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35. Der Ahorn auf der Altenburg.

. Zu der Zeit, als die Ruinen der Altenburg noch vorhanden waren, kam ein junger Bauer dahin, um einen ausserordentlich starken Ahorn zu fällen, der zwischen dem Gemäuer stand. Mit kräftiger Hand führte er die Axt, aber kein Hieb wollte fassen und spurlos glitt die Schärfe des Eisens an der glatten Rinde ab. Da trat eine schwarzgekleidete Jungfrau zu ihm aus dem Gemäuer hervor und fragte, was er mit dem Holze beginnen wolle.

»Ei«, antwortete der Landmann, »Tisch und Stühle hätte ich mir gern daraus verfertigt, denn auf Sankt-Martinstag werde ich heirathen.«

»Dieser Ahorn widersteht jedem Eisen, so lange meine Hand ihn nicht berührt«, sagte die Jungfrau. »Doch will ich dein Werk fördern, wenn du mir versprichst, von den Brettern derselben eine Wiege zu machen und dein erstgebornes Kind hineinzulegen.«

Der Bauersmann gelobte, ihre Bitte zu erfüllen. Sie berührte jetzt den Stamm und nach wenigen Streichen fiel er zu Boden, aber in demselben Augenblick war auch die Erscheinung verschwunden.

Der Bauersmann that nach seinem Versprechen, und als ihm nach einem Jahre ein Knäblein geboren wurde, legte er es in die Wiege aus den Brettern des Ahorns.

Seine Frau sass einst bei der Wiege und schaukelte den Knaben, da trat die Jungfrau zu ihr herein, mit einem dürren Zweiglein in der Hand. Sie betrachtete eine Weile das Kind und faltete dann die Hände, wie zum Gebet. Hierauf reichte sie der Frau das Zweiglein mit den Worten: »Bewahret wohl, was ich Euch hier gebe. Sobald Euer Sohn sein sechzehntes Jahr erreicht, soll er den Zweig in reines, frisches Wasser stellen, und wann er dann Blätter und Blüthen treibt, hinausgehen in die Altenburg und damit den runden Thurm gegen Morgen berühren, dessen Eingang verschüttet ist. Es wird zu seinem Glück sein und zu meiner Erlösung.«

Die Frau war fromm, und es freute sie, dass ihr Kind bestimmt sein sollte, einen irrenden Geist zur Ruhe zu bringen. Der Knabe wuchs heran in Zucht und Ehrbarkeit, und als er das sechzehnte Jahr erreicht hatte, ging er hinaus in die Ruinen und berührte den Thurm mit dem blühenden Zweig. Da öffnete sich alsbald der verschüttete Eingang, und die Jungfrau stand vor ihm. »Wohl dir und mir, dass diese Stunde erschienen«, sagte sie. »Ich war jung, die Erbin meines Geschlechts und einem jungen Manne verlobt, an dem ich mit abgöttischer Liebe hing. Er wurde mir untreu, und gab seine Hand einer Andern. Aber bald fand er den Tod im Kriege, seine Burg wurde zerstört, und sein Weib floh mit ihrem Säugling auf dem Arm. Erschöpft suchte sie Ruhe im Schatten eines Ahorns, der an der Mauer der Altenburg stand. Ich liess sie durch meine Knechte hinwegtreiben, aber ihre Kräfte verliessen sie, ihre Sinne verwirrten sich, sie sprach einen schrecklichen Fluch aus über mich und meinen Wohnsitz, und stürzte sich mit dem Kinde ins Wasser. Der Fluch der Sterbenden ging in Erfüllung. Eine Krankheit zerriss schnell den Faden meines Lebens, und meine Burg wurde ein Raub der Flammen; mein Geist aber sollte ruhelos umherirren, bis aus den Trümmern der Altenburg ein Ahorn aufwachsen und zwischen seinen Brettern ein Kind schlummern würde, welches mich zu erlösen bestimmt ist. Die Gebeine der unglücklichen Mutter und ihres Knäbleins liegen dort am Hügel, wo ein bemooster Stein die Stätte bezeichnet. Grabe sie aus und setze sie bei in geweihter Erde, und der Segen des Himmels wird in deinem Hause blühen.«

Der Jüngling that, wie die Jungfrau ihn geheissen, und Glück und Ehre krönten seine Tage.

* * *


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