Die erste Spur von Francis Trinkall und seiner Begleiterin fand Jannion in Paris. Nach einigen Bemühungen brachte er heraus, daß sie dort in einem kleinen, von Engländern weniger besuchten Hotel unter dem Namen »Herr und Frau Francis« gewohnt hatten. Sie machten dann eine Reise durch Spanien, kehrten nach Frankreich zurück und fuhren hierauf über Marseille nach Algier. Bis dahin war die Spur leicht zu verfolgen; nun aber stellten sich Jannion mancherlei Schwierigkeiten in den Weg. Eine Durchsicht der verschiedenen Hotelbücher ergab zwar die Ankunft und bald darauf erfolgte Abreise eines Ehepaares Francis, nur stellte es sich heraus, daß Herr Francis die Rückfahrt nach England allein antrat, während seine Gattin in Algier blieb. Da sie ebenfalls das Hotel verließ und der Wirt Jannion nicht sagen konnte, wohin die junge Frau sich damals begeben, die Aussagen der inbetracht kommenden Personen überdies so verworren waren, so geriet Jannion fast in Zweifel, ob die junge Engländerin, die Francis Trinkall nach Algier begleitet hatte, diese war, die er suchte.

Entmutigt durch diesen Mißerfolg wollte Jannion schon die Flinte ins Korn werfen und die ganze Sache aufgeben, als eine zufällige Entdeckung seine Hoffnungen neu belebte. Er erfuhr nämlich, daß eine Dame, der Beschreibung ihrer Kleidung nach eine Quäkerin, einige Monate nach Francis Trinkalls Abreise Algier verlassen hatte und zwar in Begleitung einer jungen Frau, die, wie es hieß, von ihrem Manne verlassen worden war. Sie hatte ein kleines Kind bei sich gehabt.

Diese Spur weiter verfolgend, gelang es Jannion, nicht nur den Namen der älteren Dame, einer Frau Annesley, in Erfahrung zu bringen, sondern auch mit Hilfe der Erkundigungen, die er einzog, festzustellen, daß ihre Heimat eine Gegend südlich von London war. Mit diesem Ergebnis zufrieden, kehrte Jannion nach England zurück, wo er gerade am Hochzeitstag Annette Lesters ankam.

Die Überfahrt war sehr stürmisch gewesen, so daß Jannion, der von der Seekrankheit stark heimgesucht wurde, mehr tot als lebendig in Dover landete. Einmal auf festem Boden erholte er sich rasch wieder, zumal er sein Universalmittel – einen starken Bittern – zu sich genommen und sich dann mit einer reichlichen Mahlzeit gestärkt hatte.

Mit den wiederkehrenden Kräften stellte sich auch die Unternehmungslust von neuem bei ihm ein. Er brannte darauf, seine Nachforschungen fortzusetzen, obgleich er sich nicht verhehlte, daß es keine leichte Aufgabe sein würde, die Adresse einer Frau, die in irgend einem unbekannten Ort südlich von London wohnte, herauszubringen. Zum Glück war der Name »Annesley«, wie er überlegte, ein ziemlich ungewöhnlicher. Die Dame mußte in guten Verhältnissen leben, da sie sich sonst nicht hätte den Luxus erlauben können, in ferne Länder zu reisen. Auch war sie zweifellos von gutherziger Gemütsart; das zeigte deutlich die Art und Weise, wie sie sich der verlassenen jungen Frau und ihres Kindes angenommen hat. Eine solche Persönlichkeit, dachte Jannion, würde sicher über ihren Kreis hinaus bekannt sein und eine gesellschaftliche Stellung innehaben, die ihre Auffindung bedeutend erleichterte.

Die Frage war nur – wo sollte er seine Nachforschungen beginnen? Unwillkürlich drängte sich ihm der Gedanke auf, daß er ja schließlich in der Grafschaft Kent, in der er selbst wohnte, den Anfang machen könne, um zu erfahren, ob der Name Annesley dort bekannt sei. Ein Adreßbuch war leider nicht zu erhalten; in Ermangelung dessen durchstöberte Jannion alle alten Lokalzeitungen, deren er habhaft werden konnte. Mehrere Stunden widmete er dieser Beschäftigung, die er schließlich von Erfolg gekrönt sah. In einem der größeren Grafschaftsblätter, dessen Datum vier Monate zurücklag, fiel ihm eine Anzeige auf, die er sich sofort herausnotierte. Sie lautete:

»Vermißt wird seit dem 11. November d. Jahres aus ihrem Wohnort Craysfoot bei Ashford eine junge Dame von ungefähr vierundzwanzig Jahren. Sie ist groß und schlank, hat dunkles Haar, eine helle Hautfarbe, braune Augen und feingezeichnete Augenbrauen. Sie war in Quäkertracht – Kleid, Mantel und Hut von grauer Farbe. Eine Belohnung von 10 Pfund ist für jede Mitteilung ausgesetzt, die zur Entdeckung ihres jetzigen Aufenthaltes führen kann. NB. Sollte diese Anzeige Ann Francis in die Hände fallen, so wird sie gebeten, ihrer treuen Freundin Ruth Annesley, Fairlawn, Craysfoot bei Ashford, unverzüglich Nachricht zu geben. Letztere wird gern obige Belohnung demjenigen zahlen, der ihr Ann Francis wieder zuführt.

