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Helen Mowbray saß in Gedanken vertieft mit einem offenen Brief in der Hand vor ihrem Schreibtisch, von dem aus sie durch das hohe Bogenfenster einen großen Teil des Parkes überschauen konnte. Träumerisch ruhte ihr Blick auf der noch winterlichen Landschaft. Die mächtigen Eichen, die schlanken Ulmen und die breitästigen Kastanienbäume, die in malerischen Gruppen die Einförmigkeit der Wiesenflächen unterbrachen, zeigten noch kein Grün; kahl und dürr streckten sie ihre Zweige in die frostige Februarluft empor. Jenseits des Parkes, ihn begrenzend, zog sich eine Anpflanzung von jungen Tannen und Fichten bis zum Fluß hinab, der in vielen Windungen an Manningford und Avonbridge vorüber der See zustrebte. Fruchtbares Weideland erstreckte sich dazwischen und am Horizont bekundete eine dichte Rauchwolke die Nähe der Fabrikstadt.
Helen Mowbrays Gedanken waren aber weit entfernt von der ihr so vertrauten Szenerie, die sie seit ihrer Kindheit Tagen vor Augen gehabt. Sehnend gedachte sie der glücklichen Vergangenheit, von der sie lange Jahre zu trennen schienen, obgleich nur wenige Wochen seit dem furchtbaren Ereignis verstrichen waren, das ihr Leben verdüstert hatte. Es erschien ihr unfaßbar, wie sie das Grauenvolle der letzten drei Monate hatte überstehen können und noch war es ihr nicht möglich, sich in ihre jetzige vereinsamte Lage zu finden. Der Bruder war ihr Abgott gewesen; selbst dann, als eine andere Liebe – die Liebe des Weibes zum Mann – sich in ihr Herz stahl, bewahrte sie ihm die gleiche Zuneigung.
Nun hatte ein unseliges Geschick sie zur Herrin auf Manningford House, zur reichsten Frau der Grafschaft gemacht, aber die Freude am Dasein, die übersprudelnde Lebenslust, wie sie sie früher empfunden, war vernichtet. Es galt nur noch, übernommene Pflichten zu erfüllen; das Leben selbst, aller Hoffnungen entkleidet, bot ihr keinen Reiz mehr und diese bisher ungekannte Öde wirkte zuweilen wie lähmend auf sie ein. Doch sie besaß auch wieder den ganzen Stolz ihres alten Geschlechtes. Sie wollte nicht vergessen, daß sie eine Mowbray war, von der Vorsehung auf einen verantwortlichen Posten gestellt, hing doch die Wohlfahrt vieler von ihrer weisen Leitung ab. Und dann die große, die heilige Aufgabe ihres Lebens, die Unschuld des schwärmerisch geliebten Bruders an den Tag zu bringen.
Dieser Gedanke allein genügte, sie ihrem schmerzlichen Grübeln zu entreißen, sie zu einer Tätigkeit anzuspornen, deren Endzweck es war, den Namen John Mowbrays von dem entehrenden Flecken, der auf ihm lastete, zu befreien.
Auch jetzt gedachte sie wieder dieser Aufgabe, während ihr Blick träumerisch in die Ferne schweifte. Erst nach einer langen Weile schien sie sich des Briefes zu erinnern, den sie noch immer in der Hand hielt. Sie las ihn noch einmal durch, obgleich sie den Inhalt bereits auswendig wußte. Dann ergriff sie die Feder und schrieb mit fieberhafter Hast die folgenden Zeilen auf einen schwarzumränderten Bogen:
»Ich habe Ihren Brief erhalten, und obgleich Sie den Wunsch aussprechen, unser Verlöbnis trotz der Schmach, die, wie Sie sagen, auf meinem Namen ruht, nicht aufzuheben, so kann ich ein solches Opfer nicht von Ihnen annehmen. Damit die Welt aber nicht ungerecht über Sie urteile, löse ich selbst die Verlobung auf und stelle es Ihnen frei zu erklären, der Bruch sei von mir, nicht von Ihnen herbeigeführt worden. Versuchen Sie nicht meinen Entschluß zu ändern: er ist unwiderruflich. Ich könnte nur dem mein Herz schenken, der meinen Glauben an die Unschuld meines Bruders teilte und bereit wäre, mich in der Aufgabe zu unterstützen, meinen Bruder vor der Welt zu rechtfertigen.
Helen Mowbray.«
Ohne das Geschriebene nochmals durchzulesen, schloß sie den Brief in ein Kuvert, das sie an Hauptmann Eric Stanlake, Gibraltar, adressierte.
Dann griff sie nach einer Handarbeit und setzte sich zu ihrer Tante an den Kamin.
»Hast Du dem Hauptmann geantwortet?« fragte Frau Nilson, die wiederholt einen beobachtenden Blick zu ihrer Nichte hinübergesandt hatte.
»Ja,« erwiderte Helen, verächtlich die Lippe kräuselnd, »ich habe ihm sein Wort zurückgegeben, wie er es wünschte.«
»Bist Du dessen so sicher?«
»O ganz sicher. Seine Anspielung auf unseren befleckten Namen und die kühle Form, in der er äußerte, er wünsche mit Genehmigung seiner Angehörigen unsere Verlobung fortbestehen zu lassen, zeigen mir deutlich seine wahre Gesinnung. Er wollte nur, daß der Bruch von mir ausginge, das ist alles. Ich bin seinem Wunsche natürlich entgegengekommen. Doch laß uns von anderen Dingen reden, Hauptmann Stanlake existiert nicht mehr für mich, – es lohnt sich also nicht, auch nur noch ein Wort über ihn zu verlieren.«
Frau Nilson bedauerte das schöne, jetzt von allen verlassene Mädchen, obgleich es dem kalten Egoismus seines Verlobten gegenüber eine so ruhige Haltung zur Schau trug; dennoch war für dieses Bedauern nicht so viel Grund vorhanden, wie sie glaubte. Helen hatte sich allerdings verletzt gefühlt – wen sollte es nicht kränken, sich in seinem Vertrauen getäuscht zu sehen? – allein Stanlakes Kälte und der Gedanke, daß er John Mowbray für schuldig hielt, ließen sie diese Kränkung rasch überwinden.
»Sprechen wir von anderen Dingen, Tante Rahel,« wiederholte sie. »Ich möchte vor Tisch noch nach der Hochlandsfarm hinüberfahren. Der Pächter Trent hat mir geschrieben, er wolle bleiben und ich werde wahrscheinlich einwilligen.«
»Ist das wohl klug gehandelt?« fragte Frau Nilson. »Du weißt, John weigerte sich, seinen Pachtvertrag zu erneuern. Trent hat den Hof schlecht bewirtschaftet und wird es auch so weiter treiben, wenn er sich nicht bessert.«
»O, ich kenne Trent genau,« entgegnete Helen. »Er ist geizig und von niedriger Gesinnung; das sieht man ihm an. Bessern wird er sich auch nicht, aber vielleicht kann es meinen Zwecken dienen, wenn er bleibt. Ich bin darüber noch nicht ganz einig mit mir.«
»Deinen Zwecken, wie meinst Du das?«
»Laß Dir's erklären. Ich habe immer eine gewisse Antipathie gegen diesen Trent gehabt und vorhin kam mir ein Gedanke, der, wenn er sich bewahrheitet, diese Antipathie noch steigern dürfte. Es fiel mir nämlich ein, ob Frank Trinkalls Mörder nicht mit der Anschlußbahn in Bloxton entkam.«
»Das wäre doch ein Umweg gewesen,« meinte Frau Nilson; »denn Bloxton liegt zwölf Meilen von Manningford entfernt.«
»Hältst Du es denn für unwahrscheinlich, daß ein Mörder zu seiner Sicherheit einen Umweg machen könnte?« lautete die logische Frage Helens. »Gerade weil in jener einsamen Gegend wenig Verkehr herrscht, ließ sich von dort aus leicht eine Flucht bewerkstelligen. Um halb zwei Uhr morgens geht ein Zug von Bloxton ab. Wurde Trinkall gleich nach zehn ermordet, so hatte der Täter reichlich Zeit, die Eisenbahn zu erreichen. Dies würde auch teilweise erklären, weshalb die Polizei keinen Fremden in der Nachbarschaft entdeckte.«
»Ich verstehe aber nicht, was das mit Pächter Trent zu tun hat,« warf Frau Nilson ein.