Gleich am nächsten Morgen machte sich Jannion auf den Weg nach Craysfoot. In einem offenen Zweispänner fuhr er durch eine der schönsten Gegenden, die den »Garten von England« bilden. Meilenweit erfreute sich das Auge an herrlich blühenden Obstbäumen und frischgrünen Hopfenranken, die die Frühlingsluft mit würzigem Duft erfüllten.

Nach einer Fahrt von mehreren Stunden erreichte Jannion sein Ziel, das Dorf Craysfoot.

Fairlawn, der Wohnsitz der Frau Annesley, war ein stattliches Besitztum mit ausgedehnten Obst- und Gemüsegärten. Es machte den Eindruck eines friedlichen Hafens, in dem ein verlassenes und betrogenes Mädchen wohl einen sicheren Zufluchtsort finden und erduldetes Leid bald vergessen konnte.

Dieser Eindruck verstärkte sich noch beim Anblick der Herrin des Hauses, die in ihrem einfachen grauen Gewande, mit dem freundlichen Blick ihrer Augen und dem sanften, wohlwollenden Ausdruck ihres Gesichtes einem guten Engel glich, aus luftigen Höhen zur Erde herabgestiegen, um in mildem Erbarmen die Mühseligen und Beladenen zu trösten.

»Was kannst Du mir von Ann berichten?« fragte sie, nachdem Jannion sich ihr vorgestellt und ihr den Zweck seines Besuches erklärt hatte.

»Ich möchte ganz offen mit Ihnen reden,« entgegnete Jannion respektvoll. »Es liegt mehr in meiner Absicht, Erkundigungen über die Vermißte einzuziehen als Nachricht über sie zu geben. Ich habe ein besonderes Interesse daran, die junge Dame zu finden, und wenn wir uns gemeinsam bemühen, dürfte es uns wohl gelingen, ihren Aufenthalt zu entdecken.«

»Was willst Du wissen, Freund Jannion,« fragte Frau Annesley in ihrer Quäkerart, indem sie ihren Besucher scharf musterte. »Vielleicht kannst Du mir sagen, wo der schlechte Mann ist, der sie allein in einem fremden Land zurückließ ohne einen Freund, als sie nahe daran war, Mutter zu werden. Hat er Dich geschickt?«

»Nein, ich komme nicht von ihm,« erwiderte Jannion, »teile aber vollkommen Ihr Urteil über ihn.«

»So sage mir kurz, was Dich hergeführt hat,« seufzte Frau Annesley mit enttäuschter Miene. »Ich dachte schon, Du brächtest Nachricht von ihr.«

»Ehe ich Ihnen sagen kann, ob es mir möglich sein wird, sie zu finden, müssen Sie mir alles berichten, was Sie über die junge Dame wissen,« erklärte Jannion. »Sie dürfen nicht vergessen, daß wir ein gemeinsames Interesse für die gleiche Person haben. Ihretwegen bin ich nach Algier gereist, und nun komme ich zu Ihnen, in der Hoffnung, Auskunft über sie zu erlangen, damit es mir möglich wird, sie zu finden.«

»Ist das wirklich wahr?« entgegnete Frau Annesley, sichtlich neubelebt. »O, meine Geschichte ist bald erzählt. Ich brachte Ann Francis genau vor zwei Jahren von Algier hierher. Ich lebte dort einige Monate mit meinem kranken Manne, den die Ärzte dahingeschickt hatten, in der Hoffnung, damit sein Leben zu retten. Es sollte nicht sein. Er starb dort in meinen Armen. Seine Seele ist bei Gott.«

Die Erinnerung an den schweren Kummer, der sie getroffen, trieb ihr die Tränen in die Augen; doch sie faßte sich rasch und fuhr fort: »Du siehst, die Wunde, die mir der Herr geschlagen, wird nie heilen, bis die Zeit kommt, in der ich meinen einziggeliebten Gatten wiedersehen werde. Es war gerade damals in meinem bitteren Leid, daß ich von einer jungen Landsmännin hörte, die, von ihrem Manne verlassen, nach der Geburt eines Kindes zwischen Leben und Tod schwebte. Um meinen eigenen Kummer zu vergessen, nahm ich mich ihrer an, pflegte sie und brachte sie, sobald sie reisen konnte, mit ihrem Kinde hierher nach Fairlawn. Das Kind, von Anfang an ein zartes Wesen, wollte trotz aller Fürsorge nicht gedeihen; es starb bald nach unserer Ankunft in England. Ann blieb bis vorigen November bei mir. Ich glaubte, sie fühlte sich glücklich, denn obgleich sie sich sehr über den Verlust ihres Kindes grämte, kehrte doch allmählich ihre angeborene Heiterkeit wieder. Eines Morgens jedoch fand ich ihr Zimmer leer. Sie war fort, hatte mir aber einen Abschiedsgruß hinterlassen. Ich werde den Brief holen und ihn Dir vorlesen.«

Frau Annesley erhob sich, schloß eine Schublade ihres Schreibtisches auf und entnahm derselben eine kleine Briefkarte, deren Inhalt sie Jannion vorlas. Sie lautete:

 

»Ich weiß nicht, ob wir uns jemals wiedersehen werden. Sollte es nicht geschehen, so lassen Sie mich Ihnen aus tiefstem Herzen für all Ihre Güte und Freundlichkeit danken. Ich gehe meinen Gatten zu suchen, und sobald ich ihn gefunden habe, werden Sie wieder von mir hören. Kehre ich nicht zurück, so dürfen Sie annehmen, daß mir etwas, das ich nicht vorhersehen kann, zugestoßen ist. Allein – ob ich wiederkomme oder nicht – halten Sie mich nie für undankbar. Herzlichen Gruß von

Ann.«

 

Für sein Leben gern hätte Jannion diesen Brief, der für ihn von größter Bedeutung war, in Besitz genommen, aber er wagte nicht, sich ihn zu erbitten, las er doch in Frau Annesleys Gesicht, daß sie um keinen Preis dies letzte Andenken an die Entflohene aus den Händen geben würde.

»Haben Sie jemals ein Armband bei ihr bemerkt?« fragte er nach einer Pause. »Ein goldenes Armband mit ihren Initialen?«

»Ihre Frage beweist mir, daß Sie wirklich auf der Suche nach meiner verlorenen Ann sind,« entgegnete die Witwe mit bewegter Stimme. »Ja, sie besaß ein solches Armband, trug es aber nicht, weil wir Quäker unseren sterblichen Körper nicht mit Schmuck behängen. Das Armband war ein Abschiedsgeschenk ihres Gatten und zeigte die Initialen ihres Mädchennamens Annette Sarah Lester. Außer diesem besaß sie nur noch ein Andenken an den Treulosen – einen Dolch, eine lange, scharfe Waffe mit erhabener Gravierung, die ihr Mann unterwegs kaufte. Ein solch seltsames Geschenk einem jungen Mädchen zu geben! Eines Tages fand ich Ann in Tränen aufgelöst. Sie hatte den Dolch in der Hand und zerkratzte damit das Armband von innen und außen, ihren Zorn gegen den Mann, der sie betrogen, an seiner Liebesgabe auslassend.«

»Dachte sie denn, er habe sie betrogen?« warf Jannion ein.

»Im Anfang glaube ich nicht; aber allmählich mag die Wahrheit in ihr aufgedämmert sein, daß er sie durch eine Scheinehe, vor dem Gesetz ungültig, getäuscht hat. Daß sie vor Gott verheiratet waren, davon bin ich überzeugt. Er war Katholik, sie Protestantin, aber alle bei einer solchen Heirat nötigen Formalitäten unterblieben; die Trauung fand in irgend einem kleinen Ort statt. Armes, junges Ding! Sie wußte es nicht besser. Doch was gelten die Gesetze der Menschen in Gottes Augen? Ihre Seele ist frei von Schuld. Sie glaubte verheiratet zu sein und der über den Wolken denkt das gleiche.«

»Nahm sie den Dolch mit fort?« fragte Jannion gespannt.

»Ich habe weder den Dolch noch das Armband seit ihrem Verschwinden gesehen,« entgegnete Frau Annesley. »Nichts hat sie mitgenommen, nicht einmal Wäsche. Wie sie ging und stand ist sie fort, und deshalb dachte ich, sie würde nicht lange wegbleiben. Aber nun laß mich auch Deine Geschichte hören, Freund Jannion.«

»Fragen Sie mich nichts!« rief Jannion erregt. »Beten Sie lieber zu Gott, daß sie nie gefunden werden möge! Für Sie, Frau Annesley, für das arme Mädchen, für jede wäre es besser, sie läge im Grabe.«

»Weshalb suchst Du sie dann?« stammelte die Quäkerin, in jähem Erschrecken die Farbe wechselnd. »Ich will es wissen. Sage mir die Wahrheit. Alles kann ich ertragen, nur keine Ungewißheit.«

»Wir suchen beide dieselbe Frau,« antwortete Jannion in heiserem Ton. »Sie, um ihr ein Heim zu bieten; ich – um sie wegen Ermordung ihres Gatten den Gerichten auszuliefern.«

»Ermordung ihres Gatten?« wiederholte Frau Annesley bestürzt. »Das ist nicht möglich.« Die Worte kamen wie gebrochen über ihre Lippen; sie zitterte am ganzen Körper vor Erregung.