»Nun, sein Hof liegt doch auf dem Weg nach Bloxton. Begreifst Du's jetzt? Es wäre gar nicht so unwahrscheinlich, daß Trent den Täter gesehen, ihm vielleicht gar zur Flucht verholfen hat.«
Frau Nilson schüttelte ungläubig den Kopf. »Du willst doch nicht damit andeuten, Trent habe geschwiegen und dem unseligen Mißgriff der Justiz ruhig zugesehen?«
»Ja, das meine ich,« gab Helen ernst zurück.
»Dann müßte der Mensch ja geradezu ein Ungeheuer sein!« rief Frau Nilson ganz entsetzt aus. »Bedenke was Du sprichst. Welchen Grund sollte er übrigens für eine solche Schlechtigkeit gehabt haben?«
»Rache und Habgier,« lautete die kurze Antwort. »Vielleicht war es auch Furcht,« fügte das junge Mädchen nach einer Pause hinzu, »Trent ist ein ganz unwissender Mann. Vielleicht schwieg er aus Angst, sich selbst schwere Strafe wegen Beihilfe zur Flucht des Verbrechers zuzuziehen.«
»Und als Mitschuldiger behandelt zu werden,« ergänzte Frau Nilson.
»Wer kann wissen, was er alles befürchtete. Natürlich erfuhr er auch später von dem geschehenen Mord, allein er mochte denken, wenn er der Polizei gestand, was er getan, würde sie ihm nicht glauben, daß er nicht um das Verbrechen gewußt habe. Jedenfalls aber waren Rache und Habgier seine hauptsächlichsten Beweggründe.«
»Das wäre doch zu gemein!« rief Frau Nilson empört aus, brachte doch der Gedanke, daß John Mowbray skrupellos den niedrigen Leidenschaften eines seiner Untergebenen geopfert sein könnte, ihr ganzes Blut in Wallung.
»Dennoch vermute ich es,« beharrte Helen. »Erinnerst Du Dich, daß er zum April den Hof verlassen sollte und daß John durchaus nicht gesonnen war, diese Bestimmung zurückzunehmen? Trent wußte, daß er die Farm nicht behalten würde, wenn John der Herr hier blieb. War dieser aus dem Wege geräumt, so hatte er nur mit einer Frau zu verhandeln, mit der er leicht fertig zu werden glaubte. Der Grund seines Schweigens ist demnach klar genug. Er brauchte nur den Mund zu halten, nur ruhig zuzugeben, daß der Verdacht auf seinen Gutsherrn fiel, um nach beiden Seiten hin Vorteil zu haben – sich an John für die Kündigung zu rächen und die Möglichkeit zu gewinnen, von einem schwachen Weibe für ihn günstigere Bedingungen zu erlangen.«
»O Helen, wie mag man einem Menschen so viel Schlechtes zutrauen?«
Das junge Mädchen zuckte die Achseln. »Ich kann mir nicht helfen, Tante Rahel, allein ich glaube bestimmt, Trent könnte das Geheimnis einigermaßen aufklären, wenn er wollte.«
»Nun, dann warte wenigstens Herrn Chancellors Rückkehr ab,« riet Frau Nilson, »und höre erst seine Meinung, bevor Du irgend welche Schritte unternimmst, um Dich von der Richtigkeit Deines Verdachtes zu überzeugen.«
»Das könnte ich allerdings tun,« nickte Helen zustimmend.
»Du brauchst ja nicht lange zu warten,« bemerke Frau Nilson, erfreut über die Nachgiebigkeit ihrer Nichte. »Herr Chancellor kommt nächste Woche zurück.«
»Gut, warten wir also!« entschied Helen. »Ich werde auch Trent sagen lassen, die Sache müsse ruhen, bis ich mit Herrn Chancellor Rücksprache genommen hätte. Das wird wohl das Beste sein.«