Jannion ließ ihr Zeit, sich zu fassen. Er besaß im Grunde ein weiches Gemüt und so tat es ihm leid, Frau Annesley durch seine Mitteilung einen solchen Schmerz verursacht zu haben.

»Lesen Sie keine Zeitungen?« fragte er nach einer Weile, um zu erfahren, ob sie etwas von dem Manningford-Prozeß und der Ermordung Trinkalls gehört hatte.

Die Quäkerin schüttelte den Kopf. »Ich lese sie nur sehr selten. Doch Du hast nicht ehrlich gegen mich gehandelt, Freund Jannion. Du sagtest, Du wolltest offen sein. Hätte ich Deine Absicht gekannt, nicht ein Wort von dem, was ich Dir erzählt habe, wäre über meine Lippen gekommen; nicht etwa, weil ich die Gesetze der Menschen mißachte – ich stimme ihnen bei, wenn sie gerecht und auf Gottes Gebote gegründet sind. Was ich aber von ihm, auf den sich alle guten Gesetze stützen, weiß, ist, daß er das Blutvergießen, selbst seiner geringsten und sündhaftesten Geschöpfe, verbietet. Menschengesetze sind hart und rachsüchtig. Wie die wilden Tiere fordern sie »Auge um Auge, Zahn um Zahn«. Willst Du mir eine Bitte gewähren, als Entschädigung für Deinen Mangel an Offenheit? Wenn es in Deiner Macht liegt, hilf mir, sie zu retten. Vielleicht steht ein anderer irrender Sterblicher unter dem Verdacht, ihr Verbrechen begangen zu haben. Deshalb soll sie ihre Schuld bekennen. Sie kann ein schriftliches und durch Zeugen beglaubigtes Geständnis ablegen, damit kein Unschuldiger für ihre Tat zu büßen hat, alsdann will ich sie weit fortbringen, wo die grausamen Gesetze der Menschen sie nicht erreichen können – und will ihre verirrte Seele wieder auf den rechten Weg zurückführen, von dem sie sich in so unseliger Weise entfernt hat. Willst Du mir helfen, Freund Jannion?«

Dieser fühlte sich tief ergriffen von den schlichten Worten, der rührenden Bitte der Frau, die selbst für eine Mörderin so warmes Mitgefühl bekundete.

»Wenn ich auch nicht völlig mit Ihnen übereinstimme,« erwiderte er auf ihre Frage, »so muß ich doch sagen, daß Ihre Worte Ihrem Herzen alle Ehre machen. Um Ihretwillen wünschte ich, mich nicht mit dieser Sache befaßt zu haben; da ich jedoch den Auftrag übernommen habe, muß ich ihn auch ausführen. Allein, das will ich Ihnen versprechen: läßt sich Ihr Wunsch erfüllen, so soll es geschehen. Und wenn man Ihnen nicht erlauben würde, das unglückliche Mädchen in ein Land zu bringen, wo es vor der Vergeltung des Gesetzes sicher ist und wo Sie es auf den Weg der Tugend zurückführen können, so wird es nicht Joe Jannions Schuld sein.«

»Du hast zu viele ›wenn‹ in Deinem Versprechen, Freund,« entgegnete Frau Annesley, »aber ich glaube, daß Du es gut meinst und daß ich Dir vertrauen kann. Es ist das einzige, was wir für sie tun können, um sie zu retten.«

»Ich will Ihnen lieber nichts Näheres über den Fall mitteilen,« bemerkte Jannion, »sonst –«

»Nein, nein,« wehrte Frau Annesley hastig ab, »erzähle mir nichts. Es ist an ihr gesündigt worden, und sie hat gefehlt; ihre Strafe wird hart genug sein. Das genügt mir und genügt, ihr in meinem Herzen einen Platz zu sichern.«

Auf der Rückfahrt nach Dover stand Joe Jannion noch lange unter dem Eindruck dieser ergreifenden Unterredung. Die Lösung des Geheimnisses, das die Ermordung Trinkalls umgeben, war ihm über Erwarten geglückt, aber zum ersten Male freute er sich nicht über seinen Erfolg.

»Annette Sarah Lester!« murmelte er vor sich hin. »Das muß Frau Pritchards Nichte sein.«


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